Gewinnzusagen über die Landesgrenzen hinweg in Europa
Gericht
EuGH
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
11. 07. 2002
Aktenzeichen
C-96/00
1.
Der Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 15. Februar 2000, beim
Gerichtshof eingegangen am 13. März 2000, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971
betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die
gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in
Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung von
Artikel 5 Nummern 1 und 3 und Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3 dieses Übereinkommens
(ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978
über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten
Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderter
Text - S. 77), des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der
Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1), des Übereinkommens vom 26. Mai 1989
über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl.
L 285, S. 1) und des Übereinkommens vom 29. November 1996 über den Beitritt der
Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden (ABl.
1997, C 15, S. 1, im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Verfahren vor dem Obersten
Gerichtshof, das von Herrn Gabriel, einem österreichischen Staatsangehörigen mit
Wohnsitz in Wien (Österreich), zur Bestimmung des Gerichts anhängig gemacht
wurde, das in seinem Wohnsitzstaat für eine Klage gegen eine in Deutschland
niedergelassene Versandhandelsgesellschaft örtlich zuständig ist.
Brüsseler Übereinkommen
3.
Die Zuständigkeitsvorschriften des Brüsseler Übereinkommens sind in
Titel II enthalten, der aus den Artikeln 2 bis 24 besteht.
4.
Artikel 2 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens, der zum 1. Abschnitt
- Allgemeine Vorschriften - des Titels II gehört, enthält folgenden Grundsatz:
Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Übereinkommens sind Personen, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Staates zu verklagen.
5.
Im selben Abschnitt bestimmt Artikel 3 Absatz 1 des Brüsseler
Übereinkommens:
Personen, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Vertragsstaats nur gemäß den Vorschriften des 2. bis 6. Abschnitts verklagt werden.
6.
Die Artikel 5 bis 18 des Brüsseler Übereinkommens, die den 2. bis 6.
Abschnitt des Titels II bilden, enthalten Vorschriften über besondere, zwingende
und ausschließliche Zuständigkeiten.
7.
So bestimmt Artikel 5 im 2. Abschnitt - Besondere Zuständigkeiten -
des Titels II des Brüsseler Übereinkommens:
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden:
...
...
8.
Die Artikel 13 und 14 gehören zum 4. Abschnitt - Zuständigkeit für
Verbrauchersachen - des Titels II des Brüsseler Übereinkommens.
9.
Artikel 13 des Brüsseler Übereinkommens lautet:
Für Klagen aus einem Vertrag, den eine Person zu einem Zweck abgeschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person (Verbraucher) zugerechnet werden kann, bestimmt sich die Zuständigkeit, unbeschadet des Artikels 4 und des Artikels 5 Nummer 5, nach diesem Abschnitt,
Hat der Vertragspartner des Verbrauchers in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats keinen Wohnsitz, besitzt er aber in einem Vertragsstaat eine Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung, so wird er für Streitigkeiten aus ihrem Betrieb so behandelt, wie wenn er seinen Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet dieses Staates hätte.
Dieser Abschnitt ist nicht auf Beförderungsverträge anzuwenden.
10.
Artikel 14 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens bestimmt:
Die Klage eines Verbrauchers gegen den anderen Vertragspartner kann entweder vor den Gerichten des Vertragsstaats erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet dieser Vertragspartner seinen Wohnsitz hat, oder vor den Gerichten des Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.
11.
Von dieser Zuständigkeitsregelung kann nur unter den Voraussetzungen
des Artikels 15 des Brüsseler Übereinkommens abgewichen werden, der ebenfalls im
4. Abschnitt des Titels II steht.
Nationales Recht
12.
Nach § 28 Absatz 1 Ziffer 1 des österreichischen Gesetzes vom 1.
August 1895 über die Ausübung der Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit der
ordentlichen Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen (Jurisdiktionsnorm) (RGBl.
Nr. 111) hat der Oberste Gerichtshof für eine bürgerliche Rechtssache auf Antrag
einer Partei aus den sachlich zuständigen Gerichten ein örtlich zuständiges
Gericht zu bestimmen, wenn die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit
eines inländischen Gerichts im Sinne dieses Gesetzes oder einer anderen
Rechtsvorschrift nicht gegeben sind, Österreich aber aufgrund eines
völkerrechtlichen Vertrages zur Ausübung von Gerichtsbarkeit verpflichtet ist.
13.
Das Brüsseler Übereinkommen ist ein völkerrechtlicher Vertrag im
Sinne dieser Vorschrift.
14.
§ 5j des österreichischen Konsumentenschutzgesetzes (KSchG) (BGBl. I
Nr. 140/1979) lautet:
Unternehmer, die Gewinnzusagen oder andere vergleichbare Mitteilungen an bestimmte Verbraucher senden und durch die Gestaltung dieser Zusendungen den Eindruck erwecken, dass der Verbraucher einen bestimmten Preis gewonnen habe,haben dem Verbraucher diesen Preis zu leisten; er kann auch gerichtlich eingefordert werden.
15.
Diese Bestimmung wurde anlässlich der Umsetzung der Richtlinie
97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den
Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (ABl. L 144, S. 19)
durch Artikel IV des österreichischen Fernabsatz-Gesetzes (BGBl. I Nr. 185/1999)
in das Konsumentenschutzgesetz eingefügt.
16.
Sie ist am 1. Oktober 1999 in Kraft getreten.
17.
Der Oberste Gerichtshof führt in seinem Vorlagebeschluss aus, dass
ein Verbraucher, der dadurch in die Irre geführt worden sei, dass sich der
Gewerbetreibende mit ihm persönlich in Verbindung gesetzt und bei ihm den
Eindruck erweckt habe, dass er einen Preis gewonnen habe, während die Dinge erst
im Kleingedruckten, an unauffälliger Stelle und schwer verständlich klargestellt
würden, durch § 5j KSchG ein Klagerecht erhalten solle, um eine solche
Gewinnzusage gerichtlich einzufordern.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
18.
Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, dass die Schlank
& Schick GmbH (im Folgenden: Schlank & Schick), eine Gesellschaft
deutschen Rechts mit Sitz in Lindau (Deutschland), Versandhandelsgeschäfte
insbesondere in Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien und der Schweiz
betreibt.
19.
Im Oktober 1999 erhielt Herr Gabriel von Schlank & Schick mehrere
an ihn persönlich adressierte Zuschriften in verschlossenem Umschlag, die nach
seinem Vorbringen den Eindruck erweckt hätten, er habe in einem Gewinnspiel ein
Bargeldguthaben von 49 700 ATS gewonnen, das er nur noch anzufordern brauche;
die einzige Bedingung sei gewesen, dass er bei Schlank & Schick gleichzeitig
Waren zu einem Mindestbestellwert von 200 ATS kaufe, die aus einem mit den
Zuschriften übersandten Katalog auszuwählen und in einen ebenfalls beigefügten
Bestellschein einzutragen gewesen seien.
20.
In den Anschreiben hieß es: Sehr geehrter Herr Rudolf Gabriel, Sie
haben noch immer nicht Ihr Bargeldguthaben angefordert ... Wollen Sie Ihr Geld
denn wirklich verfallen lassen? ... Noch haben Sie ein Anrecht auf Ihr Guthaben,
aber jetzt müssen Sie wirklich schnell reagieren! In dem beiliegenden Brief von
European Credit wird alles näher erklärt ... P.S.: Als Beweis für Sie, Herr
Gabriel, habe ich die Quittung über die Einzahlung beigelegt. Sie haben 100%ig
Anrecht auf Ihr Bargeldguthaben, sofern Sie auch unverbindlich Ware anfordern.
21.
Diesen Anschreiben lagen ein Schreiben mit dem Briefkopf European
Credit und der Überschrift Offizielle Einzahlungsbestätigung sowie die Kopie
einer Quittung und das Faksimile eines Sparbuchs bei, die beide über 49 700 ATS
auf den Namen von Herrn Gabriel ausgestellt waren. In diesem Schreiben hieß es:
Sehr geehrter HerrRudolf Gabriel, hiermit bestätigen wir Ihnen nochmals die
Einzahlung des Bargeldguthabens in einer Gesamthöhe von S 49.700,- auf unser
Konto. Eine Quittung haben wir extra für Sie in einer Zweitausfertigung
beigefügt. Um nun Ihre Chance zu nutzen und die Auszahlung der Summe von S
49.700,- zu beschleunigen, brauchen Sie nur die Zweitausfertigung der Quittung
zusammen mit Ihrer unverbindlichen Testanforderung an uns einsenden ... Nun
steht der Auszahlung nichts mehr im Wege. Damit Sie Ihr Geld so schnell wie
möglich erhalten, schicke ich Ihnen nach Eingang der Quittung einfach einen
Scheck zu. Den können Sie dann ganz bequem bei einem Geldinstitut Ihrer Wahl
einlösen.
22.
Aus relativ klein gedruckten, zum Teil auf der Rückseite der Herrn
Gabriel zugesandten Schriftstücke enthaltenen Hinweisen ergibt sich jedoch, dass
die 49 700 ATS keine verbindliche Gewinnzusage von Schlank & Schick
darstellten.
23.
So wurde auf der Rückseite des Schreibens der European Credit unter
der Überschrift Vergabebedingungen u. a. ausgeführt, dass die Teilnahme an dem
deutschem Recht unterliegenden Gewinnspiel von einer unverbindlichen
Testbestellung abhängig sei, dass der Einsendeschluss für diese Aktion der 30.
November 1999 sei und dass der Rechtsweg ausgeschlossen sei. Außerdem hieß es
darin, dass die Ziehung von dem Versandhaus durchgeführt worden sei, dass
Bargeldpreise als unterschiedliche Teilwerte zur mehrfach aufgeteilten
Auszahlung kämen, bestimmt durch die Zahl der mit ordnungsgemäß ausgefüllten
Bestellschein an den Veranstalter zurückgesandten Quittungsbelege, und dass
Guthaben unter einem Wert von 35 ATS aus Kostengründen nicht ausgeschüttet
würden, sondern in einen Jackpot kämen, der bei einer späteren Ziehung zum
Einsatz komme.
24.
Herr Gabriel sandte die betreffenden Dokumente ordnungsgemäß
ausgefüllt an Schlank & Schick zurück, um den versprochenen Gewinn
anzufordern, und bestellte Artikel aus deren Katalog im Wert von mehr als den
verlangten 200 ATS.
25.
Schlank & Schick lieferte Herrn Gabriel daraufhin die bestellten
Waren, ohne ihm jedoch die 49 700 ATS auszuzahlen, die er seiner Meinung nach
gewonnen hatte.
26.
Herr Gabriel beschloss daher, Schlank & Schick nach § 5j KSchG
auf Zahlung dieses Betrages samt Anhang zu verklagen.
27.
Da Herr Gabriel diese Klage nach Artikel 14 Absatz 1 des Brüsseler
Übereinkommens in Österreich - dem Staat, in dessen Hoheitsgebiet er seinen
Wohnsitz hat - erheben wollte, die österreichischen Zuständigkeitsvorschriften
seiner Meinung nach aber für eine solche Klage keine örtliche Zuständigkeit
vorsehen, beantragte er vor Einreichung seiner Klage nach § 28 Absatz 1 Ziffer 1
des österreichischen Gesetzes vom 1. August 1895 beim Obersten Gerichtshof die
Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit.
28.
Der Oberste Gerichtshof ist der Auffassung, die von Herrn Gabriel
beabsichtigte Klage falle zwar offenbar unter § 5j KSchG, doch hänge die Frage,
ob seinemOrdinationsantrag stattzugeben sei, von der Qualifizierung der Klage
ab, die er gegen Schlank & Schick erheben wolle.
29.
Sollte sich diese Klage nämlich auf einen Verbrauchervertrag im Sinne
von Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3 des Brüsseler Übereinkommens beziehen, wäre ein
örtlich zuständiges Gericht zu bestimmen, da das Brüsseler Übereinkommen dem
Verbraucher nur ermögliche, vor den Gerichten des Vertragsstaats, in dessen
Hoheitsgebiet er seinen Wohnsitz habe, Klage zu erheben, nicht aber unmittelbar
bestimme, welches Gericht dieses Staates für die Klage zuständig sei.
30.
Dagegen wäre der Ordinationsantrag gegenstandslos, falls der Anspruch
von Herrn Gabriel als Anspruch aus einem Vertrag nach Artikel 5 Nummer 1 des
Brüsseler Übereinkommens oder als Anspruch aus unerlaubter Handlung oder einer
Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt sei, nach Artikel 5
Nummer 3 zu qualifizieren wäre, weil diese Vorschriften das örtlich zuständige
Gericht in der Weise genau bestimmten, dass das Gericht des Erfüllungsortes der
relevanten vertraglichen Verpflichtung bzw. das Gericht an dem Ort zuständig
sei, an dem das schädigende Ereignis eingetreten sei.
31.
Da der Oberste Gerichtshof der Ansicht ist, dass die Entscheidung
über den bei ihm gestellten Antrag von Herrn Gabriel unter diesen Umständen von
der Auslegung des Brüsseler Übereinkommens abhängt, hat er das Verfahren
ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist der in § 5j des österreichischen Konsumentenschutzgesetzes ... in der Fassung des Artikels I Z 2 des österreichischen Fernabsatz-Gesetzes ... den Verbrauchern eingeräumte Anspruch, von Unternehmern den scheinbar gewonnenen Preis gerichtlich einfordern zu können, wenn letztere Gewinnzusagen oder andere vergleichbare Mitteilungen an bestimmte Verbraucher senden (gesendet haben) und durch die Gestaltung dieser Zusendungen den Eindruck erwecken (erweckt haben), dass der Verbraucher einen bestimmten Preis gewonnen habe, im Sinne des Brüsseler Übereinkommens ...
Zur Vorlagefrage
32.
Vor dem Hintergrund des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens ist die
Vorlagefrage so zu verstehen, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll,
ob nach den Zuständigkeitsvorschriften des Brüsseler Übereinkommens eine Klage,
mit der ein Verbraucher in dem Vertragsstaat, in dessen Hoheitsgebiet er seinen
Wohnsitz hat, nach dem Recht dieses Staates von einer in einem anderen
Vertragsstaat niedergelassenen Versandhandelsgesellschaft die Herausgabe eines
Gewinnes verlangt, wenn er von dieser Gesellschaft eine an ihn persönlich
adressierte Zusendung erhalten hat, die den Eindruck erweckt hat, dass er einen
Preis erhalten werde, sofern er für einen bestimmten Betrag Waren bestellt, und
er in seinem Wohnsitzstaat tatsächlich eine solche Bestellung aufgegeben hat,
ohne jedoch diesen Gewinn zu erhalten, als Klage aus Vertrag nach Artikel 5
Nummer 1 des Übereinkommens oder Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3 des Übereinkommens
oder aber als Klage aus unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer
unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, nach Artikel 5 Nummer 3 des
Übereinkommens zu qualifizieren ist.
33.
Zur Beantwortung der so umformulierten Frage ist vorab darauf
hinzuweisen, dass sich der Begriff der unerlaubten Handlung oder einer Handlung,
die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, im Sinne von Artikel 5 Nummer
3 des Brüsseler Übereinkommens nach ständiger Rechtsprechung auf alle nicht an
einen Vertrag im Sinne von Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens
anknüpfenden Klagen bezieht, mit denen eine Schadenshaftung des Beklagten
geltend gemacht wird (vgl. insbesondere Urteile vom 27. September 1988 in der
Rechtssache 189/87, Kalfelis, Slg. 1988, 5565, Randnr. 17, vom 26. März 1992 in
der Rechtssache C-261/90, Reichert und Kockler, Slg. 1992, I-2149, Randnr. 16,
und vom 27. Oktober 1998 in der Rechtssache C-51/97, Réunion européenne u. a.,
Slg. 1998, I-6511, Randnr. 22).
34.
Daher ist zunächst zu prüfen, ob eine Klage wie die im
Ausgangsverfahren in Rede stehende als Klage aus einem Vertrag zu qualifizieren
ist.
35.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich Artikel 5 Nummer 1 des
Brüsseler Übereinkommens allgemein auf Klagen aus Vertrag bezieht, während
Artikel 13 des Übereinkommens bestimmte Arten von Verträgen erfasst, die ein
Verbraucher geschlossen hat.
36.
Da Artikel 13 des Brüsseler Übereinkommens somit lex specialis
gegenüber Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens ist, ist zunächst festzustellen,
ob eine Klage mit den in der umformulierten Vorlagefrage genannten
charakteristischen Merkmalen unter Artikel 13 des Übereinkommens fällt.
37.
Nach ständiger Rechtsprechung sind die in Artikel 13 des Brüsseler
Übereinkommens verwendeten Begriffe autonom auszulegen, wobei in erster Linie
die Systematik und die Zielsetzung des Übereinkommens zu berücksichtigen sind,
um dessen volle Wirksamkeit zu sichern (vgl. insbesondere Urteile vom 21. Juni
1978 in der Rechtssache 150/77, Bertrand, Slg. 1978, 1431, Randnrn. 14 bis 16,
vom 19. Januar 1993 in der Rechtssache C-89/91, Shearson Lehman Hutton, Slg.
1993, I-139, Randnr.13, vom 3. Juli 1997 in der Rechtssache C-269/95, Benincasa,
Slg. 1997, I-3767, Randnr. 12, und vom 27. April 1999 in der Rechtssache
C-99/96, Mietz, Slg. 1999, I-2277, Randnr. 26).
38.
Schon aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt sich, dass sie nur
Anwendung findet, sofern sich die Klage allgemein auf einen Vertrag bezieht, den
ein Verbraucher zu einem Zweck abgeschlossen hat, der nicht seine berufliche
oder gewerbliche Tätigkeit betrifft.
39.
Aus dieser Formulierung sowie aus der Funktion der durch den 4.
Abschnitt des Titels II des Brüsseler Übereinkommens geschaffenen
Sonderregelung, die darin besteht, dem Verbraucher als dem gegenüber seinem
beruflich oder gewerblich handelnden Kontrahenten wirtschaftlich schwächeren und
rechtlich weniger erfahrenen Vertragspartner einen angemessenen Schutz zu
sichern, folgt, dass sich die Vorschriften dieses Abschnitts nur auf den nicht
berufs- oder gewerbebezogen handelnden privaten Endverbraucher beziehen, der
eine der drei in Artikel 13 des Brüsseler Übereinkommens aufgeführten Arten von
Verträgen geschlossen hat und nach Artikel 14 des Übereinkommens außerdem
persönlich Partei in einem Rechtsstreit ist (vgl. Urteil Shearson Lehman Hutton,
Randnrn. 19, 20, 22 und 24).
40.
In Bezug auf Verträge, die die Erbringung einer Dienstleistung oder
die Lieferung beweglicher Sachen zum Gegenstand haben - und keine
Beförderungsverträge sind, die nach Artikel 13 Absatz 3 des Brüsseler
Übereinkommens vom Anwendungsbereich des 4. Abschnitts des Titels II
ausgeschlossen sind -, sieht Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3 des Brüsseler
Übereinkommens die beiden zusätzlichen Anwendungsvoraussetzungen vor, dass dem
Vertragsschluss im Wohnsitzstaat des Verbrauchers ein ausdrückliches Angebot
oder eine Werbung vorausgegangen ist und dass der Verbraucher in diesem Staat
die zum Abschluss des Vertrages erforderlichen Rechtshandlungen vorgenommen hat.
41.
Wie sich aus dem Bericht von P. Schlosser zu dem Übereinkommen des
Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland über den Beitritt zum Brüsseler Übereinkommen (ABl. 1979, C 59, S.
71, 118) ergibt, sollen diese beiden kumulativen Voraussetzungen gewährleisten,
dass eine enge Verbindung zwischen dem fraglichen Vertrag und dem Staat besteht,
in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.
42.
Zur Bedeutung der zur Formulierung dieser Voraussetzungen verwendeten
Begriffe verweist Schlosser auf Seite 119 seines Berichts auf den Bericht von M.
Giuliano und P. Lagarde über das Übereinkommen über das auf vertragliche
Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (ABl. 1980, C 282, S. 1), das am 19. Juni
1980 in Rom zur Unterzeichnung aufgelegt wurde (ABl. L 266, S. 1, im Folgenden:
Römisches Übereinkommen), da dessen Artikel 5 zu Verbraucherverträgen in Absatz
2 erster Gedankenstrich zwei Voraussetzungen enthält, zu deren Formulierung
dieselben Begriffe verwendet werden wie in Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3
Buchstaben a und b des Brüsseler Übereinkommens.
43.
Aus dem Bericht von M. Giuliano und P. Lagarde ergibt sich, dass
diese Vorschrift des Römischen Übereinkommens die Fälle, in denen der Kaufmann
Schritte unternommen hat, um seine beweglichen Sachen oder Dienstleistungen in
dem Land zum Verkauf anzubieten, in dem sich der Verbraucher aufhält, sowie
insbesondere Versandgeschäfte und den Detailreisehandel erfassen soll (vgl. den
genannten Bericht, S. 24).
44.
Die Begriffe Werbung und ausdrückliches Angebot in der Formulierung
der ersten dieser Voraussetzungen, die dem Brüsseler und dem Römischen
Übereinkommen gemeinsam sind, umfassen alle Formen der Werbung in dem
Vertragsstaat, in dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, unabhängig davon, ob
sie allgemein - über Presse, Radio, Fernsehen, Kino oder in anderer Weise -
verbreitet oder unmittelbar, z. B. mit speziell in diesen Staat geschickten
Katalogen, an den Empfänger gerichtet wird, und Angebote, die dem Verbraucher
persönlich, insbesondere durch einen Vertreter oder Hausierer, unterbreitet
werden.
45.
Bei der zweiten dieser Voraussetzungen bezieht sich der Ausdruck zum
Abschluss des Vertrages erforderlichen Rechtshandlungen auf jede schriftliche
Rechtshandlung und jeden anderen Schritt des Verbrauchers in seinem
Wohnsitzstaat, in denen sein Wille, der Aufforderung des Gewerbetreibenden Folge
zu leisten, zum Ausdruck kommt.
46.
Es ist festzustellen, dass in einem Fall wie dem des
Ausgangsverfahrens alle diese Voraussetzungen erfüllt sind.
47.
Erstens hat Herr Gabriel im vorliegenden Fall unstreitig die
Eigenschaft eines von Artikel 13 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens erfassten
privaten Endverbrauchers, da sich aus den Akten ergibt, dass er von Schlank
& Schick angebotene Waren für seinen persönlichen Gebrauch bestellt hat,
ohne dass dieses Geschäft irgendeine Verbindung zu seiner beruflichen oder
gewerblichen Tätigkeit aufweist.
48.
Zweitens besteht in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens
zwischen dem Verbraucher und dem gewerbsmäßigen Verkäufer unbestreitbar eine
Vertragsbeziehung, da Herr Gabriel Waren, die von Schlank & Schick angeboten
wurden, bestellt hat, womit er die Annahme des Angebots - einschließlich aller
damit verbundenen Bedingungen - erklärt hat, das Schlank & Schick an ihn
persönlich gerichtet hatte.
49.
Überdies sind durch diese Willenseinigung der beiden Parteien
gegenseitige, von einander abhängende Pflichten im Rahmen eines Vertrages
entstanden, der sich auf einen der in Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3 des Brüsseler
Übereinkommens genannten Gegenstände bezieht.
50.
Dieser Vertrag betrifft nämlich in einem Fall wie dem des
Ausgangsverfahrens die im Wege des Versandhandels erfolgende Lieferung
beweglicher Sachen, die derVerbraucher aufgrund eines Angebots des Verkäufers zu
einem von diesem bestimmten Preis bestellt hat.
51.
Drittens sind auch die beiden spezifischen Voraussetzungen des
Artikels 13 Absatz 1 Nummer 3 Buchstaben a und b des Brüsseler Übereinkommens
erfüllt.
52.
Der Verkäufer hat sich nämlich in dem Vertragsstaat, in dem der
Verbraucher seinen Wohnsitz hat, an diesen gewandt, indem er ihm mehrere an ihn
persönlich adressierte Schreiben zusammen mit einem Verkaufskatalog und einem
Bestellschein zugesandt hat, um ihn dazu zu bringen, auf der Grundlage dieser
Angebote und der mit ihnen verbundenen Bedingungen einen Vertrag zu schließen,
und der Verbraucher hat auf diese Zusendungen hin in diesem Staat die zum
Abschluss des Vertrages erforderlichen Schritte unternommen, indem er die
Bestellung über den vom Verkäufer verlangten Betrag vorgenommen und ihm den
Bestellschein mit der Zweitausfertigung der Quittung übersandt hat.
53.
Hat daher ein Verbraucher an seinem Wohnsitz eine oder mehrere
Zusendungen eines gewerbsmäßigen Verkäufers erhalten, die zu einer Bestellung
der von diesem zu bestimmten Bedingungen angebotenen Waren führen sollen, und
hat er in dem Vertragsstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, tatsächlich eine
solche Bestellung aufgegeben, so stellt die Klage, mit der er von diesem
Verkäufer die Herausgabe eines scheinbar gewonnenen Preises verlangt, eine Klage
aus einem Verbrauchervertrag im Sinne von Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3 des
Brüsseler Übereinkommens dar.
54.
Wie sich nämlich aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden
Akten ergibt, ist das Klagerecht des Verbrauchers eng mit dem zwischen den
Parteien geschlossenen Vertrag verbunden, da in einem Fall wie dem des
Ausgangsverfahrens die Schreiben, die der Gewerbetreibende an diesen Verbraucher
gesandt hat, eine untrennbare Verbindung zwischen der Gewinnzusage und der
Warenbestellung herstellen, die der Verkäufer - gerade um den Verbraucher zum
Vertragsschluss zu bewegen - als Vorbedingung für den Erhalt des versprochenen
Gewinnes dargestellt hat. Außerdem hat der Verbraucher den Kaufvertrag über
Waren im Wesentlichen, wenn nicht ausschließlich, aufgrund des Angebots des
Verkäufers geschlossen, das die Zusage eines Gewinnes von weit höherem Wert als
des für die Bestellung erforderlichen Mindestbetrags enthielt, und der
Verbraucher hat zudem alle von dem Gewerbetreibenden aufgestellten Bedingungen
erfüllt, womit er dessen Angebot in seiner Gesamtheit angenommen hat.
55.
Daher muss die Klage, mit der der Verbraucher in dem Vertragsstaat,
in dessen Hoheitsgebiet er seinen Wohnsitz hat, von einer in einem anderen
Vertragsstaat niedergelassenen Versandhandelsgesellschaft die Herausgabe eines
scheinbar gewonnenen Preises verlangt, bei demselben Gericht erhoben werden
können, das für eine Entscheidung über den von diesem Verbraucher geschlossenen
Vertrag zuständig ist.
56.
Artikel 13 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens kann nämlich nicht
dahin ausgelegt werden, dass nur bestimmte Ansprüche aus einem
Verbrauchervertrag unter die Zuständigkeitsvorschriften der Artikel 13 bis 15
des Übereinkommens fallen, während andere Klagen, die zu diesem Vertrag eine so
enge Verbindung aufweisen, dass sie von ihm nicht getrennt werden können, unter
andere Vorschriften fielen.
57.
Der Gerichtshof hat vor kurzem auf die Notwendigkeit hingewiesen,
eine Häufung der Gerichtsstände zu vermeiden (vgl. sinngemäß zu Artikel 5 Nummer
1 des Brüsseler Übereinkommens Urteil vom 19. Februar 2002 in der Rechtssache
C-256/00, Besix, Slg. 2002, I-1699, Randnr. 27).
58.
Diese Notwendigkeit besteht aber erst recht, wenn es sich um einen
Vertrag wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden handelt. Angesichts der
Tatsache, dass es bei einer Häufung der Gerichtsstände dazu kommen kann, dass
insbesondere eine als schwach angesehene Partei wie der Verbraucher
benachteiligt ist, muss dieser Verbraucher im Interesse einer geordneten
Rechtspflege ein und dasselbe Gericht - im vorliegenden Fall das Gericht seines
Wohnsitzes - mit allen Streitfragen befassen können, zu denen ein Vertrag führen
kann, zu dessen Abschluss er dadurch veranlasst wurde, dass der Gewerbetreibende
Formulierungen verwendet hat, die den Vertragspartner in die Irre führen können.
59.
Eine Klage, wie sie Herr Gabriel bei dem zuständigen nationalen
Gericht zu erheben beabsichtigt, fällt somit unter Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3
des Brüsseler Übereinkommens; daher braucht nicht geprüft zu werden, ob sie
unter Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens fällt.
60.
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass nach den
Zuständigkeitsvorschriften des Brüsseler Übereinkommens eine Klage, mit der ein
Verbraucher in dem Vertragsstaat, in dessen Hoheitsgebiet er seinen Wohnsitz
hat, nach dem Recht dieses Staates von einer in einem anderen Vertragsstaat
niedergelassenen Versandhandelsgesellschaft die Herausgabe eines Gewinnes
verlangt, wenn er von dieser Gesellschaft eine an ihn persönlich adressierte
Zusendung erhalten hat, die den Eindruck erweckt hat, dass er einen Preis
erhalten werde, sofern er für einen bestimmten Betrag Waren bestellt, und er
tatsächlich eine solche Bestellung aufgegeben hat, ohne jedoch diesen Gewinn zu
erhalten, als Klage aus Vertrag nach Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3 des
Übereinkommens zu qualifizieren ist.
Kosten
61.
Die Auslagen der österreichischen und der deutschen Regierung sowie
der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein
Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
auf die ihm vom Obersten Gerichtshof mit Beschluss vom 15. Februar 2000 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Nach den Zuständigkeitsvorschriften des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland, des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik und des Übereinkommens vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden ist eine Klage, mit der ein Verbraucher in dem Vertragsstaat, in dessen Hoheitsgebiet er seinen Wohnsitz hat, nach dem Recht dieses Staates von einer in einem anderen Vertragsstaat niedergelassenen Versandhandelsgesellschaft die Herausgabe eines Gewinnes verlangt, wenn er von dieser Gesellschaft eine an ihn persönlich adressierte Zusendung erhalten hat, die den Eindruck erweckt hat, dass er einen Preis erhalten werde, sofern er für einen bestimmten Betrag Waren bestellt, und er tatsächlich eine solche Bestellung aufgegeben hat, ohne jedoch diesen Gewinn zu erhalten, als Klage aus Vertrag nach Artikel 13 Absatz 1 Nummer 3 des Übereinkommens zu qualifizieren.
Macken
Gulmann
Schintgen
Skouris Cunha Rodrigues
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. Juli 2002.
Der Kanzler
R. Grass
Die Präsidentin der Sechsten Kammer
F. Macken
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