Schmerzensgeld bei psychischer Anfälligkeit des Verletzten

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

30. 04. 1996


Aktenzeichen

VI ZR 55/95 (Schleswig)


Leitsatz des Gerichts

  1. Der Schädiger hat für seelisch bedingte Folgeschäden einer Verletzungshandlung, auch wenn sie auf einer psychischen Anfälligkeit des Verletzten oder sonstwie auf einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen, haftungsrechtlich grundsätzlich einzustehen.

    Eine Zurechnung kommt nur dann nicht in Betracht, wenn das Schadensereignis ganz geringfügig ist (Bagatelle) und nicht gerade speziell auf die Schadensanlage des Verletzten trifft.

  2. Bei der Festsetzung des für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes sind dem Richter im Rahmen des § 308 ZPO durch die Angabe eines Mindestbetrages oder einer Größenordnung nach oben keine Grenzen gezogen.

Tatbestand

Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall am 25. 8. 1983 geltend, für dessen Folgen die Bekl. als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners einzustehen hat. Bei dem Zusammenstoß mit dem Pkw des Versicherungsnehmers der Bekl., welcher aus der Gegenrichtung kommend vor ihm nach links abbog, erlitt der damals 46jährige, als technischer Fernmeldeamtmann bei der Bundespost tätige Kl. folgende Verletzungen: Hals- und Brustwirbelsäulenprellungen mit einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule, eine Brustkorbquetschung und Stoßverletzung des Brustbeins, eine Schädelprellung links, ein stumpfes Bauchtrauma mit Buckelung des Zwerchfells rechts, Knieprellungen und eine Distorsion des rechten Handgelenks. Der Kl., der sich schon in den Jahren 1965 bis 1982 bei 8 Unfällen Verletzungen zugezogen hatte, war seit dem Unfalltag nahezu durchgehend krankgeschrieben. Mehrere stationäre Aufenthalte in verschiedenen Kliniken brachten keine spürbare Besserung seines Zustands. Er litt insbesondere unter Schmerzen im Brust-, Bauch- und Rückenbereich. Vom Betriebsarzt der Bundespost wurde der Kl. schließlich dienstunfähig geschrieben und daraufhin mit Wirkung vom 1. 11. 1985 in den Ruhestand versetzt.

Mit der Behauptung, er leide noch unter den Folgen des Unfalls und seine Pensionierung sei auch auf dieses Ereignis zurückzuführen, hat er u.a. Ersatz von Verdienstausfall und ein Schmerzensgeld, das er in Höhe von mindestens 25000 DM (abzüglich vorprozessual gezahlter 12500 DM) für angemessen erachtet, sowie Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz allen weiteren Schadens begehrt.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat ein Schmerzensgeld von 37500 DM (50000 DM abzüglich bereits gezahlter 12500 DM) und den geltend gemachten materiellen Schadensersatzes sowie Verdienstausfall teilweise zugesprochen und dem Feststellungsantrag stattgeben. Die Revision der Bekl. wurde zurückgewiesen.

Entscheidungsgründe

Auszüge aus den Gründen:

I. Das BerGer. ist - sachverständig beraten - zu dem Ergebnis gelangt, daß die Verletzungen des Kl. ohne objektiv faßbare Folgen ausgeheilt seien.

Aufgrund psychischer Fehlverarbeitung des Unfalls habe sich bei dem Kläger eine zunehmende Schmerzreaktion im gesamten Bereich der Wirbelsäulenpartie, im Nacken, Kopf, Armen, Beinen, bis zu den Unterschenkeln und im Oberbauch und vorderen Thoraxbereich entwickelt; sie ergebe das Vollbild einer chronifizierten psychosomatischen Schmerzkrankheit, überwiegend psychovegetativer Genese. Ursächlich für diese nichtorganischen psychosomatischen und funktionellen Beschwerden, zu denen es ohne den Unfall mit seinen eher leichteren akuten Verletzungen nicht gekommen wäre, hält das BerGer. die prämorbide Persönlichkeit des Kl. Weitere Bedingungen für die psychische Fehlverarbeitung seien aber auch andere Umstände, wie die Mißerfolge und Kränkungen infolge von Vorgutachten und der bisherigen Niederlagen im Rechtskampf, sowie die Entfremdung zwischen den Eheleuten. Nach Auffassung des BerGer. hätte zwar jedes subjektiv bedeutsame seelische oder körperliche Trauma ähnlich vermittelnd wirken und "das Faß zum Überlaufen bringen" können, wie der Verkehrsunfall mit seinen Folgen, so etwa eine akute Manifestation des Ehekonflikts, der seine Ursache freilich teilweise wiederum in dem Unfall habe, sowie der Tod der Mutter; eine sichere Aussage lasse sich jedoch nicht treffen. Es könne daher auch nicht festgestellt werden, daß sich bei dem Kläger lediglich das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht habe.

II. ... 2. Mit Recht hat das BerGer. die Haftung der Bekl. für die psychosomatischen Beschwerden des Kl., die sich in einer chronischen Schmerzkrankheit manifestieren, bejaht. Die dagegen vorgebrachten Einwände der Revision greifen nicht durch.

a) Hat jemand schuldhaft die Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung eines anderen verursacht, für die er haftungsrechtlich einzustehen hat, so erstreckt sich die Haftung grundsätzlich auch auf die daraus resultierenden Folgeschäden. Das gilt gleichviel, ob es sich dabei um organisch oder psychisch bedingte Folgewirkungen handelt. Der Senat hat wiederholt ausgesprochen, daß die Schadensersatzpflicht für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung nicht voraussetzt, daß sie eine organische Ursache haben; es genügt vielmehr die hinreichende Gewißheit, daß die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht aufgetreten wären (Senat, VersR 1991, 777 (778); 1991, 704 (705); 1993, 589 (590) = NZV 1993, 224). Nicht erforderlich ist, daß die aus der Verletzungshandlung resultierenden (haftungsausfüllenden) Folgeschäden für den Schädiger vorhersehbar waren (BGHZ 59, 30 (39); Senat, VersR 1993, 230 (231) m.w.Nachw.).

Handelt es sich bei den psychisch vermittelten Beeinträchtigungen hingegen nicht um schadensausfüllende Folgewirkungen einer Verletzung, sondern treten sie haftungsbegründend erst durch die psychische Reaktion auf ein Unfallgeschehen ein, wie dies in den sogenannten Schockschadensfällen regelmäßig und bei Aktual- oder Unfallneurosen häufig der Fall ist, so kommt eine Haftung nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen selbst Krankheitswert besitzen, also eine Gesundheitsbeschädigung i.S. des § 823 I BGB darstellen (vgl. BGHZ 56, 163; 93, 351 (355); Senat, VersR 1986, 240; OLG Frankfurt/M., OLGR 1994, 242 (Revision vom Senat nicht angenommen)), und für den Schädiger vorhersehbar waren (Senat, VersR 1976, 639f).

Im Streitfall geht es um (haftungsausfüllende) Folgewirkungen von Unfallverletzungen. Der Kl. hat bei dem Unfall körperliche Verletzungen erlitten, die aufgrund psychischer Fehlverarbeitung zu psychosomatischen Beschwerden geführt haben. Diese bestehen nach den Feststellungen des BerGer. in einer organisch nicht faßbaren, psychogenen Schmerzkrankheit, die sich in zunehmenden Schmerzreaktionen von Kopf bis Fuß, nämlich im Kopf, im gesamten Bereich der Wirbelsäule und in den Extremitäten äußert und zu der es ohne den Unfall nicht gekommen wäre. Ohne Erfolg rügt die Revision, daß das BerGer. zum Ausmaß dieser Schmerzzustände keine näheren Feststellungen getroffen hat. Für die Haftung der Bekl. reicht es aus, daß sie als Beschwerden vorhanden sind, die als Hauptursache unstreitig zur Dienstunfähigkeit des Kl. und deshalb zu seiner vorzeitigen Pensionierung geführt haben.

b) Die Zurechnung solcher Schäden scheitert nicht daran, daß sie auf einer konstitutiven Schwäche des Verletzten beruhen. Der Schädiger kann sich nach ständiger Rechtsprechung nicht darauf berufen, daß der Schaden nur deshalb eingetreten oder ein besonderes Ausmaß erlangt hat weil der Verletzte infolge von körperlichen Anomalien oder Dispositionen zur Krankheit besonders anfällig gewesen sei. Wer einen gesundheitlich schon geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als wenn der Betroffene gesund gewesen wäre (BGHZ 20, 137 (139); 107, 359 (363); Senat, VersR 1960, 1092 (1093); 1986, 812 (813)). So ist die volle Haftung auch in Fällen bejaht worden, in denen der Schaden auf einem Zusammenwirken körperlicher Vorschäden und der Unfallverletzungen beruhte (Senat, VersR 1962, 351; 1966, 737; 1969, 43; 1993, 55 - Aneurysma).

Der Grundsatz, daß eine besondere Schadensanfälligkeit des Verletzten dem Schädiger haftungsrechtlich zuzurechnen ist, gilt grundsätzlich auch für psychische Schäden, die regelmäßig aus einer besonderen seelischen Labilität des Betroffenen erwachsen (BGHZ 20, 137 (139); 56, 163 (165); Senat, VersR 1993, 589 (590) = NZV 1993, 224; RG, DJZ 1915, 207). Dementsprechend ist die Haftung bejaht worden bei unfallbedingter Wesensveränderung (Senat, VersR 1960, 225), bei Depressionen (Senat, VersR 1966, 931; 1994, 695 (696)), Aktual- oder Unfallneurosen (BGH, VersR 1968, 396; Senat, VersR 1986, 240 (241)) sowie bei Konversionsneurosen (Senat, VersR 1986, 240 (241); 1993, 589 (590); OLG Frankfurt/M., VersR 1993, 853).

c) Hieraus ergibt sich, daß der Schädiger für seelisch bedingte Folgeschäden, auch wenn sie auf einer psychischen Prädisposition oder sonstwie auf einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen, haftungsrechtlich grundsätzlich einzustehen hat. Freilich sind einer solchen Haftung auch Grenzen gesetzt.

aa) So hat die Rechtsprechung eine Haftung für Renten- oder Begehrensneurosen abgelehnt, in denen der Geschädigte den Unfall in dem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlaß nimmt, den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen (BGHZ 20, 137; Senat, VersR 1960, 740; 1961, 597; 1965, 1080; 1979, 718).

bb) Ebenso wie im Bereich körperlicher Schäden sich Grenzen der Zurechenbarkeit in Extremfällen ergeben können, kann eine Haftungsbegrenzung in Fällen extremer Schadensdisposition auch bei psychisch bedingten Schäden eintreten. Das ist freilich nur dann der Fall, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig ist (Bagatelle) und nicht gerade speziell die Schadensanlage des Verletzten trifft und deshalb die psychische Reaktion im konkreten Fall, weil in einem groben Mißverhältnis zu dem Anlaß stehend, (schlechterdings) nicht mehr verständlich ist. Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch für die Konversionsneurose (VersR 1986, 240 (242); VersR 1993, 589 (590) = NZV 1993, 224).

d) Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das BerGer. in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, daß die psychosomatischen Beschwerden, an denen der Kl. leidet, der Bekl. haftungsrechtlich zuzurechnen sind.

aa) Entgegen der Auffassung der Revision hat das BerGer. den Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfall und den jetzigen Beschwerden des Kl. verfahrensfehlerfrei bejaht. Nach den Ausführungen des Sachverständigen, denen sich das BerGer. angeschlossen hat, hatte der Unfall zwar nur eine "vermittelnde, nicht kausale und nicht richtunggebende Rolle gespielt". Er hat jedoch, wie das BerGer. weiter feststellt, klargestellt, daß es ohne den Unfall mit seinen akuten Verletzungen nicht zu dessen psychischer Fehlverarbeitung hätte kommen können. Damit bildete der Unfall einen Auslöser für die psychische Fehlreaktion und die darauf zurückführende Dienstunfähigkeit des Kl. Dies genügt, um ihn als Ursache im haftungsrechtlichen Sinne anzusehen, mögen daneben auch andere Ursachen gegeben sein.

Die Haftung könnte, aus Gründen der Kausalität nur entfallen oder zeitlich begrenzt sein, wenn der durch den Unfall ausgelöste Schaden auf Grund der Vorschäden auch ohne den Unfall früher oder später eingetreten wäre. Diese Voraussetzungen hat das BerGer. jedoch nicht feststellen können. Nach seinen Darlegungen hätte zwar jedes subjektiv bedeutsame seelische oder körperliche Trauma ähnlich vermittelnd wirken und ebenfalls "das Faß zum Überlaufen bringen" können. Als eine solche Ersatzursache hat das BerGer. eine akute Manifestation des Ehekonflikts in Betracht gezogen. Doch hat es nicht feststellen können, daß es zu der Entfremdung zwischen den Eheleuten auch ohne den Unfall gekommen wäre. Ebensowenig hat es feststellen können, daß etwa der Tod der Mutter eine ähnliche Folge gehabt hätte wie der Unfall. Soweit der erstinstanzliche Sachverständige H als Neurologe eine unfallabhängige Neurose verneint und die Beschwerden des Kl. auf eine hypochondrische Persönlichkeitsentwicklung zurückgeführt hatte, brauchte sich das BerGer. damit nicht auseinanderzusetzen. Es durfte vielmehr dem Psychiater K, den es zweitinstanzlich zur Beurteilung der psychosomatischen Zusammenhänge eingeschaltet hatte, die größere Sachkunde beimessen und sich seiner Auffassung anschließen.

bb) Mit Recht hat das BerGer. der Bekl. auch die psychische Fehlverarbeitung des Kl., die sich in chronifizierten Schmerzzuständen äußert, haftungsrechtlich zugerechnet. Wie bereits ausgeführt, hat der Schädiger für unfallbedingte seelische Fehlverarbeitung grundsätzlich einzustehen. Umstände, die eine Zurechnung ausnahmsweise entfallen lassen könnten, sind im Streitfall nicht ersichtlich und werden von der Revision auch nicht aufgezeigt.

(1) Das Vorhandensein einer Renten- oder Begehrensneurose hat das BerGer. nicht festzustellen vermocht. Der Kl. hat sich, wie das BerGer. ausführt, nicht etwa in die Krankheit geflüchtet, um dem Lebenskampf auszuweichen, sondern eher umgekehrt hatten die zweifelsohne vorhandenen Beschwerden einen mobilisierenden Charakter im Kampf um sein Recht, bis sich seine Lebensressourcen in diesem Rechtskampf erschöpft hatten. Einen revisionsrechtlich beachtlichen Fehler vermag die Revision insoweit nicht darzutun.

(2) Nach den Ausführungen des BerGer. liegt die Ursache für die psychosomatischen Beschwerden vor allem in der prämorbiden Persönlichkeit des Kl., wie sie sich bis zu dem Unfall entwickelt habe. Der Kl. habe schon zahlreiche andere Unfälle mit ähnlichen Verletzungen erlitten; die Folgen dieser Verletzungen habe er aber aufgrund seiner kämpferischen Natur überwunden; doch sei seine Widerstandskraft dadurch nahezu erschöpft gewesen; insoweit habe der Unfall als "letzter Tropfen" genügt, um bei dem vorgeschädigten Kl. "das Faß zum Überlaufen zu bringen".

Die Tatsache, daß der Kl. durch frühere Unfälle in seiner seelischen Widerstandskraft soweit vorgeschädigt war, daß nur noch ein geringfügiger Anlaß genügte, um psychische Fehlreaktionen auszulösen, kann die Bekl. nicht entlasten (vgl. Senat, VersR 1986, 812 (813)). Wie bereits ausgeführt, erstreckt sich die Haftung nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen auch auf solche Folgewirkungen einer Verletzungshandlung, die auf einer besonderen konstitutionellen Schwäche des Betroffenen beruhen. Es spielt daher auch bei psychischen Fehlreaktionen, wie sie namentlich bei Konversionsneurosen und ähnlichen neurotischen Reaktionen mit psychosomatischen Folgeerscheinungen wie hier vorkommen, keine Rolle, daß der eigentliche Grund für die Beschwerden in der Persönlichkeit des Verletzten liegt und vom Schädiger nicht zu vertreten ist. Mag auch der Unfall in solchen Fällen nur der Auslöser für seelische Fehlreaktionen sein, so stellt das Unfallereignis doch eine Mitursache für die psychosomatischen Folgewirkungen dar, die wie jede andere Ursache zur vollen Haftung nach § 823 BGB führt (vgl. BGHZ 56, 163 (165); Senat, VersR 1962, 351; 1966, 737; 1969, 43; 1993, 55).

Im Streitfall war das Unfallereignis nicht geringfügig, weshalb sich die oben erörterte Frage des Ausschlusses der Zurechenbarkeit bei Bagatellfällen hier nicht stellt. Der Kl. hat bei dem Zusammenstoß, der zum Totalschaden an seinem Fahrzeug führte, neben einer Gehirnerschütterung immerhin ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule sowie Quetschungen und Prellungen anderer Körperteile erlitten.

Seelische Fehlreaktionen, die durch eine psychische Prädisposition des Verletzten mitbedingt sind, wirken sich lediglich bei der Bemessung des Schmerzensgeldes, die nach billigem Ermessen erfolgt, anspruchsmindernd aus (Senat, VersR 1970, 281 (284); VersR 1991, 704 (705)), was das BerGer. im Streitfall auch bedacht hat ...

4. Unbegründet ist die Revision auch, soweit das BerGer. dem Kl., der ein Schmerzensgeld von mindestens 25000 DM beantragt hatte, ein solches von 50000 DM (abzüglich bereits gezahlter Beträge) zuerkannt hat. In der Überschreitung der Mindestsumme um das Doppelte liegt kein Verstoß gegen § 308 I ZPO, wonach das Gericht nicht über den Antrag der Partei hinausgehen darf.

a) Bei Ansprüchen, die wie das Schmerzensgeld auf eine angemessene und billige Entschädigung für erlittene Beeinträchtigungen gerichtet sind, ist die Anbringung unbezifferter Anträge, durch die die Bemessung der begehrten Leistung in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, grundsätzlich zulässig (st. Rspr. seitRGZ 21, 386; vgl. auch BGHZ 45, 91 m.w.Nachw.). Allerdings muß der Kl. nach der neueren Rechtsprechung des BGH, um dem Bestimmtheitsgebot des § 253 II Nr. 2 ZPO zu genügen, auch bei unbezifferten Leistungsanträgen nicht nur die tatsächlichen Grundlagen, sondern auch die Größenordnung des geltend gemachten Betrages so genau wie möglich angeben (Senat, VersR 1974, 1182 (1183); 1977, 861; 1982, 96; 1983, 151; 1984, 739, 740; 1992, 374 = NZV 1992, 73; BGH, VersR 1975, 856 (857)).

b) Die Frage, inwieweit das Gericht an die Angabe einer Größenordnung gebunden und inwieweit die Überschreitung dieses Betrages mit § 308 I ZPO vereinbar ist, hat der Senat bisher offengelassen (VersR 1979, 472). Sie ist nunmehr dahin zu entscheiden, daß die Angabe eines Mindestbetrages oder einer Größenvorstellung dem Ermessen des Gerichts bei Festsetzung des für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes im Hinblick auf § 308 ZPO keine Grenzen zieht und deshalb auch die Zuerkennung eines den Mindestbetrag (oder die Größenvorstellung) um das Doppelte übersteigenden Betrags von dem Antrag des Kl. gedeckt ist.

Der Kl. hat im vorliegenden Fall ein Schmerzensgeld von mindestens 25000 DM gefordert. Darin liegt die Angabe eines Mindestbetrages in der Weise, daß der Kl. das Ermessen des Gerichts jedenfalls nach unten durch diesen Betrag begrenzen wollte. Er ist demgemäß bei Unterschreitung dieses Betrages beschwert und kann die Entscheidung mit einem Rechtsmittel anfechten (Senat, VersR 1992, 374 (375) = NZV 1992, 73; BGH, NZV 1996, 194). Nach oben ist das Ermessen des Gerichts hingegen nur dann begrenzt, wenn der Kl. eine Obergrenze angibt und damit erkennen läßt, daß er die Ausübung des Ermessens nur bis zur Höhe des genannten Betrages begehre (Senat, VersR 1992, 237 (238) m.w.Nachw.; vgl. auch OLG München NJW 1986, 3089). Hat er dagegen wie hier keine Obergrenze angegeben, ist das Gericht in seinem Ermessen nach oben frei und an der Zuerkennung eines die Mindestsumme auch erheblich übersteigenden Betrages nicht gehindert.

Aus § 308 ZPO läßt sich die Bindung an einen bestimmten Betrag oder die Aufrichtung einer bestimmten - etwa prozentual einzugrenzenden - Schwankungsbreite, die nicht überschritten werden dürfte, nicht herleiten, denn ein Kl., der wie hier ein angemessenes Schmerzensgeld verlangt, gibt mit einem solchen Antrag gerade zu erkennen, daß er die Festsetzung der Höhe im Einklang mit § 847 BGB dem Ermessen des Gerichts überlassen will. Eben zu diesem Zweck erlaubt ihm das Gesetz die Anbringung eines unbezifferten Antrages.

Wenn die Rechtsprechung von dem Kl. gleichwohl die Mitteilung einer Größenordnung verlangt, so zunächst deshalb, weil die Auffassung der Partei für das Gericht eine wesentliche Hilfe bei der Ermittlung des angemessenen Betrages darstellen kann (Senat, Warn 1964, 545). Vor allem aber soll der Kl. durch die Angabe seiner Größenvorstellung deutlich machen, mit welchem Schmerzensgeldbetrag das Gericht jedenfalls sein Klagebegehren hinreichend befriedigen würde; daher kann der Kl. nachträglich keine Beschwer geltendmachen, wenn ein Betrag zugesprochen worden ist, der die von ihm bezeichnete Größenordnung nicht unterschreitet.

Der angegebenen Größenvorstellung kommt ferner für die Festsetzung des Streitwertes Bedeutung zu. Da das Begehren des Kl. nicht unterschritten werden kann, ohne daß er beschwert wäre, erreicht der Streitwert jedenfalls die angegebene Höhe. Nach oben ist das Gericht hingegen streitwertmäßig nicht an die Angaben des Kl. gebunden, da sich der Streitwert am angemessenen Schmerzensgeld auszurichten hat. Gegebenenfalls hat das Gericht - auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen - nach Anhörung von Kl. und Bekl. den Streitwert im Hinblick auf einen ihm angemessenen und billig erscheinenden Betrag höher festzusetzen, als dies der angegebenen Größenvorstellung des Kl. entspricht.

Das Bedürfnis nach Rechtsklarheit erfordert eine Bindung des Gerichts an die vom Kl. angegebene Größenordnung nicht. Da der Bekl. seinerseits durch Antrag auf Streitwertfestsetzung jederzeit die dem Gericht als angemessen erscheinende Bewertung des Schmerzensgeldes in Erfahrung bringen kann, ist seinem Interesse, im Rechtsstreit Klarheit darüber zu haben, welchen Verurteilungsrisiken er ausgesetzt ist, im erforderlichen Umfang genüge getan; an der Streitwertfestsetzung des Gerichts kann er seine prozessualen Dispositionen (Verteidigung gegen die Klage oder - ggfs. teilweises - Anerkenntnis) ausrichten.

Da weder das Gebot einer prozessualen Rechtssicherheit noch andere durchgreifende Gründe eine Bindung des Richters an die vom Kl. genannte Mindestsumme oder Größenordnung im Rahmen des § 308 ZPO erfordern, kommt auch eine Eingrenzung auf einen prozentual bestimmten Rahmen (etwa 20 % nach oben und unten), wie sie zum Teil vorgeschlagen wird (vgl. Dunz, NJW 1984, 1734 (1736f); Wurm, JA 1989, 65 (69); Steinle, VersR 1992, 425; Butzer, MDR 1992, 539 (541)), nicht in Betracht.

Das BerGer. war daher durch den auf Zahlung von mindestens 25000 DM gerichteten Antrag nicht gehindert, dem Kl. den doppelten Betrag von 50000 DM (abzüglich geleisteter 12500 DM) zuzusprechen. Im übrigen lassen die Ausführungen des BerGer. zur Höhe des Schmerzensgeldes keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Bekl. erkennen.

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht