Sonderrechte im Straßenverkehr für Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr

Gericht

OLG Stuttgart


Art der Entscheidung

Rechtsbeschwerde


Datum

26. 04. 2002


Aktenzeichen

4 Ss 71/02


Leitsatz des Gerichts

Dem Betroffenen, der als Angehöriger einer freiwilligen Feuerwehr nach Auslösung eines Alarms mit seinem privaten Pkw zum Feuerwehrhaus fährt, stehen schon auf diesem Weg die Sonderrechte des § 35 I StVO zu (entgegen OLG Frankfurt a.M., NZV 1992, 334). Mit einem privaten Pkw, der keine Signaleinrichtungen aufweist, sind deshalb in einem solchen Fall jedenfalls maßvolle Geschwindigkeitsüberschreitungen ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer statthaft.

Tatbestand

Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Betr. hat am 9. 4. 2001 um 20.33 Uhr in R. als Führer eines Pkw, auf dessen Fahrzeugdach er vorübergehend einen Kunststoffaufsatz mit der Anschrift „Feuerwehr im Einsatz“ angebracht habe, die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten. Seine gemessene Geschwindigkeit habe abzüglich der Toleranz 78 km/h betragen. Der Betr. sei aktives Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr der Stadt P., welche nur wenige Kilometer entfernt und städtebaulich unmittelbar angrenzend an die Nachbarstadt R. liege. Um 20.28 Uhr sei er über Funk im Rahmen eines Vollalarms wegen einer Brandmeldung im Gebäude der Firma M-GmbH in P., einem Verbrauchergroßmarkt, alarmiert worden. Er habe, wie ihm geheißen, auf dem schnellsten Wege das Feuerwehrhaus der Freiwilligen Feuerwehr in P. erreichen wollen, um von dort aus eingesetzt zu werden. Um 20.39 Uhr habe sich herausgestellt, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt habe. Andere Verkehrsteilnehmer seien durch die Fahrweise des Betr. auf der ausgebauten Ausfall- bzw. Durchgangsstraße in keiner Weise tangiert worden. Dem Betr. sei auf Schulungen der Feuerwehr wiederholt erklärt worden, er könne im Alarmfalle gegebenenfalls für sich Sonderrechte in Anspruch nehmen, wenn er niemanden hierdurch gefährde.

Das AG hatte den Betr. vom Vorwurf der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit freigesprochen.

Die Rechtsbeschwerde der StA hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe

Auszüge aus den Gründen:

II. 1. Dem Betr., der als Angehöriger einer Freiwilligen Feuerwehr nach Auslösung eines Alarms mit seinem Pkw zum Feuerwehrhaus fährt, stehen grundsätzlich die Sonderrechte des § 35 I StVO zu. Diese dürfen aber mangels ausreichender Anzeigemöglichkeiten ihres Gebrauchs nur im Ausnahmefall nach einer auf den Einzelfall bezogenen Abwägung nach Notstandsgesichtspunkten (vgl. Hartung, NJW 1956, 1625) unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden, wenn dies zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist (§ 35 I , VIII StVO). Mit einem privaten Pkw, der keine Signaleinrichtungen wie ein Feuerwehrfahrzeug aufweist, sind daher, soweit es um die Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit (§ 3 StVO) geht, allenfalls mäßige Geschwindigkeitsüberschreitungen ohne Gefährdung oder gar Schädigung anderer Verkehrsteilnehmer statthaft, was vorliegend noch der Fall ist.

a) Der Wortlaut des § 35 I StVO bezeichnet mit dem Tatbestandsmerkmal „die Feuerwehr“ lediglich die Institution und besagt nichts darüber, welche Fahrzeugarten dieser Einrichtung hierunter fallen; er schließt private Fahrzeuge aus dem Anwendungsbereich jedenfalls nicht aus. Aus dem Standort der Norm am Ende des ersten Abschnitts der Straßenverkehrsordnung („Allgemeine Verkehrsregeln“) und angesichts dessen, dass diese Sonderregelung von den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung vollständig befreit, kann geschlossen werden, dass es sich um eine eng auszulegende Sondervorschrift handelt, wovon auch die StA zu Recht ausgeht. Dies besagt allerdings noch nichts darüber, ob diese enge Auslegung bei dem Begriff „Feuerwehr“ anzusetzen hat oder ob erhöhte Anforderungen an das Merkmal „dringend geboten“ und/oder an die Voraussetzungen des § 35 VIII StVO zu stellen sind.

Aus der Entstehungsgeschichte der Norm, die ursprünglich als § 48 I in die Straßenverkehrsordnung eingestellt war, lässt sich nichts Entscheidendes für die Lösung der vorliegenden Frage herleiten. Hingegen stellen die zu der Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften eine wertvolle Auslegungshilfe bezüglich der Vorstellungen des Verordnungsgebers dar (Janiszewski/Jagow/Burmann, StVO, 16.Aufl., Einf. Rdnr. 232). In der VwV-StVO zu § 35 wird empfohlen, bei Inanspruchnahme von Sonderrechten dies, wenn möglich und zulässig, durch blaues Blinklicht mit Einsatzhorn anzuzeigen. Aus dem einschränkenden Zusatz „wenn möglich“ kann geschlossen werden, dass nach dem Willen des Verordnungsgebers Fahrzeuge, die weder über blaues Blinklicht noch über Einsatzhorn verfügen, Sonderrechte in Anspruch nehmen können.

Hierfür spricht auch die Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums Baden-Württemberg zu § 35 StVO (GABl 1981, 747). Danach stehen dem Angehörigen einer Freiwilligen Feuerwehr, der nach Auslösung eines Alarms mit einem privaten Pkw zum Feuerwehrhaus oder zum Alarmplatz fährt, die Sonderrechte nach § 35 I StVO zu. Allerdings trete die Pflicht, sich bei Alarm unverzüglich beim Alarmplatz einzufinden, grundsätzlich hinter die Pflicht zur Beachtung der geltenden Verkehrsregeln zurück. Da die Privatfahrzeuge der Feuerwehrangehörigen keine Möglichkeit hätten, durch Blaulicht und Einsatzhorn den übrigen Verkehrsteilnehmern anzuzeigen, dass Sonderrechte in Anspruch genommen würden, verbiete es sich grundsätzlich - auch im Interesse der betroffenen Feuerwehrangehörigen - Sonderrechte bei Fahrten mit dem privaten Pkw in Anspruch zu nehmen.

Der Bund-Länder-Fachausschuss StVO hat bereits 1992 anlässlich einer Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. zur Frage der Inanspruchnahme von Sonderrechten nach § 35 I StVO durch Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr auf der Fahrt von der Wohnung zum Feuerwehrstützpunkt folgende Auffassung vertreten: „Nach § 35 I StVO kommt es darauf an, ob die Überschreitung der Vorschriften der Straßenverkehrsordnung zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist. Dies kann auch der Fall sein, wenn der Stützpunkt von der Wohnung schnell erreicht werden muss. Dabei ist aber § 35 VIII besonders zu beachten, wenn mit Privatfahrzeugen gefahren wird, die für die übrigen Verkehrsteilnehmer nicht als Fahrzeuge mit Sonderrechten erkennbar sind“. Ausweislich einer neueren Stellungnahme des Bundesverkehrsministers (Deutsche Feuerwehrzeitung 2001, 572) wird diese Auffassung heute noch vertreten.

Schließlich spricht auch eine zweckgerichtete Auslegung der Vorschrift dafür, dass Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr bei einer Fahrt im Alarmfall zum Feuerwehr- oder Einsatzort grundsätzlich dem § 35 I 1 StVO unterfallen, diese Sonderrechte jedoch nur in zumindest notstandsähnlichen Ausnahmefällen in Anspruch nehmen dürfen. Denn damit wird einerseits der in diesem Fall vorliegenden Notstandshilfelage und andererseits der durch die Straßenverkehrsordnung geschützten allgemeinen Verkehrssicherheit Genüge getan.

b) Der Auffassung des Senats entspricht die Entscheidung des 3.Senats für Bußgeldsachen des OLG Stuttgart vom 7. 10. 1991 (NJW 1992, 993). Danach kann ein Polizeibeamter, der mit seinem Privat-Pkw eine mit Haftbefehl gesuchte Person verfolgt, die Sonderrechte nach § 35 I StVO in Anspruch nehmen, wenn die sofortige Diensterfüllung wichtiger erscheint als die Beachtung der Verkehrsregeln. Dieser Fall ist mit dem vorliegenden insoweit vergleichbar, als die Erkennbarkeit der Inanspruchnahme dieser Sonderrechte für die übrigen Verkehrsteilnehmer nicht bzw. (durch den Dachaufsatz) nicht ausreichend gegeben ist.

Ferner hat das OLG Braunschweig (Beschl. v. 5. 3. 1990 - Ss (B) 14/90) in einem gleichgelagerten Fall einem Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr nach einem Einsatzbefehl auf der Fahrt zum Spritzenhaus zwar die Berufung auf das Sonderrecht des § 35 I StVO verwehrt, da der Betr. kurz vor Erreichen seines Fahrziels nicht davon ausgehen konnte, dass die innerörtliche Geschwindigkeitsüberschreitung von 54 km/h dringend geboten gewesen sei. Die Entscheidung impliziert damit jedoch, dass, unter der Voraussetzung der dringenden Gebotenheit, einem Angehörigen der Freiwilligen Feuerwehr auf der Fahrt zum Feuerwehrhaus die Berufung auf diese Vorschrift grundsätzlich möglich ist.

Auch Kullik (NZV 1994, 58, und DAR 1995, 126) vertritt die Auffassung, dass ein Feuerwehrmann nach Alarmierung auf dem Weg zum Spritzenhaus als Fußgänger, Radfahrer oder Pkw-Fahrer die Sonderrechte nach § 35 I StVO in Anspruch nehmen kann. Zu Recht weist er darauf hin, dass einem Feuerwehrmann damit auch die Möglichkeit gegeben sei, mit seinem Privat-Pkw eine nach Zeichen 250 der StVO (Verbot für Fahrzeuge aller Art) gesperrte Waldstraße befahren zu können, um dadurch die Zufahrt zum Spritzenhaus abzukürzen.

Demgegenüber vertritt das OLG Frankfurt a.M. in seinen Beschlüssen vom 2. 8. 1984 - 2 Ws (B) 133/84 OWiG (Cramer/Berz/Gontard, Straßenverkehrs-Entscheidungen Nr. 6 zu § 35 StVO) und vom 25. 9. 1991 (NZV 1992, 334) die Auffassung, dass ein Feuerwehrmann auf der Fahrt mit seinem privaten Pkw zum Feuerwehrstützpunkt § 35 I StVO nicht in Anspruch nehmen könne, da diese Fahrt noch keine hoheitliche Aufgabe erfülle, sondern allenfalls der Vorbereitung einer späteren hoheitlichen Aufgabe (Einsatz) diene. Dem kann allerdings nicht zugestimmt werden, da auch die Vorbereitungshandlung, die mit der Einsatztätigkeit in unmittelbarem Zusammenhang steht, bereits als hoheitliche Aufgabe anzusehen ist (Schmidt/Buck, BWVPr 1985, 221 [223]), wozu auch das Zurückliegen des Wegs zwischen der Wohnung und dem Feuerwehrort oder der Einsatzstelle gehört (Surwald, Feuerwehrgesetz für Baden-Württemberg, 6.Aufl., § 16 Rdnr. 6).

2. Obwohl damit von der Rechtsansicht des OLG Frankfurt a.M. abgewichen wird, besteht unabhängig von der Frage, ob die zu beurteilenden Sachverhalte gleich gelagert sind und ob die Frage dort entscheidungserheblich war, keine Vorlagepflicht nach § 79 III OWiG i.V. mit § 121 II GVG. Die Frage, ob dem Betr. die Sonderrechte des § 35 I StVO zustehen, ist vorliegend nicht entscheidungserheblich, da er unabhängig davon freizusprechen ist. Der Betr. handelte nämlich in einer Putativnotstandshilfesituation entsprechend §§ 11 I , 16 OWiG, wobei sein Irrtum bezüglich des Fehlalarms nicht auf Fahrlässigkeit beruhe. Auf Grund der durch Funk erfolgten Alarmierung wegen einer Brandmeldung in einem Verbrauchergroßmarkt ging er von einer gegenwärtigen, nicht anders als durch den Feuerwehreinsatz abwendbaren Gefahr für zumindest das Eigentum eines anderen aus. Dieses Rechtsgut, das er schützen wollte, überwog in der konkreten Situation auch das Rechtsgut der Verkehrssicherheit wesentlich, da bezüglich Letzterem auf Grund der mäßigen Geschwindigkeitsüberschreitung und der Tatsache, dass zu der relativ späten Stunde auf der ausgebauten Ausfallstrecke keine anderen Verkehrsteilnehmer beeinträchtigt wurden, keine Gefährdung vorlag und der Grad der drohenden Gefahr hierbei zu berücksichtigen ist (Göhler, OWiG, 13.Aufl., § 16 Rdnr. 8). Er handelte auch mit Rettungswillen und durfte darauf vertrauen, dass er wegen eines tatsächlichen Alarmfalls gerufen wurde, da keine Anhaltspunkte daran zu zweifeln vorlagen und die besondere Tatsituation, nämlich der Zwang zu rascher Entscheidung, mitzuberücksichtigen ist (Rengier, in: KK-OWiG, 2.Aufl., § 16 Rdnr. 71).

Außerdem befand sich der Betr. in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum nach § 11 II OWiG, da er durch die Schulungen der Feuerwehr und auf Grund schriftlicher Unterlagen der Polizei der Auffassung war, dass er bei seiner Fahrt Sonderrechte nach § 35 I StVO in Anspruch nehmen könne, wenn er niemanden gefährde, was nach den Feststellungen der Fall war. Es fehlte ihm damit die Einsicht, etwas Unerlaubtes zu tun. Dafür spricht auch, dass er einen Dachaufsatz mit der Aufschrift „Feuerwehr im Einsatz“ auf seinem Pkw angebracht hatte. Weil seine Ansicht auf der Auskunft kompetenter Stellen beruhte, war sein Irrtum nicht vermeidbar.

III. Da der Anwendungsbereich, in dem Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr bei einer alarmbedingten Fahrt im privaten Pkw zum Feuerwehrhaus oder zur Einsatzstelle Sonderrechte grundsätzlich in Anspruch nehmen können, äußerst begrenzt ist, muss es dem Verordnungsgeber vorbehalten bleiben, ob er zur besseren Erkennbarkeit und damit eventuell erweitert und gefahrlos ermöglichen Ausübung der Sonderrechte dem Vorschlag, ein aufsetzbares gelbes Warnblinklicht i.S. des § 38 III StVO auch für derartige Fälle einzuführen, näher tritt (vgl. Schmidt/Buck, BWVPr 1985, 221 [225]).

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht