Keine Lohnkürzung wegen Leistungsabfalls
Gericht
BAG 3. Senat
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
11. 11. 1997
Aktenzeichen
3 AZR 675/96
Ältere Arbeitnehmer werden nach § 9 des Manteltarifvertrags für die Arbeitnehmer der Metallindustrie in Hamburg und Umgebung sowie Schleswig-Holstein vor altersbedingtem Leistungsabfall und dem damit verbundenen Lohnrisiko geschützt (im Anschluß an BAG Urteil vom 7. Februar 1995 - 3 AZR 402/94 - AP Nr 6 zu § 4 TVG Verdienstsicherung).
Eine Betriebsvereinbarung, durch die leistungsabhängige Prämien zum Nachteil der Arbeitnehmer gesenkt werden, kann die tariflichen Ansprüche dieser Arbeitnehmer nicht beeinträchtigen.
Tatbestand:
Die Parteien streiten über die Höhe einer tariflichen
Verdienstsicherung für ältere Arbeitnehmer. Der Kläger will
eine nachteilige Änderung von betrieblichen
Entlohnungsgrundsätzen auf die tarifliche Verdienstsicherung
nicht hinnehmen.
Der 1935 geborene Kläger war bei der Beklagten seit 1. November
1980 als Schweißer/Schlosser im Zeitlohn beschäftigt. Auf das
Arbeitsverhältnis waren kraft beiderseitiger Tarifbindung und
aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarung die tarifvertraglichen
Bestimmungen für die Metallindustrie Hamburgs anzuwenden. § 9
des Manteltarifvertrags für die Arbeitnehmer der Metallindustrie
in Hamburg und Umgebung sowie Schleswig-Holstein (MTV), gültig
ab 1. April 1990, sieht eine Verdienstsicherung für Arbeitnehmer
vor, die 55 Jahre alt oder älter sind. Zeitlohnarbeiter haben
einen Anspruch auf ihren Durchschnittsstundenverdienst, errechnet
aus den letzten 12 abgerechneten Kalendermonaten (§ 9 Abschnitt
1.3 MTV).
Für die Zeit vom 1. Mai 1993 bis zum 30. April 1994 erhielt der
Kläger einen Gesamtstundenlohn von 28,29 DM bei einer
monatlichen Arbeitszeit von 156,5 Stunden. In diesem
Gesamtstundenlohn war eine Leistungszulage enthalten. Der
Monatslohn betrug 4.427,39 DM.
Am 11. Mai 1994 vereinbarten die Beklagte als Arbeitgeberin und
ihr Betriebsrat "Entlohnungsgrundsätze für die
gewerblichen Arbeitnehmer des Containerbaus" auf der
Grundlage einer "produktivitätsbezogenen
Fertigungs-Umsatzbeteiligung". Die Arbeitnehmer, auf die
diese Betriebsvereinbarung anzuwenden war, waren in einer Liste
namentlich aufgeführt. Beim Kläger und einem weiteren
Arbeitnehmer mit Anspruch auf Verdienstsicherung war ein Zusatz
"LS" (vermutlich "Lohnsicherung") angebracht.
In einer Fußnote heißt es:
arbeiter F und M ein Gerichtsurteil ergehen,
das von dem hier genannten Lohn abweicht, so ist diesem
Urteil zu folgen."
Seit Inkrafttreten dieser Betriebsvereinbarung erhielt der
Kläger einen Stundenlohn von 22,74 DM; das ergibt einen
Monatslohn von etwa 3.561,00 DM. Außerdem zahlte der beklagte
Arbeitgeber dem Kläger eine produktivitätsbezogene
Umsatzbeteiligung für Juni 1994 in Höhe von 329,38 DM, für
Juli 1994 in Höhe von 12,69 DM und für August 1994 von 343,98
DM. Für die Monate September, Oktober und November 1994 erhielt
der Kläger keine Umsatzbeteiligung.
Mit der Klage fordert der Kläger den Differenzbetrag zu seiner
früheren Vergütung. Er hat die Auffassung vertreten, die
Betriebsvereinbarung vom 11. Mai 1994 gelte nicht für ihn, er
sei in der beigefügten Liste durch den Klammerzusatz ausgenommen
worden. Jedenfalls sei die Betriebsvereinbarung insoweit
unwirksam. Sie habe weder in seine einzelvertraglichen noch in
seine tarifvertraglichen Ansprüche auf Verdienstsicherung
wirksam eingreifen können.
Der Kläger hat beantragt,
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die
Auffassung vertreten, die Betriebsvereinbarung habe die
Entlohnungsgrundsätze wirksam geändert. Sie gelte für den
Kläger ebenso wie für alle übrigen Arbeitnehmer. Die
tarifliche Verdienstsicherung schütze lediglich vor
altersbedingten Verdiensteinbußen, nicht aber vor einer
allgemeinen Änderung der Entlohnungsgrundsätze. Für eine
Besserstellung älterer Arbeitnehmer gebe es keine einleuchtenden
Gründe.
Das Arbeitsgericht hat der Klage bezüglich der Hauptforderung in
vollem Umfange und hinsichtlich der Zinsen teilweise
stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der
Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht
zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf
Abweisung der Klage weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des beklagten Arbeitgebers ist nicht begründet.
Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Dem
Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf
Verdienstsicherung für ältere Arbeitnehmer nach § 9 MTV zu.
1. Der Kläger hat Anspruch auf Verdienstsicherung für ältere
Arbeitnehmer. Er erfüllt die Voraussetzungen des § 9 Abschnitt
1.1 MTV. Er hatte vor dem 1. Mai 1994 das 55. Lebensjahr
vollendet und gehörte dem Betrieb mindestens fünf Jahre an.
2. Die Verdienstsicherung umfaßt bei Zeitlohnarbeitern den
gesamten Durchschnittsstundenverdienst der letzten 12
abgerechneten Kalendermonate. Zum Durchschnittsstundenverdienst
gehören auch Prämien und Zulagen, die die Beklagte vor Eintritt
der Verdienstsicherung an den Kläger zahlte. Gesichert war der
Gesamtstundenlohn des Klägers von 28,29 DM (§ 9 Abschnitt 1.3
MTV). Soweit bestimmte Vergütungsbestandteile nicht in die
Berechnung der Verdienstsicherung einbezogen werden sollen,
werden sie im Tarifvertrag ausdrücklich ausgeklammert (z.B. § 9
Abschnitt 2.4 Satz 3 und 4 MTV).
3. Die spätere Änderung der Entlohnungsgrundsätze hat den
Anspruch des Klägers auf tarifliche Verdienstsicherung nicht
beeinträchtigt.
a) Nach § 9 Nr. 1 MTV ist der Anspruch auf Verdienstsicherung
nicht von der allgemeinen Entwicklung der Entlohnung im Betrieb
abgekoppelt. Vielmehr ist die Verdienstsicherung dynamisiert. Bei
der Berechnung des Durchschnittsverdienstes sind die jeweils
gültigen Bestimmungen des Manteltarifvertrags anzuwenden (§ 9
Abschnitt 1.2 Abs. 1 MTV). Zukünftige Tariflohnerhöhungen sind
nach § 9 Abschnitt 1.2 Abs. 2 Satz 2 MTV zu berücksichtigen.
Grundsätzlich können sich deshalb auch nachteilige Änderungen
der allgemeinen Entlohnungsgrundsätze auf die Ansprüche der
älteren Arbeitnehmer auswirken. Der Arbeitgeber kann z.B.
freiwillige übertarifliche Zulagen allgemein widerrufen. Die
Tarifvertragsparteien haben die Zulagen lediglich in die
Berechnungsgrundlage einbezogen. Sie haben einzelvertragliche
Zulagen nicht mit tariflicher Wirkung abgesichert. Entsprechendes
gilt bei einer Prämienentlohnung für die Einführung von
Obergrenzen oder die Absenkung dieser Grenzen (vgl. BAG Urteil
vom 16. Mai 1995 - 3 AZR 627/94 - AP Nr. 8 zu § 4 TVG
Verdienstsicherung). Der ältere Arbeitnehmer wird nach § 9 MTV
nur vor altersbedingten Einkommensrisiken geschützt. Insoweit
wird sein bisheriger Lebensstandard aufrechterhalten und der
Besitzstand gewahrt. Arbeitsrechtlich zulässige allgemeine
Lohnkürzungen, die nicht vom Alter und der Leistungsfähigkeit
abhängen, muß der verdienstgesicherte Arbeitnehmer ebenso
hinnehmen wie alle anderen Arbeitnehmer (vgl. Senatsurteil vom 7.
Februar 1995 - 3 AZR 402/94 - AP Nr. 6 zu § 4 TVG
Verdienstsicherung, zu II 2 b und c der Gründe, ebenfalls zu §
9 des hier anwendbaren MTV ergangen).
b) Im vorliegenden Fall ist nicht auszuschließen, daß die
Lohnkürzung auf der geminderten Leistungsfähigkeit des Klägers
beruht. Die mit der Betriebsvereinbarung vom 11. Mai 1994
eingeführte neue Lohnberechnung knüpft ebenso wie die zuvor
gezahlte Prämie zumindest mittelbar an die Leistung des Klägers
an. Die frühere Prämie wurde durch einen Lohnbestandteil
ersetzt, der nach neuen, gruppenbezogenen Leistungskriterien
berechnet wird. Für die einzelnen herzustellenden Objekte (z.B.
Container und Anhänger) werden Richtzeiten vorgegeben. Die
Leistungsfähigkeit des Klägers und etwaige altersbedingte
Schwächen wirken sich auf das Arbeitsergebnis und damit auf die
Entlohnung aus. Wie stark die Auswirkungen sind, hängt davon ab,
wieviele Arbeitnehmer in der einheitlich entlohnten Gruppe tätig
sind, wie stark sich die Leistung des Klägers von der seiner
Arbeitskollegen unterscheidet und in welchem Umfange die Leistung
des Klägers gegenüber der Zeit vor Eintritt der
Verdienstsicherung abgesunken ist. Die Ursachen der
Verdiensteinbußen lassen sich nicht zuverlässig auf einzelne
Ursachen zurückführen. Für den Kläger bestand nach der neuen
Entlohnungsmethode jedenfalls ein mehr oder weniger großes
Risiko, altersbedingte Verdiensteinbußen zu erleiden.
Gerade einer derartigen Gefahr will die Verdienstsicherung nach
§ 9 MTV vorbeugen. Deshalb enthält dieser Tarifvertrag keine
besonderen Regelungen für den Fall, daß sich nach Eintritt der
Verdienstsicherung die Berechnung für einzelne Lohnbestandteile
ändert. Deshalb bleibt es bei dem allgemeinen Grundsatz:
Nachträgliche Änderung der Entlohnungsmethoden, in denen sich
ein altersbedingter Leistungsabfall auswirken kann, haben keinen
Einfluß auf die Höhe einer Verdienstsicherung.
4. Die tarifliche Regelung verstößt nicht gegen den
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Zweck der
Alterssicherung liefert einen einleuchtenden
Differenzierungsgrund. Dem Ziel der Verdienstsicherung entspricht
es, ältere Arbeitnehmer auch dann umfassend zu schützen, wenn
die altersbedingten Verdiensteinbußen einerseits und allgemeine,
auf anderen Gründen beruhende Lohnkürzungen andererseits nicht
oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten auseinandergerechnet
werden können.
Michels
Oberhofer
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