Auffahrunfall durch starkes Bremsen ohne zwingenden Grund

Gericht

KG


Datum

26. 04. 1993


Aktenzeichen

12 U 2137/92


Leitsatz des Gerichts

  1. Zur Haftungsverteilung bei einem Auffahrunfall, wenn der Vorausfahrende ohne zwingenden Grund stark abgebremst hat.

  2. Die beabsichtigte Aufnahme eines Fahrgastes in ein Taxi ist kein "zwingender Grund" i.S. von § 4 I 2 StVO.

  3. Zum Begriff des "starken" Abbremsens im Sinne dieser Vorschrift.

  4. Das bloße Alter eines Fahrzeuges rechtfertigt nicht eine Reduzierung der Nutzungsausfallentschädigung.

Tatbestand

Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. ist Eigentümerin des am 25. 6. 1976 erstmals zugelassenen Daimler-Benz 450 SE. Der Bekl. zu 1) war Fahrer einer Taxe, die bei der Bekl. zu 2) haftpflichtversichert war.

Am 7. 7. 1990 gegen 1.30 Uhr befuhr der Fahrer N mit dem Fahrzeug der Kl. den K.-Damm in nordöstlicher Richtung, wobei er zunächst den äußersten linken der drei vorhandenen Fahrstreifen benutzte. Der mittlere Fahrstreifen ist als Sonderfahrspur für Busse und Taxen ausgewiesen. Kurz vor der Kreuzung mit dem Straßenzug J.-Straße/K.-Straße wich N wegen eines vor ihm plötzlich bremsenden Fahrzeuges auf die Busspur aus. Nach Überqueren der Kreuzung fuhr er innerhalb der Busspur auf die von dem Bekl. zu 1) geführte Taxe auf. Dieser hatte an der Ecke einen vermeintlichen Fahrgast winken sehen und angehalten, um diesen aufzunehmen.

Das LG hat die auf Ersatz des der Kl. entstandenen Schadens in Höhe von 9328,82 DM (Reparaturkosten: 7516,82 DM, Nutzungsausfall für 14 Tage à 128 DM = 1792 DM, Nebenkostenpauschale von 20 DM) gerichtete Klage in vollem Umfang abgewiesen. Auf die Berufung der Kl. wurden die Bekl. zur Zahlung von 1860,32 DM verurteilt.

Entscheidungsgründe

Auszüge aus den Gründen:

1. Die Kl. kann von dem Bekl. gem. § 18 I StVG, § 823 BGB, § 3 Nrn. 1 und 2 PflVG den Ersatz des ihr durch den Verkehrsunfall entstandenen Schadens zu einer Quote von 1/4 verlangen.

Allerdings kann dem Bekl. zu 1) nicht vorgeworfen werden, daß er den Auffahrunfall durch einen vorangegangenen unzulässigen Fahrstreifenwechsel (§ 7 V StVO) verursacht und verschuldet hat. Dies macht die Kl. mit ihrem eingeschränkten Rechtsmittel nicht mehr geltend ...

Damit richtet sich die Haftungsverteilung nach den für einen Auffahrunfall geltenden Regeln. Bei einem typischen Auffahrunfall trifft den Auffahrenden bzw. den Fahrzeughalter grundsätzlich die volle Haftung. Der Auffahrende hat den Beweis des ersten Anscheins gegen sich, daß er entweder nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten (§ 4 I 1 StVO) oder seine Fahrgeschwindigkeit nicht der Verkehrssituation angepaßt (§ 3 I StVO) oder es an der erforderlichen Aufmerksamkeit hat fehlen lassen (§ 1 II StVO; vgl. BGH, VersR 1969, 859; KG, DAR 1977, 20; VersR 1962, 991).

Den Vorausfahrenden trifft jedoch eine Mithaftung an dem Auffahrunfall, wenn er unter Verstoß gegen § 4 I 2 StVO ohne zwingenden Grund stark abgebremst hat. Nach der Rechtsprechung der beiden Verkehrssenate des KG fällt dabei der zu geringe Sicherheitsabstand grundsätzlich stärker ins Gewicht und führt zu einer Haftungsquote von 2/3 zu Lasten des Auffahrenden (KG, DAR 1976, 16; 1975, 212; Urt. v. 11. 11. 1985 - 12 U 1430/85). Eine Schadensteilung je zur Hälfte ist dagegen geboten, wenn beispielsweise der Vorausfahrende bei grünem Ampellicht anfährt und unmittelbar im Anschluß daran plötzlich und unmotiviert abbremst (KG, VerkMitt. 1982, 88; Urt. v. 11. 1. 1979 - 2659/78).

Der Bekl. zu 1) hat den Verkehrsunfall nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme mitverursacht und mitverschuldet. Unstreitig hat er die von ihm geführte Taxe nur deshalb abgebremst, weil er einen an der Ecke winkenden Fahrgast entdeckt hatte. Die beabsichtigte Aufnahme eines Fahrgastes ist kein "zwingender Grund" i.S. von § 4 I 2 StVO (KG, DAR 1976, 16). Dieser besteht nur, wenn aus Gründen gebremst wird, die dem Schutzgegenstand des Bremsverbotes, Auffahrunfälle im dichteren Verkehr zu verhindern, mindestens gleichwertig sind (Jagusch/Hentschel, StraßenverkehrsR, 32. Aufl., § 4 StVO Rdnr. 11); dies sind die Fälle der Abwendung einer plötzlichen ernstlichen Gefahr für Leib, Leben und bedeutende Sachwerte (Mühlhaus/Janiszewski, StVO, 11. Aufl., § 4 Rdnr. 15). Das lediglich kommerzielle Interesse eines Taxifahrers an der kurzfristigen Aufnahme eines vermeintlichen Fahrgastes muß gegenüber den durch unvermittelte Abbremsmanöver für den nachfolgenden Verkehr entstehenden Gefahren zurückstehen.

Der Bekl. zu 1) hat auch i.S. von § 4 I 2 StVO "stark" gebremst ...

Der Zeuge E hat bei seiner Vernehmung ... bekundet, daß die Taxe in dem Augenblick, als auch das kl. Fahrzeug nach rechts gezogen habe, auf die Busspur gefahren sei, und er - der Zeuge - wisse genau, daß die Taxe "sehr plötzlich und schnell" abgebremst worden sei, es sei zum Auffahrunfall gekommen.

Zwar hat der Zeuge nicht ausdrücklich von einem "starken" Abbremsen gesprochen. Ein plötzliches Abbremsen ist nach einer in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung (OLG Celle, VersR 1976, 1174; OLG Karlsruhe, VRS 76, 414; Jagusch/Hentschel, § 4 StVO Rdnr. 11) nicht notwendigerweise auch ein besonders starkes. Hier aber hat der Zeuge mit den Worten "sehr plötzlich und schnell" erkennbar zum Ausdruck bringen wollen, daß es sich nicht um ein - von § 4 I 2 StVO nicht mehr umfaßtes - "normales" Abbremsen gehandelt hat, sondern um ein deutlich stärkeres, wenn auch nicht um eine Vollbremsung.

Geht man vom allgemeinen Sprachgebrauch aus, muß man unter einem starken Bremsen ein solches verstehen, das einer Vollbremsung gleicht oder doch nahekommt. Bei einem plötzlichen Bremsen wird dagegen nicht auf die Intensität des Bremsvorganges, sondern auf den Überraschungseffekt abgestellt. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob der Gesetzgeber in diesem strengen Sinne zwischen einem starken und einem plötzlichen Bremsen hat unterscheiden wollen (OLG Hamm, DAR 1973, 167). Die amtliche Begründung zu § 4 StVO (abgedr. b. Jagusch/Hentschel, § 4 StVO Rdnrn. 1ff.) ist in der Formulierung nicht konsequent. Zur Erläuterung dafür, was als "zwingender Grund" i.S. von § 4 I 2 StVO zu gelten habe, wird ausgeführt, zu plötzlichem Bremsen könne z.B. eine gefährliche Verkehrssituation zwingen, keinesfalls aber die verspätete Erkenntnis, daß man hätte abbiegen müssen. Hier wird das Adjektiv "plötzlich" als Synonym für "stark" verwendet (OLG Hamm, DAR 1973, 167). Die Schwierigkeit, beide Begriffe streng voneinander zu scheiden, zeigt sich auch an der Rechtsprechung des BGH zu § 4 I 1 StVO. Nach dieser Vorschrift muß der Abstand von einem vorausfahrenden Fahrzug i.d.R. so groß sein, daß auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Diese Vorschrift geht davon aus, daß der nachfolgende Kraftfahrer mit einem plötzlichen Anhalten des Vordermannes, zu dem dieser gezwungen ist, rechnen muß. Der Kraftfahrer muß auch ein "plötzlich scharfes" Bremsen des Vordermannes einkalkulieren (BGH, NJW 1987, 1075). Damit macht der BGH bei den Pflichten des nachfolgenden Verkehrsteilnehmers keinen Unterschied zwischen einem "plötzlichen" oder "starken" Abbremsen des Vorausfahrenden. Dann ist es nach dem Zweck von § 4 I 2 StVO, Auffahrunfälle im dichteren Verkehr einzudämmen (OLG Stuttgart, VRS 56, 119; Jagusch/Hentschel, § 4 StVO Rdnrn. 1ff.), auch kein Grund erkennbar, bei den Pflichten des vorausfahrenden Kraftfahrers einen anderen Maßstab anzulegen. Der nachfolgende Kraftfahrer muß ein plötzliches Abbremsen des Vorausfahrenden in Rechnung stellen und deshalb Abstand halten; dem entspricht die Pflicht des Vordermannes, zur Verhütung von Auffahrunfällen durch verkehrsgerechtes, allmähliches Bremsen beizutragen (OLG Stuttgart, VerkMitt 1979, 28; Mühlhaus/Janiszewski, § 4 Rdnr. 14). Dies muß jedenfalls für einen Fall der vorliegenden Art gelten, in welchem erwiesen ist, daß die Intensität des von dem vorausfahrenden Taxifahrer eingeleiteten "plötzlichen" Bremsmanövers deutlich über das Maß eines lediglich "normalen" Bremsmanövers hinausging ...

2. Auch zur Schadenshöhe ist der von der Kl. jetzt noch geltend gemacht Anspruch begründet ...

Die ihr zustehende Nutzungsausfallentschädigung kann die Kl. nach der Gruppe L der für den Ausfallzeitraum gültigen Tabelle von Danner/Küppersbusch (NJW 1987, 3167ff.; b. Palandt/Heinrichs, BGB, 50. Aufl., Anh. § 249 BGB Rdnrn. 4ff.) verlangen. Diese weist für einen Daimler-Benz der absoluten Oberklasse einen Nutzungswert von 140 DM pro Tag aus.

Entgegen der Auffassung der Bekl. ist dieser Tagessatz nicht mit Rücksicht auf das Alter des Fahrzeuges (zum Unfallzeitpunkt 14 Jahre) zu kürzen. Zwar hat der X. Zivilsenat des BGH (NJW 1988, 484 (486) = DAR 1988, 93 = StVE § 249 BGB Nr. 65 = VersR 1988, 1276 L) entschieden, der Erhaltungszustand eines Fahrzeuges könne bei der Bemessung der Nutzungsausfallentschädigung jedenfalls dann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn sein Nutzungswert mit demjenigen eines neueren Fahrzeuges des gleichen Typs nicht mehr vergleichbar sei; dann sei der Entschädigungsanspruch auf einen in etwa den Vorhaltekosten entsprechenden Betrag beschränkt, der zum Ausgleich der entgangenen Nutzungsmöglichkeit angemessen erhöht werden könne. In dem der Entscheidung des X. Senates des BGH zugrundeliegenden Fall handelte es sich aber um einen mit zahlreichen erheblichen Mängeln behafteten Pkw (Rostlaube). Davon kann im vorliegenden Fall keine Rede sein ...

Die Frage, ob bei Fahrzeugen, die älter als 5 Jahre sind, die Nutzungsausfallentschädigung zu vermindern ist, wird in Literatur und Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet. Für eine Verminderung bei einem älteren Fahrzeug haben sich u.a. ausgesprochen: OLG Karlsruhe, VersR 1989, 59; OLG Schleswig, NJW-RR 1986, 775 (776); OLG Frankfurt, StVE § 249 BGB Nr. 44 = VersR 1985, 248; LG Tübingen, DAR 1991, 184; LG Memmingen, VersR 1990, 864; Born, VersR 1978, 791; Danner/Küppersbusch, zuletzt VersR, 1991, 20; Palandt/Heinrichs, 52. Aufl., Anh. § 249 Rdnr. 3. Gegen eine Kürzung bei einem älteren Fahrzeug sind: OLG Karlsruhe, VersR 1989, 269; OLG Frankfurt, VersR 1985, 294; KG, VersR 1981, 536 = DAR 1981, 56; OLG Celle, VersR 1973, 28; KG, Urt. v. 7. 5. 1992 - 22 U 2766/91; Grunsky, in: MK-BGB, 2. Aufl., Vorb. § 249 Rdnr. 22; Greger, Zivilrechtliche Haftung im Straßenverkehr, 2. Aufl., § 7 StVG Rdnr. 249.

Der Senat hält nach erneuter Überprüfung an seiner bereits in der Entscheidung vom 2. 6. 1980 geäußerten Auffassung (VersR 1981, 536 = DAR 1981, 56) fest, daß das bloße Alter eines Fahrzeuges - ohne Hinzutreten anderer, den individuellen Nutzungswert spürbar mindernder Faktoren - eine Reduzierung der Nutzungsausfallentschädigung nicht rechtfertigt. Für die Erstattungsfähigkeit der Kosten eines gemieteten Ersatzfahrzeuges gilt, daß der Eigentümer eines Fahrzeuges, das er zeitweilig wegen der durch den Unfall herbeigeführten Beschädigung nicht nutzen kann, grundsätzlich berechtigt ist, sich auf Kosten des Schädigers ein Fahrzeug des gleichen Typs zu mieten. Er wird nicht dadurch "bereichert", daß er sich als Ersatz für seinen Altwagen ein neueres Fahrzeug mietet. Die gleichen Grundsätze gelten für die Ermittlung des Gebrauchswerts eines älteren Fahrzeugs, wenn der Geschädigte also auf das Mieten eines Ersatzfahrzeuges verzichtet und stattdessen eine Nutzungsausfallentschädigung geltend macht (Senat, VersR 1981, 536 = DAR 1981, 56). Die Ersatzpflicht beruht letztlich auf der Erwägung, daß der vorsichtige und sparsame Kfz-Eigentümer, der auf einen Mietwagen verzichtet, nicht schlechter gestellt werden soll als derjenige, der einen Ersatz-Pkw mietet (BGHZ 66, 278 = VersR 1976, 956; BGHZ 86, 132 = VersR 1983, 298). Bei Berücksichtigung dieses Grundgedankens kann der Umfang der Ersatzpflicht nicht vom Alter des Fahrzeuges abhängen (OLG Karlsruhe, VersR 1989, 269 (270)). Zu berücksichtigen ist ferner, daß die meisten Fahrzeugeigentümer sich nicht schon nach - gemessen an der Lebensdauer eines Pkw - kurzer Zeit ein neuwertiges Fahrzeug anschaffen, sondern das ihnen vertraute, subjektiv den gleichen Komfort bietende und zuverlässig laufende Gebrauchtfahrzeug weiter benutzen. Der Geschädigte, der sein Fahrzeug "voll verbraucht", d.h. während seiner gesamten Lebensdauer nutzt, kann bei der Bemessung der Nutzungsausfallentschädigung nicht schlechter gestellt werden als einer, der sein Fahrzeug in kürzeren Abständen wechselt.

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht