Zeitraum der gerichtlichen Sachprüfung bei Sozialhilfeleistungen

Gericht

OVG Münster


Art der Entscheidung

Beschluss


Datum

27. 05. 1994


Aktenzeichen

24 E 908/93


Leitsatz des Gerichts

Die gerichtliche Sachprüfung erstreckt sich bei einer auf laufende Sozialhilfeleistungen gerichteten Untätigkeitsklage regelmäßig auf alle mehr als drei Monate vor Klageerhebung liegenden (monatlichen) Bewilligungszeiträume seit Einlegung eines Widerspruchs oder Antragstellung, wenn der Sozialhilfeträger "untätig" i.S. des § 75 S. 1 VwGO war.

Tatbestand

Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. hatte Klage wegen Gewährung von Hilfe zur Heimpflege erhoben, obwohl für den in Frage stehenden Zeitraum kein Vorverfahren durchgeführt worden war.

Das OVG hat zum Teil die Voraussetzungen einer "Untätigkeitsklage" angenommen.

Entscheidungsgründe

Auszüge aus den Gründen:

Die Klage ist als "Untätigkeitsklage" i.S. des § 75 VwGO zulässig, soweit sie den Zeitraum vom 1. 1. bis 30. 9. 1992 betrifft, auch wenn für diesen Zeitraum ein Vorverfahren gem. § 68 VwGO, § 114 II BSHG nicht durchgeführt worden ist. Insoweit lagen indes die Voraussetzungen, unter denen nach § 75 S. 1 VwGO eine Klage abweichend von § 68 VwGO zulässig ist, vor.

Nach § 75 S. 1 VwGO ist die Klage abweichend von § 68 VwGO zulässig, wenn über einen Widerspruch oder über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist.

Da hier ein Antrag jedenfalls sinngemäß gestellt worden ist, kann offenbleiben, ob auch ohne Antrag allein die Kenntnis der Behörde von dem (höheren) Bedarf zur Erhebung der Untätigkeitsklage ausreichen würde. Die Pflegerin der Kl. hatte den Bekl. bereits im November 1991 von der angekündigten Erhöhung der Pflegesätze ab Januar 1992 in Kenntnis gesetzt und damit eine entsprechende Erhöhung der Sozialhilfe sinngemäß beantragt.

Die erst am 5. 12. 1992 erhobene Klage ist auch außerhalb der Sperrfrist des § 75 S. 2 VwGO erhoben worden. Gemessen an dieser (für den Regelfall) bestimmten Sperrfrist von drei Monaten war der Bekl. für die Zeit von Januar bis September 1992 "untätig" i.S. des § 75 S. 1 VwGO. Dies ergibt sich aus Folgendem: Die Hilfe zur Pflege ist ebenso wie die Hilfe zum Lebensunterhalt keine rentengleiche wirtschaftliche Dauerleistung mit Versorgungscharakter. Sie ist vielmehr Hilfe in einer gegenwärtigen Notlage. Infolgedessen kommt nur eine zeitabschnittsweise Hilfegewährung in Betracht. Die Voraussetzungen hierfür sind stets neu zu prüfen (vgl. BVerwGE 66, 342). Schließt bei der Verfolgung von Ansprüchen auf laufende Sozialhilfeleistungen der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides den der gerichtlichen Überprüfung in der Sache unterliegenden Zeitraum der Hilfegewährung regelmäßig ab, so läßt sich dies mangels eines (Widerspruchs-)Bescheides notwendigerweise nicht auf eine "Untätigkeitsklage" nach § 75 VwGO übertragen. Insoweit verbleibt als Anknüpfungspunkt für den der gerichtlichen Überprüfung in der Sache zugänglichen Zeitraum der Hilfegewährung bei laufenden Sozialhilfeleistungen der Ablauf der in § 75 VwGO genannten regelmäßigen "Sperrfrist" von drei Monaten seit der Einlegung des Widerspruchs oder seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes (vgl.BVerwGE 66, 342; vgl. auch OVG Münster, FEVS 37, 458; Urt. v. 20. 2. 1986 - 8 A 1019/84; Beschl. v. 6. 4. 1994 - 8 A 2278/91, wonach der gesamte der gerichtlichen Sachprüfung zugängliche Zeitraum auf diese Sperrfrist begrenzt wird).

Die "Sperrfrist" von drei Monaten ist nach Auffassung des Senats ausgehend vom Zeitpunkt der Klageerhebung an unter Berücksichtigung (regelmäßiger) monatlicher Bewilligungszeiträume für den vor Klageerhebung liegenden Zeitraum der Untätigkeit der Behörde rückwirkend zu berechnen. Gemessen an der in § 75 S. 2 VwGO (für den Regelfall) bestimmten Sperrfrist von drei Monaten ist die Klage nur in bezug auf eine Hilfegewährung für in diese Sperrfrist fallende Bewilligungszeiträume unzulässig, weil der den Behörden eingeräumte Entscheidungszeitraum insoweit nicht abgelaufen ist. Demgegenüber ist die Behörde regelmäßig in einem eine sachliche Überprüfung durch die Gerichte eröffnenden Sinne "untätig" für alle mehr als drei Monate vor Klageerhebung liegenden monatlichen Bewilligungszeiträume seit Einlegung des Widerspruchs oder seit Antragstellung.

Dies bedeutet bezogen auf den vorliegenden Fall, daß der Bekl. für den Zeitraum von Januar bis September 1992 untätig i.S. des § 75 S. 1 VwGO gewesen ist. Ausgehend vom Zeitpunkt der Klageerhebung am 5. 12. 1992 war nämlich unter Berücksichtigung der Sperrfrist eine sachliche Entscheidung für die Bewilligungszeiträume von Januar bis September 1992 zu erwarten. Dies gilt ohne weiteres für die Zeiträume bis August 1992, die von der Dreimonatsfrist nicht berührt werden. Der Bekl. war auch für den Monat September 1992 i.S. des § 75 S. 1 VwGO deshalb untätig, weil der Bekl. bereits zu Beginn des Monats September 1992 Kenntnis von dem höheren Pflegekostenbedarf der Kl. für diesen Bewilligungszeitraum hatte und er deshalb - ausgehend vom Zeitpunkt der Klageerhebung - spätestens seit dem 5. 9. 1992 für den Monat September 1992 untätig i.S. des § 75 S. 1 VwGO war.

Die Klage ist auch dann für den Zeitraum von Januar bis September 1992 zulässig, wenn - zeitweise - ein zureichender Grund dafür vorgelegen haben sollte, daß der Bekl. über das Sozialhilfebegehren der Kl. sachlich nicht entschied. Verfährt das VG nicht nach § 75 S. 3 VwGO, ist die außerhalb der Sperrfrist des § 75 S. 2 VwGO erhobene Klage als Untätigkeitsklage zulässig (vgl.BVerwGE 66, 342).

Soweit die Kl. Heimpflegekosten für den Zeitraum ab Oktober 1992 begehrt, ist die Klage mangels Durchführung eines Vorverfahrens unzulässig. Die Kl. hat für diesen Zeitraum "auf Vorrat" Untätigkeitsklage erhoben, weil sie insoweit die regelmäßige Sperrfrist des § 75 S. 2 VwGO nicht abgewartet hat, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt. Eine solche Klage widerspricht dem Sinn und Zweck des § 75 VwGO. Voraussetzung für eine gerichtliche Sachentscheidung ist in einem solchen Fall die Durchführung eines Vorverfahrens (vgl. BVerwGE 66, 342).

Es ist in auf Sozialhilfeleistungen gerichteten Klageverfahren auch unerheblich, daß jedenfalls zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über eine solche "auf Vorrat" erhobene Untätigkeitsklage die Sperrfrist abgelaufen ist. Da Sozialhilfeleistungen regelmäßig nur zeitabschnittsweise gewährt werden und die Voraussetzungen hierfür stets neu zu prüfen sind, wird der einer sachlichen Überprüfung durch das VG zugängliche Zeitraum maßgeblich durch die bei Klageerhebung abgelaufene Sperrfrist des § 75 S. 2 VwGO bestimmt.

Rechtsgebiete

Verwaltungsrecht