Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen - Lehrreiches Urteilsmuster bis hin zur Berücksichtigung der Unternehmenszugehörigkeit

Gericht

LAG Berlin


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

28. 08. 2001


Aktenzeichen

10 Sa 1166/01


Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 25. April 2001 - 43 Ca 1211/01 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

  2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand


Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen, die die Beklagte gegenüber dem seit November 1963 als Kellner zuletzt im Umfang von 20 Wochenstunden beschäftigten, 1942 geborenen Kläger mit Schreiben vom 22.12.2000 zum 31.07.2001 ausgesprochen hat.

Von einer näheren Darstellung des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird unter Bezugnahme auf die dort gewechselten Schriftsätze und den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung abgesehen, § 543 Abs. 1 ZPO.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 25.04.2001 die Kündigung für rechtsunwirksam erkannt. Nach den Grundsätzen der Rechtsprechung zur krankheitsbedingten Kündigung sei sie sozial ungerechtfertigt. Zwar könne eine negative Gesundheitsprognose angenommen werden, die betrieblichen Belastungen seien aber nicht derart hoch, dass sie für die Beklagte unzumutbar seien. Hinzukomme die lange Betriebszugehörigkeit des Klägers; die Beklagte habe versuchen können, dem Kläger eine weniger belastende Tätigkeit zu übertragen. Soweit sie sich teilweise auf verhaltensbedingte Umstände berufen habe (verspätete Krankmeldung), reichten diese - insbesondere im Hinblick auf die lange Betriebszugehörigkeit des Klägers - nicht zur Rechtfertigung einer diesbezüglich ausgesprochenen Kündigung aus. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 74 ff. d. A.) Bezug genommen.

Gegen dieses am 16.05.2001 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten, die sie mit einem beim Landesarbeitsgericht am 11.06.2001 eingegangenen Schriftsatz eingelegt und mit einem beim Landesarbeitsgericht am 11.07.2001 eingegangenen Schriftsatz begründet hat.

Die Beklagte und Berufungsklägerin verweist in der Berufungsinstanz darauf, dass entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts die wirtschaftliche Belastung hoch gewesen sei. Die zu leistenden Entgeltfortzahlungskosten hätten erheblich über den Zumutbarkeitsgrenzen gelegen, die durch das Bundesarbeitsgericht mit sechs Wochen angesetzt würden. Hinzu komme, dass die Beklagte Ersatzkräfte, Leiharbeitnehmer u. ä. habe einsetzen müssen. Dieser Einsatz habe sie pro Stunde zwischen 30 und 32 DM gekostet, so dass zusätzlich 34.572,00 DM an Ersatzkosten für die Ausfallzeiten des Klägers angefallen seien, und zwar nur in der Zeit vom 01.01.2000 bis zum 30.06.2001. Die Fehlzeiten des Klägers beruhten im Übrigen nicht auf den Arbeitsbedingungen und den Tätigkeiten, die er leisten müsse. Im Ergebnis sei festzustellen, dass der Kläger im Jahr 2000 im überwiegenden Teil des Jahres gefehlt habe und seit dem 13.12.2000 ununterbrochen arbeitsunfähig sei. Die negative "Prognose" stelle sich in diesem Zusammenhang als Gewissheit über den weiteren Verlauf der Fehlzeiten und der wirtschaftlichen Belastungen dar.

Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,

unter Abänderung der Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin vom 25.04.2001 - 43 Ca 1211/01 - die Klage abzuweisen.


Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger und Berufungsbeklagte vertritt die Auffassung, die in den Jahren 1997 bis 2000 aufgetretenen Lohnfortzahlungskosten seien nicht als derart außergewöhnlich anzusehen, dass sie die streitbefangene Kündigung sozial rechtfertigen könnten. Lediglich in den Jahren 1997, 1999 und 2000 seien höhere Lohnfortzahlungskosten aufgetreten, diese seien von der Beklagten aber hinzunehmen, was bereits aus dem Lebensalter des Klägers und seiner außergewöhnlich langen Betriebszugehörigkeit folge. Es sei auch darauf zu verweisen, dass der Kläger mit einem Grad der Behinderung von 40 % schwerbehindert sei. Die von der Beklagten dargelegten Zahlen über den Einsatz von Ersatzkräften und die dadurch entstandenen Kosten würden mit Nichtwissen bestritten. Sonstige erhebliche betriebliche Beeinträchtigungen, die für die Beklagte unzumutbar gewesen seien, seien nicht aufgetreten. Die Beklagte habe im Gegenteil den Kläger arbeitsmäßig entlasten müssen. Schließlich könnten für die Prüfung der Rechtfertigung der Kündigung nur diejenigen Zahlen und Umstände mit herangezogen werden, die dem Betriebsrat zuvor mitgeteilt worden seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze der Beklagten und Berufungsklägerin vom 11.07.2001 (Bl. 92 ff. d. A.) und vom 07.08.2001 (Bl. 120 ff. d. A.) und auf diejenigen des Klägers und Berufungsbeklagten vom 23.07.2001 (Bl. 114 ff. d. A.) und vom 17.08.2001 (Bl. 185 ff. d. A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe


Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 u. 2 ArbGG, 511 ZPO statthafte Berufung ist form- und fristgerecht im Sinne von §§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 ArbGG, 518, 519 Abs. 1 u. 3 ZPO eingelegt und begründet worden.

Die Berufung ist daher zulässig.

2. Die Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

Zu Recht hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass die streitgegenständliche Kündigung das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst hat.

2.1 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die Überprüfung einer krankheitsbedingten Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen in drei Stufen vorzunehmen: Danach ist zunächst eine negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes erforderlich. Die bisherigen und nach der Prognose zu erwartenden Auswirkungen des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers müssen weiter zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Sie können durch Störungen im Betriebsablauf oder wirtschaftliche Belastungen hervorgerufen werden. In der dritten Stufe, bei der Interessenabwägung, ist dann zu prüfen, ob die erheblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen (vgl. nur BAG vom 05.07.1990 - 2 AZR 154/90 - EzA Nr. 32 zu § 1 KSchG Krankheit; BAG vom 20.01.2000 - 2 AZR 378/99 - EzA Nr. 47 § 1 KSchG Krankheit, jeweils m. w. N.).

2.2 Die streitgegenständliche Kündigung hielt einer Überprüfung an diesen Grundsätzen nicht stand.

2.2.1 Dabei war zunächst davon auszugehen, dass der Kläger in den Jahren seit 1997 Fehlzeiten in nicht beträchtlichem Umfang aufzuweisen hatte. Diese Fehlzeiten stellen sich - insbesondere im Jahr 2000 - als erheblich dar; die den Fehlzeiten zugrunde liegenden Erkrankungen sind von Art und Häufigkeit her auch geeignet, eine diesbezüglich negative Zukunftsprognose zu rechtfertigen.

2.2.2 In diesem Sinne zu erwartende wirtschaftliche Belastungen der Beklagten mit Entgeltfortzahlungskosten liegen nahe. Der Blick auf die entstandenen Entgeltfortzahlungskosten in den Jahren seit 1997 zeigt, dass für die Beklagte diesbezüglich Kosten entstanden sind, die den Bereich einer sechswöchigen Entgeltfortzahlung überwiegend überschritten haben; dies gilt allerdings nicht für das Jahr 1998, in welchem für die Beklagte Entgeltfortzahlungskosten deutlich unterhalb dieser Grenze von sechs Wochen entstanden sind.

Die Beklagte hat insbesondere in der Berufungsinstanz darauf verwiesen, dass ihre wirtschaftliche Belastung über die Entgeltfortzahlungskosten dadurch hinausgingen, dass Kosten für Ersatzkräfte entstanden seien und weiterhin entstünden. Diese Zahlen sind vom Kläger mit Nichtwissen bestritten worden.

2.3 Von einer Feststellung der diesbezüglichen behaupteten Tatsachen konnte jedoch abgesehen werden, da die streitgegenständliche Kündigung im Rahmen der im Einzelfall vorzunehmenden Interessenabwägung auch bei Zugrundelegung entsprechender Mehrkosten für Ersatzkräfte an der Messlatte der sozialen Rechtfertigung scheitert.

In die auf den Einzelfall bezogen vorzunehmende Interessenabwägung ist zunächst die Prüfung einzubeziehen, ob die Lohnfortzahlungskosten "außergewöhnlich" bzw. "extrem" sein werden (vgl. etwa BAG vom 05.07.1990, a.a.O.). Des Weiteren ist mit einzubeziehen, ob und inwieweit der bisherige Verlauf des Arbeitsverhältnisses störungsfrei war, dabei ist auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter zu berücksichtigen. Weiter ist bei einer krankheitsbedingten Kündigung im Rahmen der Interessenabwägung die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers von den Gerichten stets mit zu berücksichtigen; dies hat das Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 20. Januar 2000 (BAG vom 20.01.2000 - 2 AZR 378/99 - EzA Nr. 47 zu § 1 KSchG Krankheit) erneut betont und herausgestellt. All diese Besonderheiten des Einzelfalles sind zu prüfen und im Rahmen der Interessenabwägung ist festzustellen, ob die betrieblichen Beeinträchtigungen durch die Krankheiten des Arbeitnehmers unter Berücksichtigung dieser Umstände vom Arbeitgeber billigerweise noch hinzunehmen sind oder ihn überfordern.

Eine nach diesen Maßgaben vorgenommene Abwägung der beiderseitigen Interessen führt dazu, dass angesichts der Besonderheiten des Einzelfalls die vorliegend zu erwartenden wirtschaftlichen Belastungen von der Beklagten (noch) hinzunehmen sind.. Die Fehlzeiten des Klägers in den Jahren seit 1997 sind als erheblich einzustufen, erreichen aber in den Jahren 1997 und 1998 nicht ein "exorbitant hohes" Maß. Ein solches ist sicherlich für das Jahr 2000 anzunehmen; allerdings ist für das Jahr 2000 festzustellen, dass die hohe Zahl der Fehltage auch auf einer längeren Erkrankungszeit von Juli bis November 2000 beruhen. Soweit der Kläger seit Dezember 2000 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt war, kann dies für die Prüfung der hier streitgegenständlichen Kündigung mit Zugang 22.12.2000 nur bedingt herangezogen werden.

Auf der anderen Seite steht diesen Feststellungen die ungewöhnlich lange Beschäftigungszeit des Klägers bei der Beklagten entgegen. Der Kläger ist seit November 1963 bei der Beklagten beschäftigt und hat zum Zeitpunkt des Zuganges der Kündigung mithin 37 Beschäftigungsjahre aufzuweisen gehabt; das ist eine - auf den Erfahrungswert der Kammer bezogene - ungewöhnlich lange Zeit. Selbst wenn - wie die Beklagte vorträgt - auch in den Jahren seit 1994 Krankheitszeiten in nicht unerheblichem Umfang aufgetreten sein sollten, fällt diese lange Betriebszugehörigkeit bei der Interessenabwägung im Rahmen der Prüfung einer krankheitsbedingten Kündigung erheblich zugunsten des Klägers ins Gewicht. Berücksichtigt man, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung im 58igsten Lebensjahr steht, so wird deutlich, dass der Kläger seine Zeit der Berufstätigkeit ganz wesentlich bzw. fast ausschließlich bei der Beklagten verbracht hat und dass die Beklagte die Arbeitsleistung des Klägers in Zeiträumen entgegengenommen hat, in denen sich gesundheitliche Beeinträchtigungen kaum darstellen und das Leistungsvermögen besonders hoch ist. Das Maß desjenigen, was die Beklagte bei der sich jetzt dem Ende zuneigenden Berufszeit des Klägers zurechnen lassen muss, wird durch diesen Umstand mitgeprägt. Hat ein Arbeitnehmer - wie hier beginnend mit dem 20igsten Lebensjahr - seine Berufszeit ausschließlich bei dem beklagten Arbeitgeber verbracht, so ist dies im Rahmen der bei einer krankheitsbedingten Kündigung vorzunehmenden Interessenabwägung in einer Weise zu berücksichtigen, dass dem Arbeitgeber im fortgeschrittenen Lebensalter des Arbeitnehmers eine höhere Belastung mit Fehltagen und hieraus entstehenden Kosten zuzumuten ist. So liegen die Dinge im Streitfalle.

Des Weiteren war in der Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass der Kläger immerhin mit einem Grad der Behinderung von 40 % schwerbehindert ist. Auch dies, bezogen auf die konkrete Berufstätigkeit des Klägers, musste zu seinen Gunsten in die Interessenabwägung mit einbezogen werden.

Sicher ist richtig, dass auf Seiten der Beklagten berücksichtigt werden musste, dass sowohl im Jahr 1999 als im Jahr 2000 - nach der Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts - ganz erheblich hohe Entgeltfortzahlungskosten entstanden sind; aber auch unter Hinzurechnung oder wenigstens teilweiser Hinzurechnung der geltend gemachten Kosten für Ersatzkräfte erreichten diese nicht das Maß, das den soeben beschriebenen erheblichen Positionen auf Seiten des Klägers so entgegenstehen würde, dass die Kündigung als sozial gerechtfertigt erschiene.

Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung im Einzelfall war vielmehr festzustellen, dass die Interessen des Klägers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses gerade auch im Hinblick auf sein Lebensalter und die zurückgelegte Beschäftigungszeit überwogen haben.

2.3 Die Kündigung erwies sich mithin als sozial ungerechtfertigt.

3. Die Berufung der Beklagten war daher mit der Folge zurückzuweisen, dass sie die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen hat.

4. Die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG kam nicht in Betracht, da es sich um eine an einem Einzelfall orientierte Entscheidung ohne grundsätzliche rechtliche Bedeutung handelt und eine Divergenz zu anderen obergerichtlichen Entscheidungen nicht erkennbar ist.


Rechtsmittelbelehrung:

Gegen dieses Urteil ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.

Die Beklagte wird auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72a ArbGG hingewiesen.

Schindelhauer Dr. Binkert Slota

Vorinstanzen

ArbG Berlin, 43 Ca 1211/01, 25.4.2001

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht