Überlange Dauer eines Zivilprozesses
Gericht
BVerfG
Art der Entscheidung
Beschluss
Datum
20. 07. 2000
Aktenzeichen
1 BvR 352/00
Der aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) folgende Anspruch auf Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes kann durch eine außergewöhnlich langen Verfahrensdauer verletzt sein.
Ist darüber hinaus das Verfahrens für die wirtschaftliche Existenz eines Beteiligten von großer Bedeutung, ist das Gericht verpflichtet sämtliche zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung zu nutzen. Hierzu gehört auch und das Bemühen um eine gerichtsinterne Entlastungsmaßnahme.
Nachdem das LG die Klage abgewiesen und das OLG die dagegen gerichtete Berufung zurückgewiesen hatte, hob der BGH mit Urteil vom 7. 2. 1980 die oberlandesgerichtliche Entscheidung auf, da ein Schadensersatzanspruch aus § 839 BGB oder öffentlich-rechtlicher culpa in contrahendo in Betracht käme, und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das OLG zurück (vgl. BGHZ 76, 343 = NJW 1980, 1683). Nachdem das OLG die Berufung erneut zurückgewiesen hatte, hob der BGH mit Urteil vom 5. 5. 1983 auch diese Entscheidung auf und verwies die Sache wiederum an das OLG zurück (vgl. BGH, WM 1983, 993). Daraufhin stellte das OLG mit Grundurteil vom 10. 7. 1984 fest, dass die Stadt dem Bf. wegen des Abbruchs der Verhandlungen aus öffentlich-rechtlicher culpa in contrahendo sowie aus § 839 BGB i.V. mit Art. 34 GG dem Grunde nach zum Schadensersatz verpflichtet sei. Die Entscheidung zur Schadenshöhe behielt es dem Schlussurteil vor. Die dagegen eingelegte Revision der Bekl. nahm der BGH mit Beschluss vom 11. 7. 1985 nicht zur Entscheidung an.
Mit Schlussurteil vom 8. 7. 1986 verurteilte das OLG die Bekl. zur Zahlung von 5798142 DM nebst Zinsen an den Bf. Auf die von beiden Seiten eingelegte Revision hin hob der BGH auch diese Entscheidung mit Urteil vom 22. 6. 1989 teilweise auf (vgl. BGH, NVwZ-RR 1989, 600). Im Umfang der Aufhebung verwies es die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.
Das OLG erhob in der Folgezeit umfänglich Beweis unter anderem durch Einholung mehrerer Sachverständigengutachten, in denen es - auch - um die Höhe des dem Bf. entstandenen Schadens ging. Die Begutachtung ist noch nicht abgeschlossen. Nachdem die Besetzung des Senats Ende 1999 gewechselt hatte, begehrte der Bf. die Aufhebung des zuletzt ergangenen Beweisbeschlusses vom 12. 1. 1999 mit der Begründung, dass das Gericht dem Sachverständigen aufgegeben habe, den Schaden nach einer völlig ungeeigneten Berechnungsmethode (modifizierte Nettomethode) zu berechnen, obwohl nach der Rechtsprechung des BGH Brutto- und Nettomethode letztlich zu gleichen Ergebnissen führen müssten. Durch Beschluss vom 24. 5. 2000 wies das OLG den Antrag unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BGH zu den unterschiedlichen Berechnungsmethoden zurück.
Ein Urteil ist bislang noch nicht ergangen.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Bf. die überlange Verfahrensdauer. Die Kammer hat entschieden, dass die Rechte des Bf. aus Art. 2 I GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) dadurch verletzt werden, dass das OLG es unterlassen hat, in dem Verfahren in angemessener Zeit eine Entscheidung über die Höhe des dem Bf. zustehenden Schadensersatzanspruchs zu treffen.
1. a) Es ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass sich aus Art. 2 I GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinn ableiten lässt (vgl. BVerfGE 82, 126 [155] = NJW 1990, 2246; BVerfGE 93, 99 [107] = NJW 1995, 3173). Das Rechtsstaatsprinzip fordert im Interesse der Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 88, 118 [124] = NJW 1993, 1635; BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats], NJW 1997, 2811; BVerfG [2. Kammer des Ersten Senats], NJW 2000, 797).
b) Es lässt sich allerdings nicht generell festlegen, ab wann ein Verfahren
unverhältnismäßig lange dauert; insbesondere die Angabe einer festen
Jahresgrenze ist angesichts der Unterschiedlichkeit der Verfahren nicht möglich.
Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser Frage sind vielmehr stets alle
Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Bedeutung der Sache für die Parteien,
die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Parteien zuzurechnende Verhalten
sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussenden Tätigkeiten von Dritten, wie etwa
Sachverständigen, einzubeziehen. Allerdings haben die Gerichte im Rahmen ihrer
Verfahrensführung auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen. Mit
zunehmender Dauer des Verfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz
verdichtet sich die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene Pflicht des
Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen
Beendigung zu bemühen.
2. Gemessen daran ist der Rechtsstreit von dem OLG
seit dem Eingang der Akten nach dem Revisionsurteil des BGH vom 22. 6. 1989
nicht einer instanzbeendenden Entscheidung in angemessener Zeit zugeführt
worden. Die Klage im Ausgangsverfahren ist seit 1974, also seit nunmehr 26
Jahren, anhängig. Seit Mitte 1985, also bereits seit 15 Jahren, steht
rechtskräftig fest, dass der Bf. einen Anspruch auf Ersatz seines Schadens durch
die Bekl.hat. Nach der letzten Zurückverweisung durch den BGH ist in dieser
Sache seit nunmehr elf Jahren keine Entscheidung über die Höhe des dem Bf.
zustehenden Schadens ergangen. Damit sind die Grenzen des unter dem
Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes für einen Prozessbeteiligten noch
Hinnehmbaren eindeutig überschritten.
a) Bei der Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieser Verfahrensdauer ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Rechtsstreit beträchtliche rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten aufweist. Dies zeigen nicht zuletzt die - zum Teil in der amtlichen Sammlung veröffentlichten - Urteile des BGH, die während des Rechtsstreits ergangen sind. Seitdem die Sache wieder beim OLG anhängig ist, belegen die umfangreich eingeholten Sachverständigengutachten die besonderen Schwierigkeiten bei der Feststellung des dem Bf. entstandenen Schadens.
b) Aus den vom BVerfG eingesehenen Verfahrensakten lässt sich nicht entnehmen, dass das Verfahren durch eine schlichte Nichtbearbeitung verzögert worden wäre. Insoweit unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt von der Entscheidung der 2. Kammer des Ersten Senats (vgl. NJW 2000, 797). Vorliegend wurde das Verfahren demgegenüber im Rahmen eines normalen Verfahrensablaufs jedenfalls insoweit gefördert, als ihm durch ergänzende Beweisaufnahmen, Stellungnahmen der Parteien etc. stets Fortgang gegeben wurde.
c) Gleichwohl kann von einer Klärung des strittigen Rechtsverhältnisses in
angemessener Zeit nicht ausgegangen werden, und es sind keine besonderen
Vorkehrungen des Gerichts zur Verfahrensbeschleunigung festzustellen. Die
Pflicht zur nachhaltigen Beschleunigung wurde vorliegend dadurch verstärkt, dass
es bei dem Rechtsstreit, wie der Bf. mehrfach nachvollziehbar dargelegt hat, um
dessen wirtschaftliche Existenz geht. Angesichts der außergewöhnlich langen
Verfahrensdauer - bei Eingang der Akten bei dem OLG dauerte der Rechtsstreit
schon rund 15 Jahre - hätte sich das OLG nicht darauf beschränken dürfen, das
Verfahren wie einen gewöhnlichen, wenn auch komplizierten Rechtsstreit zu
behandeln. Vielmehr hätte es - unter Zugrundelegung seines rechtlichen
Ausgangspunkts - sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der
Verfahrensbeschleunigung nutzen müssen. Gegebenenfalls wäre es gehalten gewesen,
sich um gerichtsinterne Entlastungsmaßnahmen zu bemühen.
Es ist nicht Aufgabe
des BVerfG, den Gerichten bestimmte Beschleunigungsmaßnahmen vorzuschreiben. Die
Entscheidung darüber obliegt den Fachgerichten, die sich nicht abstrakt, sondern
nur anhand des konkreten Falls und unter Berücksichtigung der Gründe für die
lange Verfahrensdauer treffen lässt. Eine Beschleunigung war und ist auch in dem
hier in Rede stehenden Verfahren nicht grundsätzlich ausgeschlossen, in dem das
Gericht bei der Entscheidungsfindung auf die Mitwirkung von Sachverständigen
angewiesen ist. Beispielhaft hätte bereits bei der Auswahl und der Beauftragung
der jeweiligen Sachverständigen die besondere Eilbedürftigkeit der Angelegenheit
berücksichtigt und - soweit nach Auffassung des Gerichts mehrere gleichrangig
qualifizierte Sachverständige in Betracht kamen - der voraussichtlichen
Bearbeitungsdauer bei der Auswahl des Sachverständigen entscheidendes Gewicht
beigemessen werden können. Auch während der Bearbeitung des Gutachtens ist der
Zeitfaktor durch zeitnahe Überwachung der gutachterlichen Tätigkeit und durch
das Setzen von Bearbeitungsfristen im Blick zu behalten. Wenn es um Fragen geht,
die durch verschiedene Sachverständige zu klären sind, ist - soweit rechtlich
möglich - eine gleichzeitige Begutachtung zu erwägen, die durch entsprechende
Vorkehrungen (etwa: Anfertigung von Zweitakten) auch organisatorisch bewältigt
werden kann.
Dass das Gericht in diesem Sinn aktiv verfahrensbeschleunigend tätig geworden ist, lässt sich den Akten nicht entnehmen.
d) Dass neben Maßnahmen der Verfahrensleitung und gegebenenfalls des Bemühens um gerichtsinterne Entlastungen auch eine andere rechtliche Bewertung der zu entscheidenden Rechtsfragen zu einer Verfahrensverkürzung hätte führen können, kann den Vorwurf einer überlangen Verfahrensdauer entgegen der Ansicht des Bf. jedoch nicht rechtfertigen. Wie der Fall rechtlich zu bewerten ist und mit welchen Beweismitteln der Sachverhalt festgestellt werden soll, obliegt der Beurteilung der Fachgerichte. Eine inhaltliche Überprüfung kommt grundsätzlich nur in einem etwaig nach der Verfahrensordnung vorgesehenen Rechtsmittelverfahren in Betracht. Ob das BVerfG ausnahmsweise früher eingreifen kann, so wenn ein Vorgehen eines Gerichts jeden sachlichen Grunds entbehrt und deshalb willkürlich ist, bedarf keiner Entscheidung. Hierfür liegen vorliegend keinerlei Anhaltspunkte vor. Das OLG hat zumindest aus nicht sachfremden Erwägungen unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BGH die so genannte Nettomethode seiner Schadensfeststellung zu Grunde gelegt. Dass eine Berechnung des Schadens hiernach praktisch ausgeschlossen ist, wie der Bf. behauptet, ist nicht dargetan. Entsprechendes lässt sich auch nicht aus dem von ihm vorgelegten Schreiben des Sachverständigen vom 2. 5. 2000 entnehmen, in dem um weitere steuerliche Informationen gebeten wird, ohne dass sich hierin Hinweise auf eine etwaige Undurchführbarkeit der Schadensberechnung finden.
3. Da eine Entscheidung des OLG noch nicht ergangen ist, muss sich das BVerfG auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit gem. § 95 I BVerfGG beschränken. Das OLG ist nunmehr unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen gehalten, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem möglichst raschen Abschluss des Verfahrens führen.
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