Sicherungspflicht für Gehwege

Gericht

BVerwG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

11. 03. 1988


Aktenzeichen

4 C 78/84 (München)


Leitsatz des Gerichts

Bundes-(verfassungs-) recht erlaubt, die Pflicht zur Sicherung der Gehwege bei Schneefall und Eisglätte dem Eigentümer baulich nutzbarer Grundstücke für alle angrenzenden Straßen aufzuerlegen, zu denen eine rechtliche und tatsächliche Zugangsmöglichkeit besteht.

Tatbestand

Zum Sachverhalt:

Die Bet. streiten um die Räum- und Streupflicht des Kl. für den Gehweg an der C.-Allee. Der Kl. ist Eigentümer eines Grundstücks in der J.-Straße. Dort steht sein Wohnhaus in einem Garten. Zugang und Zufahrt führen zur J.-Straße. Hinter dem Garten verläuft die C.-Allee, eine zweispurige anbaufreie Straße mit einem Geh- und Radweg auf jeder Seite. Zwischen Gehweg und Grundstücksgrenze liegt eine 2 m hohe und 4,50 m breite Böschung, die dicht bepflanzt ist.

Die Bekl. teilte dem Kl. mit, daß er zum Räumen von Schnee und Streuen bei Glätte des Gehweges an der C.-Allee verpflichtet sei. Widerspruch und Klage gegen diesen Bescheid blieben erfolglos. Das BerGer. gab der Klage statt. Die Revision führte zur Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

... II. Das BerGer. hat die Sicherungspflichten nach §§ 1 ff. der (auf Art. 51 IV, V BayStrWG beruhenden) Sicherungsverordnung anhand des Grundgesetzes bestimmt. Dabei hat es Inhalt und Tragweite der Art. 14 und 12 GG verkannt.

Das angefochtene Urteil beruht auf der Annahme, daß den Eigentümern der von der Sicherungsverordnung erfaßten Grundstücke mit Rücksicht auf Art. 14 und 12 II GG eine Pflicht zur Sicherung der angrenzenden Gehwege nur auferlegt werden dürfe, soweit objektiv eine Beziehung zwischen dem Grundstück und der Straße im Sinne eines zumindest abstrakten Vorteils bestehe. Ein solcher Vorteil liege nicht schon in der Möglichkeit eines beliebigen Zugangs. Vielmehr müsse die Straße eine Zugangsmöglichkeit eröffnen, ohne die eine Nutzung des Grundstückes zumindest beeinträchtigt würde. Eine so enge Bindung für das Orts- und Landesrecht läßt sich dem Grundgesetz jedoch nicht entnehmen. Art. 3, 14 und 12 GG stehen einer Sicherungspflicht für Gehwege an angrenzenden Straßen nicht entgegen, die an die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit eines Zugangs anknüpft. Weitergehende Vorteile sind zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer Sicherungspflicht nicht erforderlich.

Das BerGer. sieht in der Sicherungspflicht eine Bestimmung des Inhalts und der Schranken des Grundeigentums i. S. von Art. 14 I 2, II GG und leitet vornehmlich aus diesem "verfassungsrechtlichen Hintergrund" die einschränkende Auslegung des Ortsrechts ab. Inwieweit diese Zuordnung einer an das Grundeigentum nur tatbestandlich anknüpfenden Leistungspflicht zur Eigentumsgarantie des Art. 14 GG berechtigt ist, mag dahingestellt bleiben (vgl. dazu BVerfGE 63, 312 (327) = NJW 1983, 1841 m. w. Hinw.). Auch wenn man dem BerGer. in diesem Ansatz folgt, bleiben die daraus abgeleiteten Konsequenzen nicht überzeugend; denn eine Sicherungspflicht für Gehwege angrenzender Straßen würde die Grenzen einer zulässigen Inhaltsbestimmung solange nicht überschreiten, wie eine rechtliche und tatsächliche Zugangsmöglichkeit zu diesen Straßen vom Grundstück aus gegeben ist. Das Maß und der Umfang der dem Eigentümer von der Verfassung zugemuteten und vom Gesetzgeber zu realisierenden Bindung hängt wesentlich davon ab, ob und in welchem Ausmaß das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht. Inhaltsbestimmungen dürfen deshalb, gemessen am sozialen Bezug und der sozialen Bedeutung des Objekts sowie mit Blick auf den Regelungszweck, nicht unverhältnismäßig sein (BVerfGE 58, 137 (147 f.) = NJW 1982, 633; s. auch BVerfGE 52, 1 (29 f.) = NJW 1980, 985). Innerhalb der geschlossenen Ortslage an öffentlichen Straßen gelegene Grundstücke sind grundsätzlich baulich nutzbar und können mit Rücksicht auf diese in hohem Maße gemeinschaftsbezogene und -gebundene Nutzung weitgehenden Bindungen unterworfen werden. Verfassungsrechtlich unbedenklich sind solche Bindungen vor allem dann, wenn sie dem Eigentümer im Interesse der Nutzbarkeit (auch) seines Grundstückes auferlegt werden. Ein solcher Zusammenhang braucht aber nicht so eng zu sein, daß dem Eigentümer selbst unmittelbare oder annähernd gleichwertige Vorteile wieder zufließen. Zur Rechtfertigung einer Eigentumsbindung genügt vielmehr auch ein allgemeinerer Sachzusammenhang zwischen Eigentumsnutzung und Bindung des Eigentümers, der eine ihm auferlegte Pflicht als angemessen und nicht unverhältnismäßig erscheinen läßt.

Eine Sicherungspflicht des Grundeigentümers bei Gehwegen, die an sein Grundstück angrenzen oder es erschließen, ist jedenfalls dann nicht unverhältnismäßig oder unangemessen, wenn eine rechtliche und tatsächliche Zugangsmöglichkeit zu der Straße besteht. Der Grundeigentümer profitiert von der Sicherung eines solchen Gehweges nicht nur als Teilnehmer am allgemeinen Fußgängerverkehr, sondern ihm ist zusätzlich die Chance einer Verbesserung der Erreichbarkeit seines eigenen Grundstückes eröffnet. Diese zusätzliche Nutzungsmöglichkeit rechtfertigt es, ihm eine Mitverantwortung für die Sicherung aller angrenzenden Gehwege aufzuerlegen. Angesichts des hohen Nutzwertes eines erschlossenen Innenbereichsgrundstückes verstößt eine solche verhältnismäßig geringe Belastung auch nicht gegen das Übermaßverbot. Ob weitere Zugänge dem Eigentümer im Einzelfall tatsächlich zum Vorteil gereichen, ist für diese Bewertung ohne Belang. Ebensowenig kommt es darauf an, ob - wie das BerGer. es formuliert - ohne einen solchen Zugang die Nutzbarkeit des Grundstückes zumindest gemindert wäre. Bei Regelungen i. S. von Art. 14 I GG kann der Gesetzgeber die Interessenlage generalisierend würdigen. Die handgreiflichen Vorteile mehrerer Zugänge ergeben sich aber zumeist erst aus den individuellen Gewohnheiten und Bedürfnissen der Bewohner, ihren persönlichen Beziehungen zur Nachbarschaft, der Belegenheit regelmäßig zu Fuß aufgesuchter Ziele und Ähnlichem. Auf solche Umstände braucht weder das Landesrecht noch das Ortsrecht bei inhaltsbestimmenden Regelungen Rücksicht zu nehmen. Anders könnte es allerdings dann liegen, wenn der Eigentümer aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen daran gehindert ist, einen Zugang zu der zu sichernden Straße anzulegen. Das braucht hier nicht vertieft zu werden, weil dem Eigentümer, wie im einzelnen noch darzulegen ist, in einem solchen Fall schon mit Rücksicht auf das allgemeine Gleichheitsgebot des Art. 3 I GG eine Sicherungspflicht nicht auferlegt werden kann.

Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) zwingt ebenfalls nicht dazu, eine Sicherungspflicht des Grundeigentümers auf solche Gehwege zu beschränken, zu denen eine Zuwegung besteht oder jedenfalls vernünftigerweise zu schaffen ist, weil ohne sie das Grundstück in seiner Nutzung beeinträchtigt wäre. Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz läßt sachgerechte Differenzierungen ebenso wie Typisierungen zu und ist nicht schon dann verletzt, wenn eine Regelung die von ihr Betroffenen aufgrund individueller Besonderheiten ungleich trifft.

Allerdings besteht im Hinblick auf die Sicherungspflicht eine Ungleichheit zwischen Eigentümern solcher Grundstücke, die nur an eine Straße angrenzen oder nur von einer Straße erschlossen werden, und denjenigen, deren Grundstücke an zwei oder mehreren Straßen liegen oder von zwei oder mehreren Straßen erschlossen werden. Die Vorteile weiterer Erschließungsanlagen wiegen wesentlich geringer als die der ersten, die erst die bauliche Nutzbarkeit eines Grundstückes ermöglicht. Im Einzelfall können weitere Anbindungen wegen zusätzlichen Straßenlärms sogar unwillkommen sein. Die Pflicht zum Schneeräumen und zum Streuen bei Glätte trifft daher die letztgenannte Gruppe von Eigentümern härter.

Bei der landes- und ortsrechtlichen Regelung der Gehwegsicherungspflicht können diese Unterschiede indes grundsätzlich unbeachtet bleiben. Es ist nicht willkürlich, das Angrenzen an eine Straße bzw. das Erschlossensein eines Grundstückes durch sie zum Anknüpfungspunkt für eine auf diese Straße bezogene Sicherungspflicht zu nehmen. Der allgemeine Gesichtspunkt, daß solche Straßen die Zugänglichkeit eines Grundstücks generell verbessern und somit ungeachtet der Besonderheiten der Lage des Grundstückes und der Bedürfnisse der Bewohner vorteilhaft sind, rechtfertigt eine Regelung, die insofern auf weitere Differenzierungen verzichtet. Dafür sprechen beachtliche sachliche Gründe. Abgesehen von dem hohen Regelungsaufwand, den eine Abstufung nach Erschließungsvorteilen erfordern würde, lassen sich die besonderen Probleme der winterlichen Gehwegsicherung durch eine umfassende Abwälzung auf die Grundstückseigentümer zweckmäßig und wirksam lösen. In der Regel müssen die Gehwege innerhalb der ganzen geschlossenen Ortslage zur gleichen Zeit durch Schneeräumen und durch Streuen bei Eisbildung in einen verkehrssicheren Zustand versetzt werden; mitunter muß dies sogar mehrmals am Tage wiederholt werden. Diese Aufgabe kann am besten von einer großen Zahl Pflichtiger bewältigt werden. Geeignet sind dafür in erster Linie die Eigentümer der an die zu reinigenden Gehwege angrenzenden Grundstücke. Ihre Inanspruchnahme entspricht deswegen auch dem Herkommen (so auch BVerwGE 22, 26 (27 f.) = NJW 1966, 170).

Willkürlich und mit Art. 3 I GG unvereinbar wäre allerdings die undifferenzierte Begründung einer Gehwegsicherungspflicht auch für solche Straßen, zu denen der Grundstückseigentümer aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keinen Zugang nehmen kann. In diesem Fall liegt in der Begründung einer Sicherungspflicht für alle angrenzenden Straßen ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Von einem Vorteil durch die Straße kann dann nicht mehr die Rede sein. Ein Grundstückseigentümer, der den Gehweg in einer solchen Lage trotzdem sichern müßte, würde durch diese Pflicht in grundlegend anderer Weise betroffen als die übrigen, bei denen der Sicherungslast ein Vorteil jedenfalls in der Gestalt einer Zugangsmöglichkeit gegenübersteht. Dieser qualitative Unterschied darf bei der Überwälzung der Sicherungspflicht nicht außer acht gelassen werden. Im Sinne einer solchen Einschränkung kommt daher eine verfassungskonforme Auslegung der landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage für die Sicherungsverordnung und der Sicherungsverordnung selbst in Betracht (vgl. dazu auch BVerwG, NJW 1978, 438 = BRS 37, Nr. 194).

Das BerGer. stützt sich bei seiner Auslegung dieser Bestimmungen außerdem auf Art. 12 II GG. Danach darf niemand zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. Um eine solche Dienstleistungspflicht handelt es sich bei der Gehwegsicherung nicht. Die Grundeigentümer brauchen diese Aufgabe nicht selbst zu erledigen. Auf welche Weise sie ihrer Verpflichtung nachkommen, bleibt ihnen überlassen. Sie können dafür Hilfspersonen anstellen oder ein Reinigungsinstitut damit betrauen (BVerwGE 22, 26 (28 f.) = NJW 1966, 170).

Das BerGer. hat durch die unrichtige Anwendung des Grundgesetzes bei der Auslegung landesrechtlicher Bestimmungen Bundesrecht verletzt: Das zwingt hier zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache in die Vorinstanz (§ 144 III Nr. 2 VwGO). Das BerGer. wird über Inhalt und Tragweite der Sicherungsverordnung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu befinden haben. Ob das Landes- oder Ortsrecht selbst die Sicherungspflicht in dem vom BerGer. angenommenen Sinne einschränkt, hat der Senat - das sei zur Klarstellung betont - nicht entschieden. Besteht eine solche Einschränkung aus Rechtsgründen nicht, so muß in tatsächlicher Hinsicht noch abschließend geklärt werden, ob der Kl. über die an der rückwärtigen Grenze seines Grundstückes verlaufende bewachsene Böschung einen Zugang zum Gehweg der C.-Allee schaffen kann und ob ihm dies erlaubt ist. Ob die im Prozeß abgegebene Erklärung der Bekl. zur rechtlichen Absicherung einer Zugangsmöglichkeit ausreicht, erscheint zweifelhaft (vgl. BVerwG, NJW 1978, 438 = BRS 37, Nr. 194 (195); BVerwG, Buchholz 406.11 § 127 Nr. 49).

Rechtsgebiete

Verwaltungsrecht; Schnee und Glatteis

Normen

GG Art. 3, 14, 12; BayStrWG Art. 51 IV, V