Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - regelmäßige Arbeitszeit - Berücksichtigung von Überstunden
Gericht
LAG Düsseldorf 5. Kammer
Datum
18. 05. 2000
Aktenzeichen
5 Sa 215/00
Erbringt ein Arbeitnehmer über einen Zeitraum von
mehreren Monaten Arbeitsleistungen in einem zeitlichen
Umfang, der über die tarifliche Wochenarbeitszeit
hinausgeht, so kann es sich bei der tatsächlich
angefallenen Arbeitszeit um die für ihn maßgebende
regelmäßige Arbeitszeit im Sinne des § 4 Abs 1 EFZG
(juris: EntgFG) handeln.
Dies gilt dann nicht, wenn die Mehrarbeit unter besonderen Umständen projektbezogen veranlaßt worden ist und vom Betriebsrat als Überstunden genehmigt worden war.
Orientierungssatz
Revision eingelegt unter dem Aktenzeichen 5 AZR 457/00.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wesel vom 02.12.1999 - 5 Ca 2651/99 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Parteien streiten über die Frage, ob bei der Berechnung der Entgeltfortzahlung des Klägers von ihm geleistete "Mehrarbeit" zu berücksichtigen ist.
Der am 22.03.1961 geborene Kläger ist seit dem 05.10.1994 bei der Beklagten als Vorarbeiter beschäftigt. Sein Bruttostundenlohn beträgt derzeit DM 26,39.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden unter anderem die Bestimmungen des Bundesrahmentarifvertrages für das Bauhauptgewerbe vom 03.02.1981 in der Fassung vom 09.06.1997 (BRTV-Bau) Anwendung. Die für den vorliegenden Rechtsstreit relevanten Bestimmungen des Tarifvertrages lauten:
Arbeitszeit
1.1 Durchschnittliche Wochenarbeitszeit
Die durchschnittliche regelmäßige Wochenarbeitszeit im Kalenderjahr beträgt 39 Stunden.
§ 4
Arbeitsversäumnis und Arbeitsausfall, Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall
2. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, so hat er unter den gesetzlichen Voraussetzungen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die ersten drei krankheitsbedingten Ausfalltage eines Krankheitsfalles in Höhe von 80 % und für die restliche Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen,in Höhe von 100 % des ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelt.
Der Kläger war in der Zeit vom 07.06. bis zum 18.06.1999 arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte gewährte ihm für den vorgenannten Zeitraum Entgeltfortzahlung auf der Basis einer 39-Stunden-Woche. Unter dem 10.08.1999 forderte der Kläger die Beklagte zur Zahlung weiterer DM 1.081,99 brutto auf und bezog sich hierbei auf eine in Ansatz zu bringende Wochenstundenzahl von 60,5 Stunden. Dies lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 17.08.1999 ab.
Mit seiner am 01.09.1999 beim Arbeitsgericht Wesel anhängig gemachten Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er hat die Auffassung vertreten, dass seine regelmäßige Arbeitszeit vor der Arbeitsunfähigkeit im Durchschnitt 60,5 Stunden pro Woche betragen hätte und demgemäß als Grundlage der Entgeltfortzahlung heranzuziehen wäre. § 4 Abs. 1 a EFZG stehe dem nicht entgegen, weil mit dieser Regelung nur zusätzliche Überstundenzuschläge der Berücksichtigung bei der Entgeltfortzahlung entzogen wären.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.081,99 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 13.09.1999 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat darauf verwiesen, dass die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit nach § 3 Nr. 1.2 BRTV-Bau in der Sommerzeit 8 Stunden = 40 Stunden in der Woche betrage, in der Winterzeit wöchentlich 37,5 Stunden. Hieraus folge eine für den Kläger maßgebliche wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden, die bei der Entgeltfortzahlung in Ansatz zu bringen sei.
Es sei zwar richtig, dass der Kläger im fraglichen Zeitraum Mehrarbeit geleistet hätte. Diese Mehrarbeit sei indessen als Überstunden im Sinne des § 4 Abs. 1 a EFZG zu klassifizieren, zumal sie ausdrücklich mit dem Betriebsrat abgestimmt worden wäre. Sie sei deshalb angefallen und vom Betriebsrat auch abgesegnet worden, weil die Beklagte im Rahmen des Baus der neuen ICE-Strecke Köln/Frankfurt tätig geworden sei und durch die Überstunden erreicht würde, dass die Verkehrsstörungen und -behinderungen während der Bauphase möglichst gering gehalten werden könnten.
Mit Urteil vom 02.12.1999 hat die 5. Kammer des
Arbeitsgerichts Wesel
- 5 Ca 2651/99 - die Klage abgewiesen. In den
Entscheidungsgründen, auf die im Übrigen Bezug genommen wird,
hat das Arbeitsgericht ausgeführt, die vom Kläger zugrunde
gelegte Arbeitszeit sei, soweit sie über 39 Stunden pro Woche
hinausgehe, nicht als regelmäßige Arbeitszeit im Sinne des § 4
Abs. 1 EFZG zu charakterisieren. Es handele sich vielmehr um
Überstunden im Sinne des § 4 Abs. 1 a EFZG, der sich im
Übrigen nicht nur auf Überstundenzuschläge beziehe und
insgesamt eine Berücksichtigung der Mehrarbeit bei der
Entgeltfortzahlung untersage. Schließlich finde sich im BRTV-Bau
keine günstigere Regelung im Sinne des § 4 Abs. 4 EFZG, die das
Begehren des Klägers stützen könnte.
Der Kläger hat gegen das ihm am 12.01.2000 zugestellte Urteil mit einem am 14.02.2000 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 14.03.2000 eingegangenen Schriftsatz begründet.
Er wiederholt im Wesentlichen seinen Sachvortrag aus der ersten Instanz und meint auch weiterhin, dass die von ihm geleistete Mehrarbeit als regelmäßige Überstunden anzusehen wären, die auf eine entsprechende Vereinbarung mit dem Betriebsrat zurückgingen. Hiernach ergebe sich eine planmäßige Arbeitszeit von 56 Stunden pro Woche, die als regelmäßige individuelle Arbeitszeit zu gelten hätte. § 4 Abs. 1 a EFZG stehe nicht entgegen, weil dort nur die Überstundenzuschläge angesprochen seien.
Unter Berücksichtigung der dargestellten Wochenarbeitszeit von nunmehr noch 56 Stunden beantragt der Kläger,
unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Wesel vom 02.12.1999 - 5 Ca 2651/99 - abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 844,48 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag ab Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil und wiederholt ebenfalls ihren Sachvortrag aus dem ersten Rechtszug. Sie weist vor allem darauf hin, dass nach der Begründung zum Gesetzentwurf betreffend die Einführung des § 4 Abs. 1 a EFZG auch die Grundvergütung für geleistete Überstunden nicht mehr berücksichtigt werden sollte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der zu den Akten gereichten Urkunden und der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe:
I.
Die Berufung ist zulässig.
Sie ist nämlich an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 ArbGG), nach dem Wert des Beschwerdegegenstandes zulässig (§ 64 Abs. 2 ArbGG) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 ArbGG, 518, 519 ZPO).
II.
In der Sache selbst hatte das Rechtsmittel keinen Erfolg.
Der Kläger hat weder aus § 4 Abs. 1 EFZG noch aus anderen
Rechtsgründen einen Anspruch auf weitere Entgeltfortzahlung in
Höhe von DM 844,48 brutto. Bei den von ihm angesetzten
Mehrarbeitsstunden handelt es sich nicht um solche, die als
maßgebende regelmäßige Arbeitszeit im Sinne des § 4 Abs. 1
EFZG anzusehen ist und deshalb nach § 4 Abs. 1 a EFZG keine
Berücksichtigung finden kann.
1.
§ 4 Abs. 1 EFZG in der ab dem 01.01.1999 geltenden Fassung
knüpft für die Berechnung der Entgeltfortzahlung an der für
den Arbeitnehmer "maßgebenden regelmäßigen
Arbeitszeit" und dem hierfür zustehenden Arbeitsentgelt an.
1.1
Hiernach ist für die Berechnung der Entgeltfortzahlung zunächst
von Bedeutung, dass es nicht auf die allgemein im Betrieb
geltende Arbeitszeit, sondern allein auf die individuelle
Arbeitszeit gerade des erkrankten Arbeitnehmers ankommt. Diese
richtet sich in erster Linie nach dem Arbeitsvertrag, kann sich
aber auch aus Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder
betrieblicher Übung ergeben (herrschende Meinung, vgl. etwa:
Schmitt, Entgeltfortzahlungsgesetz, 4. Aufl., § 4 EFZG, Rz. 15;
Vossen, Entgeltfortzahlung, Rz. 535).
1.2
Unter dem zeitlichen Begriff "regelmäßig" ist
darüber hinaus ein Geschehen zu verstehen, dass nach einer
bestimmten festen Ordnung in gleichmäßigen Abständen und in
gleichförmiger Aufeinanderfolge wiederkehrt. Dabei ist nicht
vorausgesetzt, dass das Geschehen ständig gleichbleibend
verläuft; Schwankungen und Ausnahmen sind möglich. Entscheidend
ist vielmehr die Gleichförmigkeit des Geschehens über eine
bestimmte Zeit hinweg. Der Begriff der Regelmäßigkeit setzt
mithin eine gewisse Stetigkeit und Dauer voraus (BAG, Urteil vom
03.05.1989 - 5 AZR 249/88 - EzA § 2 LFZG Nr. 21). Mit
"regelmäßiger Arbeitszeit" ist demnach die vom
Arbeitnehmer regelgemäß zu leistende Arbeitszeit gemeint, die
nicht nur unter besonderen Voraussetzungen und Umständen
erbracht wird, sondern deren Erbringung vom Arbeitgeber
normalerweise erwartet wird und deshalb als die gewöhnlich zu
leistende anzusehen ist (BSG, Urteil vom 25.06.1999 - B 7 AL
16/98 R - n. v.).
1.3
Im Unterschied zur angesprochenen regelmäßigen Arbeitszeit
umfasst der Begriff der Überstunde jede Arbeit, die ein
Arbeitnehmer über die für sein Arbeitsverhältnis maßgebliche
individuelle Arbeitszeit hinaus leistet (Schmitt, a. a. O., Rz.
97). Von "Überstunden" muss demgemäß dann gesprochen
werden, wenn diese unter besonderen Umständen oder im Einzelfall
anfallen und deren Ableistung vom Arbeitnehmer vertraglich
geschuldet wird. Dem steht allerdings grundsätzlich nicht
entgegen, dass die einzelfallbezogen anfallenden Überstunden
über einen begrenzten Zeitraum mit einiger Regelmäßigkeit
abzuleisten sind (Marienhagen, EFZG, § 4, Rz. 17 c, m. w. N.).
2.
Hiernach handelt es sich bei der streitbefangenen Mehrarbeit um
Überstunden im Sinne des § 4 Abs. 1 a EFZG; die zusätzliche
Arbeitszeit des Klägers stellt nicht die für ihn maßgebende
regelmäßige Arbeitszeit im Sinne des § 4 Abs. 1 EFZG dar.
2.1
Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit für den Kläger
bestimmt sich zunächst nach § 3 Ziff. 1.1 BRTV-Bau, wonach -
bezogen auf einen Jahreszeitraum - eine regelmäßige
wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden gilt.
2.2
Diese tariflich vorgegebene Wochenarbeitszeit ist für den
Kläger in dem hier streitigen Zeitraum nicht abgeändert und auf
56 Stunden erweitert worden. Die über 39 Stunden hinausgehenden
Arbeitszeiten des Klägers bleiben von ihrem Charakter her
Überstunden im Sinne des § 4 Abs. 1 a EFZG.
2.2.1
Für eine derartige Betrachtungsweise spricht zunächst -
allerdings nur indiziell - dass die Lohnabrechnungen des Klägers
die geleistete Mehrarbeit als "Überstunden" mit
entsprechenden Zuschlägen konkret ausweisen. Dies entspricht im
Übrigen auch der tarifvertraglichen Regelung in § 3 Ziff. 5
BRTV-Bau, der die über die tarifliche Arbeitszeit nach § 3 Nr.
1.2 hinausgehende werktägliche Arbeitszeit als Überstunden
klassifiziert.
2.2.2
Auch die Tatsache, dass die vom Kläger geleistete Mehrarbeit auf
eine entsprechende Regelung mit dem Betriebsrat zurückzuführen
ist, belegt die hier vertretene Auffassung, dass es sich um
Überstunden im Sinne des § 4 Abs. 1 a EFZG handelt. Betriebsrat
und Beklagte waren ersichtlich der Auffassung, dass keine
Erhöhung der individuellen Arbeitszeit vorgenommen werden
sollte, die der Mitbestimmung des Betriebsrats - etwa nach § 87
Abs. 1 Ziff. 2 und 3 BetrVG - auch nicht zugänglich gewesen
wäre. Die Betriebspartner verfolgten vielmehr das Ziel,
projektbezogen notwendige Überstunden im Sinne des § 87 Abs. 1
Ziff. 3 BetrVG zu regeln, ohne hierdurch die individuelle,
tariflich vorgesehene Arbeitszeit der einzelnen Arbeitnehmer zu
erhöhen.
2.2.3
Entscheidend nach Auffassung der erkennenden Kammer ist aber vor
allem, dass es sich bei den hier streitigen Arbeitsstunden um
solche handelt, die unter besonderen Umständen angefallen sind
und deshalb nicht als die gewöhnlich vom Arbeitnehmer zu
leistenden Arbeitsstunden anzusehen sind. Nach übereinstimmendem
Sachvortrag beider Parteien waren die Überstunden in der
Vergangenheit notwendig geworden, um die Arbeiten an der
ICE-Strecke so zu gestalten, dass möglichst wenig
Verkehrsbehinderungen auftraten. Es handelt sich demnach um
typische Mehrarbeitsstunden, die einzelfall- und projektbezogen
sind. Dass sie für eine längere Zeit anfallen, ist
rechtsunerheblich, weil sich hierdurch am Charakter der
Projektbezogenheit letztlich nichts ändert.
3.
Wie bereits vom Arbeitsgericht zutreffend erkannt, kann sich der
Kläger nicht darauf berufen, dass nach dem Wortlaut des § 4
Abs. 1 a EFZG nur etwaige gesondert gezahlte
Überstundenzuschläge unberücksichtigt bleiben sollen. Aus der
Begründung zum Gesetzesentwurf des Gesetzes zu Korrekturen in
der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte
(Bundestagsdrucksache 14/45 vom 17.11.1998) ergibt sich
eindeutig, dass durch die Ergänzung in § 4 Abs. 1 a EFZG sowohl
die Grundvergütung als auch die Überstundenzuschläge
zukünftig bei der Berechnung der Entgeltfortzahlung außer
Betracht bleiben sollten.
4.
Schließlich kann sich der Kläger zur Begründung seiner
Forderung auch nicht auf § 4 Abs. 4 EFZG und den dortigen
Verweis auf mögliche günstigere tarifvertragliche Regelungen
berufen. Auch insoweit hat bereits das Arbeitsgericht zutreffend
erkannt, dass die allein in Betracht kommende Regelung des § 4
Ziff. 2 BRTV-Bau keine eigenständige Regelung der maßgebenden
individuellen Arbeitszeit vorsieht, die über die tariflich
vorgesehene Arbeitszeit von 39 Stunden pro Woche hinausgeht. § 4
Ziff. 2 BRTV-Bau regelt vielmehr die Höhe des fortzuzahlenden
Arbeitsentgelts während der Arbeitsunfähigkeit und nimmt im
Übrigen auf die gesetzlichen Vorschriften, also vor allem auch
§ 4 Abs. 1 EFZG, Bezug.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Kammer hat eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bejaht und die Revision zugelassen.
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