"Schleichende" Umwandlung eines Dorfgebietes

Gericht

OVG Schleswig


Art der Entscheidung

Beschluss


Datum

22. 09. 1994


Aktenzeichen

1 M 16/94


Leitsatz des Gerichts

  1. Ergeht ein Einzelrichter-Übertragungsbeschluß erst einen Tag nach dem Diktat der Sachentscheidung und der Übergabe an die Kanzlei, so müssen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Einzelrichter-Übertragungsbeschlusses bestehen.

  2. Ebenso wie im Mischgebiet darf auch im Dorfgebiet nicht eine der Hauptnutzungsarten (Landwirtschaft oder Wohnen) eindeutig dominieren.

  3. Gegen eine ohne Bauleitplanung durchgeführte 'schleichende' Umwandlung eines Dorfgebietes in ein Wohngebiet steht einem gebietsansässigen Landwirt ein Abwehranspruch zu.

  4. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines gegen eine Baugenehmigung für ein Wohnbauvorhaben eingelegten Nachbarwiderspruches kann auch dann noch ergehen, wenn das Gebäude schon weitgehend fertiggestellt ist, sofern die Beeinträchtigung der Nachbarrechte des Widersprechenden nicht nur von der Errichtung, sondern auch von der Nutzung des Gebäudes ausgeht.

Tatbestand

Zum Sachverhalt:

Mit der Beschwerde begehrte die Ast. die Änderung eines Beschlusses, durch den das VG einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruches gegen eine den Beigel. erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses abgelehnt hat. Die Beschwerde hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

... Der Senat sieht sich an einer Sachentscheidung nicht dadurch gehindert, daß die Entscheidung des VGmöglicherweise an einem wesentlichen Mangel leidet, der entsprechend § 130 I Nr. 2 VwGO die Aufhebung des Beschlusses und die Zurückverweisung der Sache an das VG rechtfertigen würde. Der Senat hat zwar erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Übertragungsbeschlusses zu einem Zeitpunkt (hier 11. 2. 1994), in dem der Berichterstatter den diktierten Beschluß bereits zur Kanzlei gegeben hat (hier 10. 2. 1994), ob darin jedoch ein wesentlicher Mangel liegt, kann hier dahinstehen. Die Entscheidung, ob der Rechtsstreit an das VG zurückverwiesen wird, liegt nämlich gem. § 130 I VwGO im Ermessen des Senats. Vorliegend erscheint es aufgrund der langwierigen, letztlich erfolglosen Vergleichsverhandlungen nicht gerechtfertigt, den Rechtsstreit an die erste Instanz zurückzuverweisen. Der Senat geht davon aus, daß alle Verfahrensbeteiligten ein Interesse daran haben, eine endgültige Entscheidung im Eilverfahren zu erhalten.

In der Sache hat der Antrag der Ast. Erfolg. Bei der im Verfahren nach § 80 V VwGO nur möglichen summarischen Überprüfung kann der Senat nicht mit hinreichender Sicherheit beurteilen, ob die angegriffene Baugenehmigung geschützte Nachbarrechte der Ast. verletzt.

Bei der damit erforderlichen Interessenabwägung zwischen dem Interesse der Beigel., die ihnen erteilte Baugenehmigung auszunutzen, gegen das Interesse der Ast., von der Vollziehung der Baugenehmigung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, überwiegt das Interesse der Ast., weil anderenfalls durch die Fertigstellung des Gebäudes und insbesondere durch dessen Bezug vollendete Tatsachen geschaffen werden, die nach einem möglichen Erfolg im Hauptsacheverfahren nur sehr schwer wieder rückgängig gemacht werden könnten.

Zutreffend ist das VG davon ausgegangen, daß ein Abwehranspruch des Nachbarn auf Aufhebung einer angefochtenen Baugenehmigung nur besteht, sofern die Baugenehmigung über ihre objektive Rechtswidrigkeit hinaus zugleich geschützte Rechte des Nachbarn verletzt. Dies erfordert, daß durch die erteilte Baugenehmigung eine Norm verletzt wird, die zumindest auch dem Schutz des Nachbarn dient. Der Senat folgt dem VG ebenfalls in der Beurteilung, daß die nähere Umgebung als Dorfgebiet i.S. von § 5 BauNVO einzuordnen ist und damit die baurechtliche Beurteilung nach § 34 II BauGB i.V. mit § 5 BauNVO zu erfolgen hat. Zu Unrecht hat das VG jedoch die Prüfung der Nachbarrechtsverletzung ausschließlich auf § 34 II BauGB i.V. mit § 15 I BauNVO gestützt. Nach dem Urteil des BVerwG vom 16. 9. 1993 (BVerwGE 94, 151 = NJW 1994, 1546 = NVwZ 1994, 783 L = DVBl 1994, 285 = UPR 1994, 69 = ZfBR 1994, 97) wird ein Nachbar in seinen geschützten Rechten verletzt, wenn in einem unbeplanten Gebiet gem. § 34 II BauGB ein gebietsuntypisches Vorhaben zugelassen wird. Nach dieser Entscheidung des BVerwG kann der Eigentümer eines Grundstücks, das in einem festgesetzten Baugebiet liegt und damit hinsichtlich der Ausnutzung öffentlichrechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, die Beachtung dieser Beschränkungen auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen. Der Hauptanwendungsfall im Bauplanungsrecht für diesen Grundsatz seien die Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung. Die Beschränkungen der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks würden demnach dadurch ausgeglichen, daß auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen unterworfen seien. Aus der Gleichstellung geplanter und faktischer Baugebiete i.S. der Baunutzungsverordnung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung durch § 34 II BauGB ergebe sich, daß insofern ein identischer Nachbarschutz bestehe. Auf den vorliegenden Fall angewendet bedeutet dies, daß die Ast. sich gegen die Bauvorhaben wenden kann, die entweder in einem Dorfgebiet nach dem Katalog des § 5 II BauNVO generell nicht zulässig sind oder die dazu führen, daß der Charakter des Dorfgebietes verloren geht. Nach dieser Rechtsprechung des BVerwG, der sich der Senat angeschlossen hat (Beschl. v. 25. 4. 1994 - 1 M 30/94) geht der Nachbarschutz aus der Festsetzung eines Baugebiets und dementsprechend auch aus dem faktischen Baugebiet weiter als der Schutz aus dem Rücksichtnahmegebot in § 15 I BauNVO, der voraussetzt, daß der Nachbar in unzumutbarer Weise konkret in schutzwürdigen Interessen betroffen wird. Allein das Fehlen eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot führt also nicht dazu, daß sich die Ast. nicht gegen das Vorhaben der Beigel. wehren kann. Der Abwehranspruch der Ast. wird vielmehr bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst, weil hierdurch das nachbarliche Austauschverhältnis gestört und eine Verfremdung des Gebietes eingeleitet wird.

Nach der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung spricht einiges, wenn nicht gar überwiegendes, dafür, daß durch die Zulassung eines Mehrfamilienhauses mit 20 Wohneinheiten eine Verfremdung des Dorfgebietes eingeleitet wird. Die Zulassung des Vorhabens würde dazu führen, daß auf der westlichen Seite der E.-Straße ein eindeutiges Übergewicht der Wohnbebauung eintreten würde. Diese Dominanz der Wohnbebauung, die zusätzlich noch als Vorbild für weitere Mehrfamilienhäuser dienen könnte, kann dazu führen, daß der Betrieb der Ast. als Fremdkörper angesehen werden muß. Das wiederum würde dazu führen, daß sie in ihren Entwicklungsmöglichkeiten, die ihr § 5 I 2 BauNVO ausdrücklich zugesteht, soweit eingeschränkt wird, daß die Existenz des Betriebes gefährdet ist. Auch zivilrechtliche Abwehransprüche der künftigen Bewohner sind dann nicht mehr auszuschließen, wenn die nähere Umgebung nicht mehr als Dorfgebiet einzuordnen ist, da dann die von einem landwirtschaftlichen Betrieb üblicherweise ausgehenden Immissionen nicht mehr ortsüblich sind. Der Senat hatte bisher noch nicht zu entscheiden, wann ein faktisches Dorfgebiet durch Umwandlung von landwirtschaftlichen Betrieben in Wohnbebauung seinen Charakter verliert. Der Senat neigt dazu, das Mischungsverhältnis ähnlich wie beim Mischgebiet nach § 6 BauNVO auch auf § 5 BauNVO anzuwenden. Ein Mehrfamilienhaus mit 20 Wohneinheiten, das zudem als Vorbild für weitere Mehrfamilienhäuser dienen kann, führt dazu, daß die Wohnbebauung quantitativ in einem Bereich ein derartiges Übergewicht bekommt, wie dies mit einem Dorfgebiet nicht mehr zu vereinbaren sein dürfte. Gegen diese schleichende - d.h. ohne Bauleitplanung durchgeführte - Umwandlung eines Dorfgebietes in ein Wohngebiet muß sich der Landwirt wehren können. Das bedeutet nicht, daß eine derartige Bebauung generell unzulässig wäre. Es bleibt der Gemeinde B. unbenommen, das entsprechende Gebiet zu überplanen, wobei die Ast. die gerechte Abwägung im Planaufstellungsverfahren zur Not durch ein Normenkontrollverfahren durchsetzen könnte. Diese Möglichkeit wird ihr genommen, wenn die Umwandlung des Gebietes ohne Planung erfolgt. Die Ast. hat zwar keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, daß die anderen noch vorhandenen landwirtschaftlichen Betriebe aussiedeln oder aufgeben, eine Umwandlung dieser Betriebe in eine derart massive Wohnbebauung, die zu einer Verfremdung des Dorfgebietes führt, muß sie jedoch verhindern können. Ob schon das Bauvorhaben der Beigel. selbst oder möglicherweise erst aufgrund seiner Vorbildwirkung der näheren Umgebung den Dorfgebietscharakter nimmt, muß der Hauptsacheentscheidung vorbehalten bleiben. Allein die Tatsache, daß sich das Vorhaben der Beigel. nicht in die nähere Umgebung nach dem Maß der baulichen Nutzung einfügt, da ein Wohnbauvorhaben in derartiger Massivität dort nicht vorhanden ist, dürfte für diese Feststellung nicht ausreichen. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist damit als offen anzusehen, wenn auch mehr für den Erfolg der Ast. spricht.

Über das Begehren der Ast. ist daher im Rahmen einer Interessenabwägung zu entscheiden. Bei dieser Abwägung sieht der Senat das Interesse der Ast., von der Ausnutzung der Baugenehmigung bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren verschont zu bleiben, als höherwertig an gegenüber dem Interesse der Beigel. an der Errichtung des Wohngebäudes. Zugunsten der Beigel. als Bauherren spricht zwar die Wertung des Gesetzgebers, wie sie in den Regelungen betreffend die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zum Ausdruck gekommen ist. Durch den von der Grundregelung des § 80 I VwGO abweichenden Ausschluß der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage in § 10 II BauGBMaßnG hat der Gesetzgeber der Schaffung von Wohnraum einen Vorrang eingeräumt.

Andererseits ist aus der Sicht des Senats den Interessen der Ast. - aber auch der Bauherren - nicht gedient, wenn zunächst die genehmigten Gebäude fertig errichtet würden und sich in einem späteren Hauptverfahren herausstellen würde, daß die Baumaßnahme geschützte Nachbarrechte der Ast. verletzt. In einer derartigen Situation würden bereits vollendete Tatsachen geschaffen worden sein, die die Durchsetzung des möglicherweise nachbarlichen Abwehranspruches mindestens erheblich erschweren würden.

Ein solches Aussetzungsinteresse besteht auf Seiten der Ast. auch noch im jetzigen Zeitpunkt, obwohl das Gebäude der Beigel. weitgehend fertiggestellt ist. Die Ast. fühlt sich nicht durch den Baukörper an sich in ihren Rechten beeinträchtigt, sondern durch die spätere Wohnnutzung. Aus diesem Grunde war den Beigel. auf ihren Antrag auch einzuräumen, das Gebäude so weit von außen fertigzustellen, daß die Bausubstanz erhalten werden kann. Da die Baugenehmigung jedoch nicht nur die Fertigstellung des Hauses beinhaltet, sondern auch dessen Nutzung, war noch Raum für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Baugenehmigung.

Rechtsgebiete

Verwaltungsrecht

Normen

BauGB § 34 II; BauNVO §§ 5, 6, 15 I; VwGO §§ 6, 80 V