Erweiterter Bestandsschutz
Gericht
BVerwG
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
07. 01. 1986
Aktenzeichen
4 C 80/82 (Lüneburg)
Der baurechtliche Bestandsschutz kann eine begrenzte Erweiterung des geschützten Baubestandes rechtfertigen, soweit seine zeitgemäß-funktionsgerechte Nutzung dies erfordert, z. B. durch die Errichtung von Garagen.
Es besteht ein Anspruch auf Genehmigung baulicher Maßnahmen, die nach Landesrecht baugenehmigungsbedürftig sind und aufgrund Bestandsschutzes an dem geschützten Gebäude oder darüber hinausgreifend durchgeführt werden dürfen.
Zum Sachverhalt:
Der Kl. wandte sich gegen eine Beseitigungsanordnung und begehrte zugleich die Verpflichtung des Bekl. zur - nachträglichen - Genehmigung der durchgeführten Maßnahmen zum Umbau eines Wohnhauses und zur Errichtung eines Nebengebäudes mit drei Garagen und zwei Geräteräumen. Das Wohnhaus besteht seit spätestens 1926. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich einer Landschaftsschutzverordnung. Im Bebauungsplan ist es im wesentlichen als Grünfläche festgesetzt. Der Bekl. versagte die Baugenehmigung mit der Begründung, das Vorhaben sei mit den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht vereinbar und liege auch nicht mehr im Rahmen des Bestandsschutzes. Er forderte den Kl. unter Bußgeldandrohung zugleich auf, das Wohnhaus zu beseitigen. Das VG hat die Klage abgewiesen. Das OVG hat unter Änderung des erstinstanzlichen Urteils die Beseitigungsanordnung aufgehoben und den Bekl. verpflichtet, dem Kl. einen Bauvorbescheid zu erteilen.
Die Revision des Bekl. hatte keinen Erfolg.
Aus den Gründen:
... Die Anordnung zur Beseitigung des Wohnhauses und des Nebengebäudes ist rechtswidrig und verletzt den Kl. in seinem Eigentumsrecht. Das BerGer. hat sie deshalb zu Recht aufgehoben (§ 113 I 1 VwGO).
Zwar entsprechen das Wohnhaus und das Nebengebäude nicht dem geltenden Bebauungsrecht, weil sie entweder innerhalb einer in dem Bebauungsplan „Nr. 1 D D“ rechtsverbindlich festgesetzten Grünfläche (vgl. § 30 BBauG) oder - bei Ungültigkeit des Bebauungsplans - im Außenbereich liegen und dort - wie das BerGer. ohne Verstoß gegen Bundesrecht ausgeführt hat - öffentliche Belange, insbesondere die natürliche Eigenart der Landschaft beeinträchtigen (§ 35 II, III BBauG). Aus welchem dieser Gründe das Vorhaben dem geltenden Bebauungsrecht widerspricht, hat der Senat nicht zu entscheiden; denn das Vorhaben ist vom Bestandsschutz gedeckt, den ein ursprünglich im Einklang mit dem materiellen Baurecht errichtetes Gebäude aufgrund des Art. 14 I 1 GG genießt (BVerwG, Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 112, S. 90 (93); BVerwG, Buchholz 406.11 §§ 29 BBauG Nr. 21, S. 7 (11)). Dieser Bestandsschutz setzt sich sowohl gegenüber den Festsetzungen eines Bebauungsplans als auch gegenüber den nach § 35 II, III BBauG für sonstige Vorhaben im Außenbereich maßgebenden öffentlichen Belangen durch.
Der Bestandsschutz berechtigt nicht nur, eine rechtmäßig errichtete bauliche Anlage in ihrem Bestand zu erhalten und sie wie bisher zu nutzen; er berechtigt auch dazu, die zur Erhaltung und zeitgemäßen Nutzung der baulichen Anlage notwendigen Maßnahmen durchzuführen (vgl. BVerwG 47, 126; BVerwG, Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 172, S. 137 f.; BVerwG, Buchholz 406.16 Eigentumsschutz Nr. 23; BVerwG, Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 181). Vom Bestandsschutz nicht mehr gedeckt sind allerdings solche Maßnahmen, die einer Neuerrichtung (Ersatzbau) gleichkommen. Die Identität des wiederhergestellten mit dem ursprünglichen Bauwerk muß gewahrt bleiben. Kennzeichen dieser Identität ist es, daß das ursprüngliche Gebäude nach wie vor als die „Hauptsache“ erscheint. Hieran fehlt es dann, wenn der mit der Instandsetzung verbundene Eingriff in den vorhandenen Bestand so intensiv ist, daß er die Standfestigkeit des gesamten Bauwerks berührt und eine statische Nachberechnung des gesamten Gebäudes erforderlich macht, oder wenn die für die Instandsetzung notwendigen Arbeiten den Aufwand für einen Neubau erreichen oder gar übersteigen, oder wenn die Bausubstanz ausgetauscht oder das Bauvolumen wesentlich erweitert wird.
Der erkennende Senat hat seiner Entscheidung die tatsächlichen Feststellungen des BerGer. und dessen Würdigung der Gegebenheiten des Einzelfalls zugrunde zu legen (§ 137 II VwGO). Auf dieser Grundlage hält die Annahme, die Baumaßnahmen des Kl. seien vom Bestandsschutz gedeckt, der revisionsgerichtlichen Überprüfung stand.
Das BerGer. hat aufgrund einer Augenscheinsannahme und der Erörterung der baulichen Maßnahmen mit den Beteiligten festgestellt, die Arbeiten seien nicht so umfangreich und in den Bestand eingreifend gewesen, daß eine statische Berechnung für das gesamte Gebäude erforderlich geworden wäre. Die Außenmauern seien in ihrem Bestand erhalten geblieben, die Fundamente seien beim Gießen der Fundamentverbreiterung für das aus Wärmeschutzgründen errichtete Verblendmauerwerk nur bei kleineren Hohlräumen und an abgebröckelten Stellen im Randbereich mit ausgegossen worden ...
Der Arbeitsaufwand für Instandsetzungsmaßnahmen als Merkmal zur Beantwortung der Frage, ob die Identität des ursprünglichen Gebäudes gewahrt bleibt, umfaßt nur solche Maßnahmen, die „zur Erhaltung des Gebäudes wahrhaft erforderlich" sind und bemißt sich nach den Kosten dieser Maßnahmen (vgl. BVerwG, Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 172 S. 138). Außer Betracht bleiben also Kosten für Maßnahmen, die zwar den Wohnwert eines Gebäudes erhöhen, aber zur Aufrechterhaltung der Wohnnutzung nicht unumgänglich sind. Zutreffend hat danach das BerGer. in den notwendigen Erhaltungsaufwand einbezogen die Arbeiten am Dachgeschoß, dessen Gebälk wegen Holzbockbefalls ausgewechselt werden mußte, ferner die Verblendung des Hauses, die eine ausreichende Wärmeisolierung ermöglichen sollte. Es hat zutreffend dagegen die Kosten für Fliesenarbeiten, Fußbodenbeläge, Elektroarbeiten, Installationsarbeiten und schalldämmende Maßnahmen außer acht gelassen, weil nach seinen Feststellungen ohne diese Maßnahmen das Gebäude grundsätzlich als Wohngebäude weiterhin nutzbar gewesen wäre und weil diese Maßnahmen nur dazu dienten, das Haus mit modernem Wohnkomfort auszustatten. Es durfte ferner außer acht lassen die Kosten für das Aufschütten und Planieren der Zufahrt und des Hofes. Die danach vom BerGer. gezogene Schlußfolgerung, die zur Erhaltung des Gebäudes mit 256 m2 Wohnfläche wahrhaft erforderlichen Maßnahmen mit einem Kostenaufwand von unter 200000 DM lägen weit unter den Kosten eines entsprechenden Neubaus, läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen.
Zu Recht hat das BerGer. den Bestandsschutz nicht daran scheitern lassen, daß das Gebäude von außen einem Neubau gleicht. Dieser Eindruck entsteht durch die Herstellung des Verblendmauerwerks und das neue Dachgestühl (zum letzteren vgl. auch BVerwG, Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 187). Entscheidend ist, daß diese Maßnahmen das Volumen des Hauses nicht wesentlich erweitert haben. Durch das Hochziehen von Außenmauern bis zum Obergeschoß sind zwar die Einrichtung eines Bades und einer Küche im Obergeschoß begünstigt und zwei Wohnräume erweitert worden. Der nutzbare Raum ist nach den Feststellungen des BerGer. jedoch nicht wesentlich vergrößert worden, Innengrundriß und Aufteilung, insbesondere Innenwände, Decken und Fußböden, Flure und Raumhöhen sind unverändert geblieben. Offensichtlich handelt es sich daher um ein zwar renoviertes, aber doch altes Gebäude.
Zutreffend hat das BerGer. auch keine Feststellungen dazu getroffen, ob das Gebäude früher nur zwei Wohnungen oder schon, wie jetzt, drei Wohnungen enthalten hat. Wenn die unverändert bleibende Wohnfläche eines Wohngebäudes anders, nämlich von bisher zwei auf nunmehr drei Wohnungen aufgeteilt wird, so berührt das den Bestandsschutz des Gebäudes nicht. Zwar kann sich das BerGer. insoweit nicht auf die Entscheidung des Senats vom 13. 6. 1980 (Buchholz 406.16 Eigentumsschutz Nr. 19) stützen; in dieser Entscheidung ging es nicht um die Bedeutung der Zahl der Wohnungen für den Bestandsschutz, sondern um die bodenrechtliche Relevanz der Zahl der Wohnungen im Zusammenhang mit § 34 BBauG 1960. So kann die Veränderung der Zahl der Wohnungen für den Bestandsschutz etwa von Bedeutung sein, wenn diese Veränderung substanzaustauschend oder die Standfestigkeit berührend in den Bestand eingreift oder einen den Kosten für einen Neubau vergleichbaren Arbeitsaufwand erfordert. Beim Bestandsschutz geht es nämlich um die Frage, ob die bauliche Anlage selbst oder ihre Nutzung im wesentlichen dieselbe bleibt oder eine andere wird. Eine mit einer anderen Einteilung der Wohnfläche verbundene Erhöhung der Zahl der Wohnungen wie hier von zwei auf drei macht das Wohngebäude nicht zu einem anderen.
Zu Recht hat das BerGer. die Abbruchanordnung auch insoweit aufgehoben, als sie das ca. 13,8 m mal 5,5 m große Nebengebäude mit drei Garagen und zwei Geräteräumen betrifft. Das BerGer. hat ausgeführt, dieses Gebäude stelle eine untergeordnete Nebenanlage dar, die nach heutiger Auffassung zur funktionsgerechten Nutzung der Wohnungen erforderlich sei. Das heutige Bauordnungsrecht verlange Stellplätze oder Garagen in ausreichender Zahl für den zu erwartenden Zu- und Abgangsverkehr. Abstellräume dienten der Gewährleistung einer heutigen Anforderungen entsprechenden Wohnnutzung des Hauptgebäudes; dieses besitze, bedingt durch die Bodenverhältnisse in der Nähe des Zwischenahner Meeres, keinen Keller.
Der Senat hat im Urteil vom 5. 7. 1974 (Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 112) wie schon in vorangegangenen Entscheidungen (BVerwGE 25, 161 (163); BVerwGE 27, 341 (343) = NJW 1968, 66; BVerwGE 36, 296 (301) = NJW 1971, 1054; BVerwG, Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 96, S. 42 (44); Buchholz 407.4 § 9 FStrG Nr. 11, S. 9 (10)) die Möglichkeit angedeutet, daß sich aus dem Bestandsschutz, weil es sich um einen Schutz der Bestandsnutzung handelt, „über den Schutz des tatsächlich Vorhandenen hinaus“ auch ein Anspruch auf eine - begrenzte - Erweiterung des Bestehenden herleiten läßt, soweit die Beibehaltung und funktionsgerechte Nutzung des Vorhandenen dies erfordert“. Er hat die Frage in dem mit Urteil vom 5. 7. 1974 entschiedenen Fall, in dem es um eine Garage ging, nur deshalb offengelassen, weil jedenfalls die Hauptnutzung keinen Bestandsschutz hatte. Er bejaht diese Frage: Der begrenzten Erweiterung, hier durch Errichtung des Nebengebäudes mit drei Garagen und zwei Abstellräumen, kann nicht entgegengehalten werden, sie sei unzulässig, weil das Hauptgebäude und seine Nutzung bebauungsrechtlich unzulässig seien. Sie ist vielmehr zulässig, wenn sie öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht über das hinaus verletzt, was die Erhaltung des Bestands und seine weitere Nutzung bereits mit sich bringen. So ist es hier; es ist nicht erkennbar, daß hier die Nebenanlage an bebauungsrechtliche Schranken stößt, die nicht schon durch den Bestandsschutz des Wohnhauses überwunden sind. Zur funktionsgerechten Nutzung einer Wohnung gehört nämlich die Möglichkeit, ein Kraftfahrzeug unterzustellen, ebenso wie die Möglichkeit, Geräte abzustellen, die im Rahmen der üblichen Nutzung des bestandsgeschützten Wohngebäudes gebraucht werden. Die Wertung des BerGer., das diesen Zwecken dienende Nebengebäude überschreite im Verhältnis zu dem bestandsgeschützten Hauptgebäude nicht das Maß des Geringfügigen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das BerGer. hat den Bekl. zu Recht verpflichtet, dem Kl. einen positiven Bauvorbescheid für die von ihm durchgeführten, nach Landesrecht baugenehmigungsbedürftigen Maßnahmen zu erteilen. Zwar vermittelt der Bestandsschutz keinen Anspruch auf Genehmigung des ursprünglich zwar materiell rechtmäßig geschaffenen, inzwischen aber materiell rechtswidrig gewordenen Bestandes; denn bei einer jetzt beantragten Genehmigung für den Bestand ist das jetzt geltende Recht anzuwenden; ein Anspruch auf nachträgliche Genehmigung eines inzwischen rechtswidrig gewordenen Zustandes besteht nicht.
Anders zu beantworten ist jedoch die Frage, ob ein Anspruch auf Genehmigung solcher - nach Landesrecht baugenehmigungsbedürftiger - Maßnahmen besteht, die aufgrund des Bestandsschutzes an dem geschützten Gebäude oder darüber hinausgreifend materiell, nämlich aufgrund des Art. 14 I 1 GG, rechtmäßig durchgeführt werden dürfen. Die Baugenehmigung ist die Feststellung, daß das beantragte Vorhaben mit dem materiellen Recht übereinstimmt. Ist diese materielle Übereinstimmung, und sei es auch aufgrund des Bestandsschutzes, gegeben, besteht ein Anspruch auf Erteilung der - nur das formelle Bauverbot aufhebenden - Genehmigung. Der formellrechtlichen Genehmigungspflicht entspricht ein formellrechtlicher Genehmigungsanspruch.
Kanzlei Prof. Schweizer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH © 2020
Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen