Ersatz des merkantilen Grundstücksminderwertes bei enteignendem Eingriff

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

02. 04. 1981


Aktenzeichen

III ZR 186/79 (KG)


Leitsatz des Gerichts

Bei einem enteignenden Eingriff in ein Grundstück ist auch für einen dadurch entstandenen merkantilen Minderwert Entschädigung zu leisten.

Tatbestand

Zum Sachverhalt:

Die Kl. ist Eigentümerin eines Grundstücks, auf dem sich ursprünglich ein vierstöckiges, durch Kriegseinwirkungen zerstörtes Gebäude befand. 1949 wurde auf dem Grundstück ein zweigeschossiges Geschäftshaus errichtet. Dabei wurden die Fundamente und das Außenmauerwerk so ausgelegt, dass ihre Tragfähigkeit für zwei weitere Geschosse ausreichte. Schon durch die zweigeschossige Bebauung wurde die festgesetzte Geschoßflächenzahl von 1,2 um 0,13 überschritten. In dem Bebauungsplan der bekl. Stadt von 1965 ist eine - nahezu völlig bebaute - Teilfläche von 215 qm des insgesamt 627 qm großen Grundstücks als Straßenland ausgewiesen; ob und gegebenenfalls wann diese Teilfläche entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans genutzt werden wird, ist ungewiß. Im Zuge des Baus einer U-Bahn ließ die Bekl. Tiefbauarbeiten ausführen. Die Sohle des zweistöckigen U-Bahntunnels, der in einem Abstand von 6,60 m von dem Gebäude der Kl. entfernt verläuft, liegt etwa 12 m unter der Fundamentunterkante des Hauses. Infolge der Bauarbeiten und des damit verbundenen Erdaushubs wurde der Erdboden unter den Gebäudefundamenten gelockert und rutschte teilweise zur Baugrube hin ab. Das führte dazu, daß sich die Außenmauer des Hauses verkantete und setzte, wodurch Risse im Mauerwerk und den Decken entstanden. Die am Gebäude der Kl. eingetretenen Schäden hat die Bekl. inzwischen repariert. Die Risse wurden kraftschlüssig geschlossen; ferner wurden die Auflage der Decken gesichert und das beschädigte Mauerwerk tragfähig wiederhergestellt. Die Fundamente sind nunmehr ebenso belastbar wie vor dem Schadensereignis; insbesondere können sie ebenso wie das Außenmauerwerk ohne konstruktiven Mehraufwand auch die Lasten abfangen, die bei einer Aufstockung des Gebäudes um zwei Geschosse abgeleitet werden müssen.

Die Kl. hat zunächst mit ihrem Hauptantrag einen nach der Reparatur der Schäden angeblich noch verbliebenen technischen Minderwert des Grundstücks geltend gemacht. Hilfsweise hat sie (soweit im Revisionsrechtszug noch von Interesse) begehrt, die Verpflichtung der Bekl. festzustellen, ihr die Kosten für bestimmte Verstärkungskonstruktionen oder andere zusätzliche Abstützungen, die im Falle einer etwaigen Aufstockung des Gebäudes entstehen, zu ersetzen. Das LG hat den Hauptantrag abgewiesen und dem Hilfsantrag stattgegeben. Die Berufung der Kl., mit der sie ihren - nunmehr auf einen merkantilen Minderwert des Grundstücks gestützten - Zahlungsantrag weiterverfolgt hat, ist erfolglos geblieben. Die Revision der Kl. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

I. 1. Die Schaffung und der Ausbau des U-Bahnnetzes der Bekl. als Teil des öffentlichen Verkehrssystems ist eine wichtige öffentliche Aufgabe und weist hoheitlichen Charakter auf (so für den Straßenbau Senatsurt., NJW 1980, 2703). Der erkennende Senat hat wiederholt die für den Anlieger nachteiligen Auswirkungen des Baues einer U- oder S-Bahn nach den Grundsätzen des enteignungsgleichen oder enteignenden Eingriffs beurteilt (BGHZ 57, 359 = NJW 1972, 243 - Frankfurter U-Bahn; Senatsurt. NJW 1976, 1312 = Münchener S-Bahn und Senatsurt., NJW 1977, 1817). Auch im Streitfall ist davon auszugehen, daß die Bekl. den Bau der U-Bahn im Rahmen der schlichten Hoheitsverwaltung (Daseinsvorsorge) öffentlichrechtlich vorgenommen und sich nicht auf die Ebene des Privatrechts begeben hat. Die Bekl. hat durch die Bauarbeiten, insbesondere die Ausschachtungen, die Standfestigkeit des Gebäudes der Kl. erheblich beeinträchtigt. Darin liegt ein entschädigungspflichtiger Eingriff in das Grundeigentum der Kl. (vgl. BGHZ 72, 289 = NJW 1979, 164).

2. a) Der Streit der Parteien geht um den Umfang dieses Entschädigungsanspruchs. Die Bekl. hat inzwischen unstreitig die an dem Gebäude aufgetretenen Schäden beseitigt. Ferner hat die Kl. die rechtskräftige Feststellung erwirkt, daß die Bekl. zum Ersatz der Kosten verpflichtet ist, die der Kl. bei einer etwaigen künftigen Aufstockung ihres Gebäudes dadurch erwachsen, daß es wegen der Lockerung des Erdreichs durch die U-Bahnarbeiten zusätzlicher Abstützungsmaßnahmen bedarf. Im jetzigen Verfahrensstadium ist nur noch umstritten, ob die Bekl. der Kl. auch den merkantilen Minderwert ihres bebauten Grundstücks zu ersetzen hat.

b) Im Schadensersatzrecht versteht man unter dem merkantilen Minderwert die Minderung des Verkaufswertes einer beschädigten Sache, die im Verkehr trotz ordnungsmäßer Instandsetzung wegen des Verdachts verborgen gebliebener Schäden eintritt. Dieser merkantile Minderwert stellt einen ersatzfähigen Schaden dar, dessen Erstattung der Eigentümer sogleich verlangen kann, auch wenn er den reparierten Gegenstand weiter benutzt und nicht veräußert (BGHZ 35, 396 = NJW 1961, 2253 für einen Pkw; BGH, NJW 1980, 281 für einen Lkw; Herm. Lange, Schadensersatz, 1979, § 6 VI 1 S. 174 ff; Staudinger-Medicus, BGB, 12. Aufl., § 251 Rdnrn. 34 ff.). Im Schadensersatzrecht ist ferner anerkannt, daß auch bei der Beschädigung eines Gebäudes ein merkantiler Minderwert entstehen kann (BGHZ 9, 98 = NJW 1953, 659; Senatsurt., BB 1968, 1355; Herm. Lange, Schadensersatz, § 6 VI 1 S. 174 ff.; Staudinger-Medicus, BGB, § 259 Rdnr. 82 m. w. Nachw.; Rindhardt, VersR 1965, 18). Dieser wirkt sich nicht erst beim Verkauf des Grundstücks aus, sondern er liegt auch vor, wenn der Eigentümer das Haus nicht veräußern will (BGH, BB 1961, 1216 und BGH, VersR 1969, 473 (474)).

c) Diese im Schadensersatzrecht für den merkantilen Minderwert entwickelten Grundsätze gelten auch im Recht der Entschädigung für enteignungsgleiche oder enteignende Eingriffe. Zwar bestehen zwischen Schadensersatz und Entschädigung Unterschiede im Umfang der Ersatzleistung. Während die Schadensersatzleistung an einer hypothetischen Vermögensentwicklung, wie sie ohne das schädigende Ereignis eingetreten wäre, ausgerichtet wird, ist die Enteignungsentschädigung allein nach der Einbuße in dem vom Eingriff betroffenen Recht zu bemessen (BGHZ 39, 198 (199 f.) = NJW 1963, 1492; BGHZ 57, 359 (368) = NJW 1972, 243; BGHZ 59, 250 (258) =NJW 1973, 47; RGRK, 12. Aufl., Vorb. § 839 Rdnr. 85; Papier, in: MünchKomm, § 839 Rdnr. 30). Diese Unterschiede werden indes beim merkantilen Minderwert nicht relevant. Dieser ist schadensersatzrechtlich betrachtet nichts anderes als die Wertdifferenz einer Sache vor dem Schadensereignis und nach Durchführung der Reparatur (BGH, NJW 1980, 281 im Anschluß an BGHZ 27, 181 (184) = NJW 1958, 1085). Dem Eigentümer einer Sache, die trotz völliger und ordnungsgemäßer Reparatur im Verkehr wegen der Befürchtung von versteckten Mängeln ein geringerer Wert beigemessen wird, entsteht ein gegenwärtiger Schaden, weil er ein weniger wertvolles Vermögensobjekt in Händen hat, als er vor dem Schadensereignis besaß (BGHZ 27, 181 = NJW 1958, 1085; Herm. Lange, Schadensersatz, § 6 VI 1 S. 176). Enteignungsrechtlich gesehen hat ein solcher Eigentümer als Folge des Eingriffs bereits ein gegenwärtiges Sonderopfer erbracht; der merkantile Minderwert ist Ausdruck der erlittenen Substanzeinbuße. Dabei handelt es sich um eine Substanzbeeinträchtiugng des Eingriffsobjekts selbst (hier des Grundstücks), nicht um einen sog. Folgeschaden. Die Einbuße tritt bei enteignungsrechtlicher Wertung ebensowenig wie bei schadensersatzrechtlicher Betrachtung erst mit der Veräußerung der Sache ein.

d) Für die Bemessung des merkantilen Minderwerts ist im Schadensersatzrecht der Zeitpunkt der beendeten Instandsetzung der beschädigten Sache maßgebend (BGH, NJW 1967, 552); auch im Entschädigungsrecht ist auf diesen Zeitpunkt abzuheben, der dem - sonst ausschlaggebenden - Eingriffszeitpunkt möglichst nahekommt. Aus enteignungsrechtlicher Sicht ist daher für die Qualitätsmerkmale und Preisverhältnisse des betroffenen Grundstücks ebenfalls der Berechnungszeitpunkt für den merkantilen Minderwert entscheidend. Im Streitfall beurteilt sich demnach auch die bauliche Nutzbarkeit des Grundstücks nach diesem Stichtag.

II. Die Erwägungen, mit denen das BerGer. einen merkantilen Minderwert verneint hat, halten der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Rechtsirrig ist schon die Auffassung des BerGer., nur im Hinblick auf mögliche Setzungserscheinungen nach einer etwaigen Aufstockung des Gebäudes komme ein merkantiler Minderwert in Betracht. Aus Rechtsgründen ist eine derartige Einschränkung nicht geboten. Vielmehr ist es durchaus möglich, daß der Grundstücksverkehr die Fläche mit dem Bauwerk in seiner jetzigen Gestalt im Hinblick auf den Eingriff und seine Folgen (Lockerung des Erdreichs unter den Fundamenten mit den - inzwischen behobenen - Gebäudeschäden) bereits geringer einschätzt als vor dem U-Bahn-Bau. Dann wäre rechtlich schon ein merkantiler Minderwert eingetreten. Eine solche - von der Frage der Erhöhung des Gebäudes um zwei Geschosse unabhängige - Wertminderung hat die Kl. in der Berufungsinstanz auch behauptet. Sie hat geltend gemacht, sie müsse den Eingriff mit den seinerzeitigen Folgen einem etwaigen Erwerbsinteressenten offenbaren, was zu einer Minderung des Kaufpreises führe. Diesen Vortrag hat das BerGer. nicht beachtet.

2. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken unterliegt auch die weitere Annahme des BerGer., ein merkantiler Minderwert entfalle hier schon deshalb, weil der Markt das Grundstück der Kl. allein nach dem Bodenwert einschätze, ohne daß der bauliche Zustand der aufstehenden Gebäude den Kaufpreis für das Grundstück beeinflusse.

a) Diese Schlußfolgerung gründet sich auf die Voraussetzung, daß in bezug auf den reinen Bodenwert des Grundstücks der Kl. kein Raum für die Entstehung eines merkantilen Minderwerts ist. Ein solcher Ausgangspunkt ist jedoch rechtlich unzutreffend. Auch hier ist für die Frage des merkantilen Minderwerts auf die Einstellung des Gründstücksmarkts abzuheben. Es läßt sich nicht ausschließen, daß dieser schon im Hinblick auf die Lockerung des Erdreichs im Zuge der U-Bahnarbeiten den reinen Bodenwert geringer bemißt (vgl. auch Senatsurt., LM Art. 14 (Ea) GrundG Nr. 72 = WM 1975, 275 (277/8)). Die Kl. hatte den merkantilen Minderwert im Berufungsrechtszug nicht nur auf Werteinbußen am Gebäudewert, sondern auch am reinen Bodenwert gestützt.

b) Rechtsfehlerhaft ist das BerGer. ferner zu dem Ergebnis gelangt, daß der Markt die Preisbildung für das Grundstück der Kl. allein nach dem Bodenwert und ohne Rücksicht auf die Bebauung vornehme. Das BerGer. hat anerkannte Bewertungsgrundsätze verletzt und den Prozeßstoff nicht ausgeschöpft. Der Gesetzgeber geht in § 142 III BBauG (vgl. auch § 2 I 1 WertVO) für den Regelfall davon aus, daß der Verkehrswert eines bebauten Grundstücks durch den Wert des Grund und Bodens und der darauf befindlichen Gebäude beeinflußt wird (zu Ausnahmen - abbruchreife Gebäude usw. - vgl. Gelzer-Busse, Der Umfang des Entschädigungsanspruchs aus Enteignung und enteignungsgleichem Eingriff, 2. Aufl., Rdnrn. 346 ff.). Diese Vorschrift findet hier zwar nicht unmittelbar Anwendung; sie enthält aber immerhin eine allgemeine Leitlinie. Eine Abweichung hiervon bedarf der besonderen Rechtfertigung, die das Berufungsurteil indes vermissen läßt. In diesem Zusammenhang erscheint vor allem der - vom BerGer. nicht erkennbar gewürdigte - Umstand von Bedeutung, daß der Gebäudewert von dem Privatgutachter der Kl. und dem Privatgutachter der Haftpflichtversicherung höher als der Bodenwert veranschlagt worden ist. Bei einem solchen Verhältnis von Bodenwert zu Gebäudewert müßten schon ganz besondere Umstände vorliegen, um die Auffassung des BerGer. tragen zu können, der Grundstücksmarkt orientiere sich ausschließlich am Bodenwert. Das sachverständig beratene BerGer. stellt nun darauf ab, daß es sich um ein altes Gebäude handele und sich das Grundstück in einer vorzüglichen Geschäftslage befinde. Es ist allerdings vorstellbar, daß in bester Geschäftslage allein der Bodenwert maßgebend ist. Das wird insbesondere der Fall sein, wenn ein Grundstückskäufer (etwa ein Warenhauskonzern) das Gebäude abreißen und durch ein neues (größeres oder besser nutzbares) ersetzen will. Die Möglichkeit einer Aufstockung oder einer wertsteigernden Errichtung eines anderen Gebäudes liegt hier aber nach den Ausführungen des BerGer. zu § 32 BerGerfern. Bei dieser Sachlage spricht daher viel dafür, daß das als Mietobjekt genutzt Gebäude (darin wird ein Schuhgeschäft betrieben) durchaus die Preisbildung beeinflußt und zu einer Erhöhung des reinen Bodenwerts führt. Auf diesen Gesichtspunkt, der sich dem BerGer. aufdrängen mußte, geht es nicht ein. Das BerGer., das von einem „altbebauten“ Grundstück spricht, hat auch nicht erkennbar berücksichtigt, daß die von dem Gutachterausschuß herangezogenen 14 Fälle (bis auf einen) erheblich ältere Bauten (meist aus dem vorigen Jahrhundert) betrafen, während es hier um ein im Jahre 1949 errichtetes Gebäude geht. Das BerGer. setzt sich auch nicht damit auseinander, daß die Mieterin im Jahre 1970 wertsteigernde Ausbauten für etwa 500000 DM vorgenommen hat, die der Eigentümerin verbleiben. - Die im Berufungsurteil wiedergegebene Äußerung eines Kaufinteressenten läßt noch nicht auf die Einstellung des allgemeinen Grundstücksmarkts schließen.

3. Nach alledem läßt sich die Abweisung des Anspruchs auf Ersatz des merkantilen Minderwerts mit der vom BerGer. gegebenen Begründung nicht halten. Das Urteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend. Es ist daher aufzuheben; zugleich ist die Sache zur erneuten tatrichterlichen Würdigung unter den aufgezeigten rechtlichen Gesichtspunkten an das BerGer. zurückzuverweisen. Für die weitere Sachbehandlung wird auf folgendes hingewiesen: Auf die etwaige Möglichkeit einer Aufstockung des Gebäudes kommt es nach den Ausführungen zu I 2d) für die Berechnung des merkantilen Minderwerts nicht an. - Für den Fall, daß sich das BerGer. eines Sachverständigen bedient, besteht Anlaß zu dem Hinweis, daß der Gutachterausschuß nicht über besondere Erkenntnisse oder spezifische Sachkunde auf dem Gebiet der Bewertung des merkantilen Minderwerts von Grundstücken verfügen dürfte.

Rechtsgebiete

Verwaltungsrecht

Normen

GG Art. 14