Sozialhilfe für gebrauchtes Schwarz-Weiß-Fernsehgerät
Gericht
VG Oldenburg (Kammern Osnabrück)
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
14. 02. 1991
Aktenzeichen
4 A 101/89
Ein (gebrauchtes) Schwarz-Weiß-Fernsehgerät ist Teil des notwendigen Lebensunterhalts i. S. der §§ 11, 12 BSHG.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Mit Bescheid vom 17. 11. 1988 lehnte die Stadt B. im Namen und Auftrag des Bekl. Anträge des Kl. auf Gewährung einmaliger Beihilfen u. a. für die Reparatur eines Schwarz-Weiß-Fernsehgeräts (voraussichtlich 150 DM) ab. Zur Begründung verwies die Stadt darauf, daß ein Fernseher nicht zum notwendigen Lebensunterhalt gehöre.
Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hatte Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
Gem. § 11 I BSHG ist die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt auf den notwendigen Lebensunterhalt beschränkt. Der notwendige Lebensunterhalt umfaßt nach § 12 I BSHG u. a. neben Hausrat auch persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu diesen zählen nach S. 2 der Vorschrift in vertretbarem Umfange auch Beziehungen zur Umwelt und die Teilnahme am kulturellen Leben.
Ein (gebrauchtes) Schwarz-Weiß-Fernsehgerät ist nach Auffassung der Kammer Teil des notwendigen Lebensunterhalts in diesem Sinne. Ob ein Fernsehgerät dabei dem Hausrat (so offenbar Hofmann, in: LPK-BSHG, 3. Aufl. (1991), § 12 Rdnr. 52) oder eher den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens (so Schellhorn-Jirasek-Seipp, BSHG, 13. Aufl., § 12 Rdnr. 41; Schulte-Trenk=Hinterberger, Sozialhilfe, 2. Aufl. (1986), S. 510) zuzuordnen ist, kann angesichts der Beispielhaftigkeit der Aufzählung in § 12 I BSHG offenbleiben.
Zwar hat das BVerwG im Urteil vom 3. 11. 1988 (NJW 1989, 924)
an seiner früheren Rechtsprechung, wonach ein gebrauchtes
Schwarz-Weiß-Fernsehgerät grundsätzlich nicht Teil des
notwendigen Lebensunterhalts ist (BVerwGE 48, 237), festgehalten.
Dieser Auffassung vermag sich die Kammer indes nicht (mehr)
anzuschließen. Entgegen dem BVerwG sieht die Kammer der dem
Urteil vom 22. 5. 1975 zugrundeliegenden Begründung durch eine
inzwischen eingetretene Änderung der allgemeinen Verhältnisse,
die für die Beurteilung des notwendigen Lebensunterhalts
maßgeblich sind, den Boden entzogen.
Der Ausgangspunkt des BVerwG, die neuesten Auflagen der
Erläuterungswerke zum Bundessozialhilfegesetz führten die
Entscheidung vom 22. 5. 1975 als Beleg dafür an, daß die Kosten
für die Anschaffung eines Fernsehgerätes nicht unter § 12 I 1
BSHG fielen, trifft nur (noch) eingeschränkt zu. Er ist aber
auch im übrigen nicht geeignet, eine Änderung der maßgeblichen
Verhältnisse zu verneinen. Der vom BVerwG zitierte Kommentar von
Oestreicher sieht seit der 25. Ergänzungslieferung (Stand:
Januar 1990) in Kenntnis und entgegen der Entscheidung des BVerwG
vom 3. 11. 1988 ein gebrauchtes Schwarz-Weiß-Fernsehgerät als
zum notwendigen Lebensunterhalt gehörend an. Hofmann (LPK-BSHG,
§ 12 Rdnr. 52) wendet sich ebenfalls gegen die Entscheidung des
BVerwG und weist auf diesbezüglich geänderte
Lebensverhältnisse hin. Im Kommentar von
Schellhorn-Jirasek-Seipp (§ 12 Rdnr. 41) wird - insoweit vom
BVerwG zitiert - die grundsätzlich ablehnende Haltung bereits
eingeschränkt. Schulte-Trenk=Hinterberger (S. 510) haben zwar im
Jahr 1986 ausgeführt, daß sich aus den heute herrschenden
Lebensgewohnheiten und der Entwicklung der Zivilrechtsprechung
zum Pfändungsschutz für Fernsehgeräte nicht zwingend folgern
lasse, daß ein Fernsehgerät „schlechthin“ zum
notwendigen Lebensunterhalt gehöre. Weiter und insoweit vom
BVerwG nicht zitiert wird dort aber ausgeführt, daß Beziehungen
zur Umwelt und die Teilnahme am kulturellen Leben in vertretbarem
Umfang auch durch ein gebrauchtes Fernsehgerät ermöglicht
werden könnten und daß das Fernsehen nach den heutigen
Lebensverhältnissen ein ebenso wichtiges Medium wie der Rundfunk
sei, so daß sich - freilich unter Berücksichtigung der
Umstände des dort genannten Fallbeispiels - die Ansicht „vertreten“
lasse, ein gebrauchtes Fernsehgerät gehöre zum notwendigen
Lebensunterhalt i. S. des § 12 I 1 BSHG. Die vom BVerwG im
übrigen genannten Kommentare von Gottschick-Giese,
Knopp-Fichtner und Mergler-Zink nehmen nicht zur Entwicklung in
den seit dem Urteil vom 22. 5. 1975 vergangenen 15 Jahren
Stellung, sondern informieren lediglich - zum Teil ohne
Hinzufügung eigener Überlegungen - über den Stand der
höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Läßt sich danach die Kommentarlage nicht (mehr) in der vom BVerwG im Urteil vom 3. 11. 1988 gesehenen Weise als Beleg für dessen Auffassung verwenden, so entspricht dem, daß sich zwischenzeitlich auch die Auffassungen zum zivilrechtlichen Pfändungsschutz von Fernsehgeräten zugunsten des Schuldners verfestigt haben. Anders als noch in den vom BVerwG zitierten Auflagen maßgeblicher ZPO-Kommentare wird nunmehr bei Thomas-Putzo (ZPO, 16. Aufl. (1990), § 811 Anm. 4) die Auffassung von der Unpfändbarkeit als „jetzt wohl h. M." unter Verweis auf einen Literaturbeitrag von Pardey (DGVZ 1987, 111) dargestellt. Hartmann (in: Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann, ZPO, 48. Aufl. (1990), § 811 Anm. 3 B b) hält es für „im wesentlichen unstreitig", daß ein Fernsehgerät, jedenfalls wenn es das einzige Rundfunkgerät sei, unpfändbar sei, und vertritt darüber hinaus die Ansicht, daß ein Fernsehgerät auch neben einem vorhandenen Rundfunkgerät nicht gepfändet werden könne. Stöber (in Zöller, ZPO, 16. Aufl. (1990), § 811 Rdnr. 15) führt aus: „Auch ein Fernsehgerät dient heute bescheidener Lebens- und Haushaltsführung“ und sieht es demgemäß „auch soweit daneben noch ein Rundfunkgerät vorhanden“ sei, als unpfändbar an.
Diese Entwicklung kann auch nicht mit dem Argument unberücksichtigt gelassen werden, der Unpfändbarkeit eines vorhandenen Fernsehgerätes entspreche (lediglich), daß einem Hilfesuchenden „im allgemeinen nicht angesonnen“ werde, es zu veräußern und den Erlös zur Deckung seines Bedarfs einzusetzen, weil damit die Ebene der Bedarfsermittlung mit der der Bedarfsdeckung vermengt wird. Ob ein Hilfesuchender ein (bereits vorhandenes) Gut sozialhilferechtlich zur Deckung seines (übrigen) notwendigen Bedarfs verwerten muß, beurteilt sich nach den Vorschriften über den Einsatz von Einkommen und Vermögen. Die Unpfändbarkeit eines Gutes hingegen ist der (zwangsvollstreckungsrechtlichen) Bedarfsermittlung zuzuordnen, weil es dabei darum geht, ob der Vollstreckungsschuldner dieses Gegenstandes „zu einer seiner Berufstätigkeit und seiner Verschuldung angemessenen, bescheidenen Lebensführung bedarf" (§ 811 Nr. 1 ZPO). Die zwangsvollstreckungsrechtliche Unpfändbarkeit eines vorhandenen Fernsehgerätes entspricht demnach im Sozialhilferecht gerade nicht dem Umstand, daß ein Hilfesuchender „im allgemeinen“ nicht veranlaßt wird, es zur (übrigen) Bedarfsdeckung einzusetzen, sondern sie entspricht der Bedarfsermittlungsseite und ist daher mit der hier in Rede stehenden Frage durchaus vergleichbar.
Inwiefern die Regelung des § 811 Nr. 1 ZPO über die Unpfändbarkeit von dem persönlichen Gebrauch und dem Haushalt dienenden Gegenständen „nicht in jeder Hinsicht" mit der Regelung des notwendigen Lebensunterhalts nach § 12 I BSHG „zweckidentisch“ ist, hat das BVerwG weder in der Entscheidung vom 22. 5. 1975 noch in der vom 3. 11. 1988 präzisiert. Es hat diesen Gedanken auch nicht auf den Fall des Fernsehgerätes konkretisiert, sondern ist bei seiner pauschalen These stehengeblieben. Ihr kann daher jedenfalls entgegengehalten werden, daß der Zweck des § 811 Nr. 1 ZPO, dem einzelnen ein Mindestmaß von Lebensraum für sich und seinen Haushalt und für die Ausübung seines Berufes zu sichern (vgl. Scherübl, in: Zöller, ZPO, 12. Aufl., § 811, Anm. I), nicht weit von dem der §§ 11, 12 BSHG, mehr als das für die menschliche Existenz unerläßliche Minimum zu garantieren (vgl. Schellhorn-Jirasek-Seipp, § 12 Rdnr. 3), entfernt ist (vgl. Stöber, in: Zöller, ZPO, 16. Aufl. (1990), § 811 Rdnr. 1). In der modernen Kommunikations- und Mediengesellschaft stellt das Informations- und Kommunikationsbedürfnis ein Grundbedürfnis menschlicher Existenz dar, das dem notwendigen Lebensunterhalt zuzurechnen ist. Dieses Bedürfnis wird heute in erster Linie durch die elektronischen Medien - Fernsehen und Rundfunk - je für sich befriedigt. Neben der Informations- und Unterhaltungsfunktion vermitteln die elektronischen Bildmedien wie kein anderes auch die Teilhabe des einzelnen am Prozeß politischer Meinungsbildung. Die Möglichkeit des Fernsehens ist daher auch unter dem Aspekt des Grundrechts auf Informationsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG zu sehen.
Schließlich ist angesichts des seit dem 1. 7. 1990 geltenden Bedarfsbemessungssystems, dem nicht mehr das Warenkorb-, sondern das Statistikmodell zugrundeliegt, zweifelhaft, ob die Auffassung des BVerwG, es komme auf die anhand statistischer Jahrbücher ermittelte „Ausstattungsdichte“ (deutscher) Haushalte mit dem begehrten Gegenstand nicht an, noch uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann. Dem Statistikmodell liegt nämlich gerade die Bedarfsbemessung an dem tatsächlichen, statitisch ermittelten Ausgaben- und Verbrauchsverhalten von Haushalten in unteren Einkommensgruppen, deren Einkommen deutlich über der Sozialhilfeschwelle liegt, zugrunde (vgl. dazu Schulte, NVwZ 1990, 1146 (1147)). Nach Auffassung der Kammer kann jedenfalls nicht mehr unberücksichtigt gelassen werden, daß im Jahre 1989 97,6 % der 2-Personen-Haushalte von Renten- und Sozialhilfeempfängern über ein Fernsehgerät verfügten (Statistisches Jb. für die BRep. Dtschld. 1990, S. 488).
Zählt ein gebrauchtes Schwarz-Weiß-Fernsehgerät nach Auffassung der Kammer danach zum notwendigen Lebensunterhalt, so hat der Kl. grundsätzlich einen Anspruch darauf, daß ihm aus Mitteln der Sozialhilfe die Möglichkeit zum Fernsehen gegeben wird. Da über Form und Maß der Sozialhilfe gem. § 4 II BSHG der Sozialhilfeträger nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat und der Bekl. infolge seiner Auffassung, ein Fernsehgerät gehöre nicht zum notwendigen Lebensunterhalt des Kl., dieses Ermessen bislang nicht ausgeübt hat, kann die Kammer den Bekl. lediglich zur Neubescheidung des Antrags des Kl. auf Bewilligung einer Beihilfe zur Reparatur seines Fernsehgerätes verpflichten.
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