Zusammenstoß eines Kolonnenüberholers mit einem Linksabbieger

Gericht

AG Tecklenburg


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

23. 04. 2002


Aktenzeichen

11 C 30/02


Leitsatz des Gerichts

  1. Denjenigen, der eine Fahrzeugkolonne in einem Zug überholt und mit einem aus der Kolonne nach links hin abbiegenden Fahrzeug zusammenstößt, trifft eine Mithaftung zu mindestens 50 %.

  2. Beim Abbiegen besteht eine doppelte Rückschaupflicht: Durch hinreichend achtsamen Blick in die Rückspiegel und über die Schulter muß man sich vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen über den nachfolgenden Verkehr vergewissern.

  3. Die von einen Kfz ausgehende Betriebsgefahr wird durch einen Überholvorgang deutlich erhöht. Ein Überholvorgang bedeutet nämlich eine erhebliche Gefahrenquelle. Für deren gefahrlosen Verlauf ist in erster Linie der Überholende verantwortlich.

  4. Kolonnenüberholen stellt allerhöchste Sorgfaltsanforderungen an den Überholenden und führt zu einer weiteren Erhöhung der Betriebsgefahr.

  5. Beabsichtigt eine Kraftfahrzeugführer mehrere hintereinander fahrende Fahrzeuge in einem Zug zu überholen, so muß er bei verdecktem linken Fahrtrichtungsanzeiger eines der voraus befindlichen Kraftfahrzeuge seine Überholgeschwindigkeit so einrichten, daß er bei Erkennbarwerden einer beabsichtigten Fahrtrichtungsänderung noch zurückbleiben kann.

  6. Wenn der Vorausfahrende seine Abbiegeabsicht ordnungsgemäß kundgetan hat, darf er nur noch rechts überholt werden. Wo dies nicht möglich ist, muß das Überholen unterbleiben.

Entscheidungsgründe

Auszüge aus den Gründen:

...

Die KI hat keinen Anspruch gegen die Bekl auf weiteren Schadensersatz wegen des Verkehrsunfalls vom 24.10.2001 in T. Sämtliche der KI zustehenden Ansprüche sind durch die vorgerichtliche Zahlung des Bekl zu 2) ausgeglichen.

Bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs der Bekl zu 1), haftpflichtversichert bei dem Bekl zu 2), wurde das Fahrzeug der KI beschädigt, so dass die grundsätzliche Haftung der Bekl aus den § 7 Abs. 1 StVG, § 3 PflVG. begründet ist. Diese Haftung ist nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen. Dies machen die Bekl auch nicht geltend, zumal bereits vorgerichtlich eine Haftung in Höhe von 50 % anerkannt worden ist. Auch auf Seiten der KI kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass der Unfall für den Zeugen F ein unabwendbares Ereignis darstellt. Den ihr obliegenden Unabwendbarkeitsnachweis i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG hat die KI jedenfalls nicht erbracht.

Bei dem Unfall war auf beiden Seiten ein der Gefährdungshaftung unterliegendes Kraftfahrzeug beteiligt, und beide Seiten müssen als Kraftfahrzeughalter für die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs einstehen. Daher hängt gem. § 17 Abs. 1 StVG die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einem oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Im Rahmen dieser Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Verursachungsbeitrag der Bekl zu 1) jedenfalls nicht höher ist als derjenige des Zeugen F, dessen Verhalten sich die KI zurechnen lassen muss, so dass letztere über die bereits gezahlten 2.422,89 EUR hinaus keinen weiteren Schadensersatz mehr verlangen kann.

Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge der Parteien hat das Gericht die folgenden Gesichtspunkte berücksichtigt: Die Bekl zu 1), deren Verhalten sich der Bekl zu 2) als Haftpflichtversicherer nach § 3 PflVG zurechnen lassen muss, hat gegen § 9 Abs. 1 S. 4 StVO verstoßen. Nach dieser Vorschrift ist vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten (doppelte Rückschaupflicht). Dem ist die Bekl zu 1) entweder überhaupt nicht oder, was dem gleich zu achten wäre, nicht in ausreichendem Maße nachgekommen. Die Bekl zu 1) bog nach links hin ab, obwohl dies nicht gefahrlos möglich war, weil der Zeuge F sich schräg hinter ihr auf der Gegenfahrbahn im Überholvorgang befand. Hätte die Bekl zu 1) ihre aus § 9 Abs. 1 S. 4 StVO resultierende doppelte Rückschaupflicht ordnungsgemäß erfüllt, in dem sie sich durch hinreichend achtsamen Blick in die Rückspiegel und über die Schulter sorgfältig über den nachfolgenden Verkehr vergewissert hätte, hätte sie das Fahrzeug der KI zwingend erkennen und ihr Abbiegevorhaben zurückstellen müssen.

Weitere Verkehrsverstöße sind der Bekl zu 1) nicht zur Last zu legen. So weit die KI behauptet hat, die Bekl zu 1) habe ihr Abbiegevorhaben entgegen § 9 Abs. 1 S. 1 StVO nicht mit Hilfe der Fahrrichtungsanzeiger rechtzeitig und deutlich angekündigt sowie sich entgegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO nicht unter Verlangsamung ihrer Geschwindigkeit zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet, ist dies durch die Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichtes widerlegt (wird ausgeführt). Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge ist auf Seiten der KI zunächst die von ihrem Fahrzeug ausgehende Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Diese war durch den Überholvorgang deutlich erhöht. Ein Überholvorgang bedeutet nämlich eine erhebliche Gefahrenquelle; in erster Linie ist der Überholende für den gefahrlosen Verlauf verantwortlich (vgl. BGH VersR 1975, 331). Hier kommt noch hinzu, dass der Zeuge F nicht etwa nur ein Fahrzeug, sondern gleich drei Fahrzeuge in einem Zug zu überholen beabsichtigte. Dass ein solches so genanntes Kolonnenüberholen allerhöchste Sorgfaltsanforderungen an den Überholenden stellt und zu einer weiteren Erhöhung der Betriebsgefahr führt, bedarf keiner weiteren Erörterung. Diesen besonderen Anforderungen ist der Zeuge F nicht gerecht geworden. Der Zeuge B hat bekundet, schon als der Zeuge F gerade mit seinem Überholvorgang begonnen habe, habe die Bekl zu 1) bereits geblinkt, ihre Geschwindigkeit verlangsamt und sich entsprechend eingeordnet. Dies hatte der Zeuge F bemerken und sein Überholvorhaben umgehend abbrechen müssen, was jedoch auf Grund offensichtlich fehlender Aufmerksamkeit unterblieben ist. Die Bekl zu 1) in dieser Situation noch links zu überholen, war dem Zeugen F verboten. Wenn der Vorausfahrende nämlich seine Abbiegeabsicht ordnungsgemäß kundgetan hat, darf er nur noch rechts überholt werden (§ 5 Abs. 7 AVO). Wo dies nicht moglich ist, muss das Überholen unterbleiben (vgl. z.B. OLG Koblenz VersR 1978, 576). Insoweit ist es hinsichtlich eines Sorgfaltsverstoßes des Zeugen F auch irrelevant, zu welchem Zeitpunkt genau er erstmals den linken Fahrtrichtungsanzeiger des Fahrzeugs der Bekl zu 1) erkennen konnte. Beabsichtigt nämlich ein Kraftfahrzeugführer, mehrere hintereinander fahrende Fahrzeuge in einem Zug zu überholen, so muss er bei verdecktem linken Fahrtrichtungsanzeiger eines der voraus befindlichen Kraftfahrzeuge seine Überholgeschwindigkeit so einrichten, dass er bei Erkennbarwerden einer beabsichtigten Fahrtrichtungsänderung noch zurückbleiben kann (vgl. OLG Celle VersR 1980, 195). Im Übrigen hat der Zeuge F selbst bekundet, die Kolonne sei mit etwa 50 km/h recht langsam gefahren. Angesichts dessen hätte ihm der Gedanke kommen müssen, dass diese verhältnismäßig geringe Geschwindigkeit darauf zurückzuführen sein könnte, dass das die Kolonne anführende Fahrzeug in den nächsten Augenblicken abbiegen wird.

Festzuhalten bleibt, dass der Zeuge F mit seinem Kolonnenüberholen einen höchst gefährlichen Verkehrsvorgang durchgeführt hat, der per se schon die Betriebsgefahr deutlich erhöht, und den dabei entstehenden höchsten Sorgfaltsanforderungen bei weitem nicht gerecht geworden ist.

In der Gesamtschau aller Umstände ist das Gericht der Auffassung, dass der Verursachungsbeitrag der Bekl zu 1) jedenfalls keineswegs höher zu bewerten ist als derjenige des Zeugen F. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist vielmehr sogar anerkannt, dass demjenigen, der eine Fahrzeugkolonne in einem Zug überholt und mit einem aus der Kolonne nach links hin abbiegenden Fahrzeug zusammenstößt, sogar in der Regel die überwiegende Mithaftung trifft (vgl. z.B. OLG Hamm NZV 1993, 313; OLG Schleswig VersR 1974, 703; OLG Koblenz VersR 1978, 576; OLG Karlsruhe RUS 1981, 12). Auf Grund der vorprozessualen Zahlung des Bekl zu 2) (2.422,89 EUR), die die Hälfte des Gesamtschadens ausmacht, stehen der KI mithin keine weiteren Ansprüche zu. Ob die auf die KI entfaltende Haftungsquote 50 % noch übersteigt, kann hier dahingestellt bleiben. ...

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht