Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit
Gericht
SG Koblenz
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
16. 05. 2000
Aktenzeichen
S 2 U 275/98
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen Lendenwirbelsäulenerkrankungen als Berufskrankheit zu entschädigen sind.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Der Kl. begehrt von der Bekl. Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Zwischen den Bet. ist streitig, ob er an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten sowie durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung (Berufskrankheit Nr 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV)) leidet.
Der 1949 geborene Kl. ist gelernter Zimmermann und seit April 1963 zunächst als Zimmermannslehrling, dann als Zimmermannsgeselle und seit 1. 1. 1976 als selbständiger Zimmerermeister tätig.
Im Januar 1997 beantragte er die Feststellung einer Berufskrankheit und gab an, seit Anfang 1997 unter Lendenwirbelsäulenbeschwerden verstärkt zu leiden. Die Bekl. holte daraufhin eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. K. ein, der darlegte, es sei notwendig, die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Berufskrankheit nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV zu überprüfen.
In seiner Stellungnahme vom 12. 9. 1997 teilte der Technische Aufsichtsdienst der Bekl. mit, er sehe die arbeitstechnischen Voraussetzungen für das Entstehen einer Berufskrankheit nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV als gegeben an.
Daraufhin beauftragte die Bekl.Dr. W. mit der Erstellung eines medizinischen Sachverständigengutachtens. Dieser führte in seinem Gutachten vom 10. 12. 1997 aus, eine Berufskrankheit liege beim Kl. nicht vor, da seine Wirbelsäule nahezu gleich starke Veränderungen im Bereich der Hals- und der Lendenwirbelsäule aufweise sowie krankhafte Veränderungen im Bereich der Brustwirbelsäule.
Die Bekl. lehnte daraufhin die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus Anlass der vom Kl. geltend gemachten Wirbelsäulenerkrankung ab. Der Widerspruch des Kl. wurde zurückgewiesen. Die Klage hatte Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
Nach § 9 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheit bezeichnet und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleidet. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann hierbei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch die Arbeit in bestimmten Unternehmen verursacht worden sind. Für die Berufskrankheiten gelten die für Arbeitsunfälle maßgebenden Vorschriften entsprechend (§ 7 SGB VII).
Seit dem 1. 1. 1993 können unter bestimmten Voraussetzungen Lendenwirbelsäulenerkrankungen als Berufskrankheit entschädigt werden (2. Verordnung zur Änderung der BKV vom 18. 12. 1992, BGBl I, S 23 und 43). Die betreffenden Verordnungsbestimmungen entsprechen rechtsstaatlichen Grundsätzen. Insbesondere sind sie hinreichend bestimmt.
In der neuen Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV hat der Verordnungsgeber bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, als Berufskrankheit bezeichnet.
Der Kl. muss danach zunächst einer beruflichen Belastung in der oben beschriebenen Form ausgesetzt gewesen sein. Zudem muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule vorliegen. Diese muss mit Wahrscheinlichkeit in einem ursächlichen Zusammenhang mit der beruflichen Belastung des Kl. stehen. Schließlich muss der Kl. die schädigende Tätigkeit objektiv aufgegeben haben.
Eine Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs liegt nur vor, wenn beim vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann. Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Unfallversicherung, § 9 SGB VII, Anm 10.1 mwN).
Nach den derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen sind ua folgende Voraussetzungen für eine beruflich bedingte Verursachung von Bandscheibenschäden zu erfüllen:
Gegen eine berufliche Verursachung der bandscheibenbedingten
Veränderungen sprechen vor allen Dingen folgende Umstände:
(vgl zuletzt Pöhl, Eilebrecht, Dr. Hax und Dr. Römer,
Zusammenhangsbeurteilung bei den bandscheibenbedingten
Wirbelsäulenerkrankungen, BG 1997, S 670ff mwN).
Im vorliegenden Fall erfüllt der Kl. die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV. Die Kammer stützt diese Feststellung auf die Stellungnahme des TAD der Bekl. vom 12. 9. 1997. Außerdem leidet er an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Diese ist auch auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen. Die Kammer stützt sich in dieser Beurteilung vor allem auf die Gutachten des Dr. M. und des Dr. A. Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule liegt beim Kl. beginnend mit dem Segment L 2 vor. Es finden sich Bandscheibenvorfälle sowie eine Protrusion in 3 Segmenten, und zwar von kaudal nach cranial abnehmend. Dies entspricht einem belastungstypischen Schadensbild, wobei die Segmente L 4/L 5 und L 5/S 1, was die degenerativen Veränderungen angeht, bevorzugt geschädigt sind. Auch von Seiten des klinisch orthopädischen Befundes stehen die Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule mehr segmental mit rezidivierenden Wurzelerscheinungen nach rechtsseitig im Vordergrund. Die Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule des Kl. überschreiten auch eindeutig und überwiegend das alterstypische Ausmaß.
Zwar weist auch die Halswirbelsäule des Kl. degenerative Veränderung auf. Diese Veränderungen sind jedoch weniger stark ausgeprägt als diejenigen im Bereich der Lendenwirbelsäule. Die Beweglichkeit der Halswirbelsäule ist entsprechend den nachgewiesenen Veränderungen nur endgradig eingeschränkt. Eine erhebliche schmerzhafte Bewegungseinschränkung oder eine erhebliche lokale Schmerzhaftigkeit lässt sich im Bereich der Halswirbelsäule im Gegensatz zur Lendenwirbelsäule nicht nachweisen. Der Zustand nach Morbus Scheuermann tritt nach Auffassung des Sachverständigen Dr. M. gegenüber der berufsbedingt anzunehmenden Überbelastung des Kl. in den Hintergrund.
Somit sprechen nach Abwägung aller Umstände letztlich mehr für als gegen eine berufliche Mitverursachung des Bandscheibenschadens im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule des Kl.. Dies entspricht auch der Einschätzung des Sachverständigen Dr. A.
Es ist im Übrigen nicht ersichtlich, dass die Sachverständigen von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind, gegen Denkgesetze verstoßen oder gesicherte Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft außer Acht gelassen haben.
Vielmehr handelt es sich bei dem Sachverständigen Dr. M. um einen Gutachter, der über eine langjährige Erfahrung hinsichtlich der Beurteilung von Wirbelsäulenveränderungen verfügt und die Frage eines vorauseilenden Verschleißes kompetent beantworten kann.
Beim Kl. war demzufolge das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Ziff 2108 der Anlage 1 zur BKV festzustellen. Da bei ihm als Folge der Berufskrankheit eine deutliche Bewegungseinschränkung der gesamten Lendenwirbelsäule und des thorakolumbalen Überganges mit rezidivierenden schmerzhaften Muskelreizerscheinungen und ischialgieformen Beschwerdebildern vorliegt, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH erreicht, war dem Kl. auch die begehrte Verletztenrente zu gewähren. Gemäß § 56 SGB VII haben nämlich Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist, Anspruch auf eine Rente.
Aus alledem folgt, dass der Klage stattzugeben war.
Kanzlei Prof. Schweizer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH © 2020
Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen