Notwendigkeit des Vorverfahrens bei Untätigkeitsklage

Gericht

BVerwG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

13. 01. 1983


Aktenzeichen

5 C 114/81 (Lüneburg)


Leitsatz des Gerichts

  1. Eine nach § 75 S. 1 VwGO in zulässiger Weise als Untätigkeitsklage erhobene Verpflichtungsklage bleibt, wenn das VG nicht nach § 75 S. 3 VwGO verfährt, zulässig und erfordert die Durchführung des Vorverfahrens als Voraussetzung für eine gerichtliche Sachentscheidung selbst dann nicht, wenn die Behörde den Kläger während des Rechtsstreits doch noch ablehnend bescheidet.

  2. Eine vor Ablauf der Sperrfrist „auf Vorrat“ erhobene Untätigkeitsklage erfordert die Durchführung eines Vorverfahrens als Voraussetzung für eine gerichtliche Sachentscheidung auch dann, wenn die Behörde den Kläger während des Rechtsstreits ablehnend bescheidet.

Tatbestand

Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl., dessen Ehe seit 1979 geschieden ist und der schon seit längerem von seiner Familie getrennt lebt, ist als Betriebsingenieur im öffentlichen Dienst tätig. Sein Bruttogehalt betrug 1977 monatlich rund 2890 DM. Für seine Unterkunft mit Vollpension und für sonstige Dienstleistungen hatte er aufgrund eines Vertrages im Jahre 1977 monatlich 560 DM zu zahlen. Am 1. 10. 1977 trat er zur Erfüllung dieser Verbindlichkeit in der Vergangenheit er war das Entgelt während der vorangegangenen neun Monate schuldig geblieben - und in der Zukunft sein (Netto-) Arbeitseinkommen insoweit ab, als es unter Berücksichtigung von Pfändungen (z. B. zur Befriedigung von rückständigen und laufenden Unterhaltsansprüchen der Ehefrau und einer der Töchter) noch pfändbar war. Aufgrund all dessen wurden ihm z. B. im Oktober 1977 nur 390,80 DM und im Dezember 1977 nur 355,55 DM ausgezahlt. Am 29. 9. 1977 beantragte er bei der Bekl., ihm Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) von 600 DM monatlich zu gewähren, weil um diesen Betrag das ihm verbleibende Arbeitseinkommen seinen Bedarf, den er im einzelnen darstellte, unterschritt. Mit Bescheid vom 21. 3. 1978 lehnte die Bekl. den Antrag ab, weil das „bereinigte Einkommen" auch unter Berücksichtigung der Unterhaltszahlungen an die unterhaltsberechtigten Angehörigen den nach dem Bundessozialhilfegesetz anzuerkennenden Bedarf übersteige; sonstige Verbindlichkeiten des Kl. könnten nicht berücksichtigt werden. Widerspruch erhob der Kl. nicht. Er hatte vielmehr bereits am 14. 2. 1978 „Untätigkeitsklage“ erhoben. Diese hat das VG abgewiesen. Das OVG hat die Berufung des Kl. zurückgewiesen.

Auch der Revision des Kl. blieb der Erfolg versagt.

Entscheidungsgründe

Auszüge aus den Gründen:

Der Kl. hat mit seinem Begehren zu Recht in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt. Allerdings hätte seine Klage zum überwiegenden Teil als unzulässig abgewiesen werden müssen, weil er das nach § 68 II VwGO zwingend vorgeschriebene Vorverfahren, an dem nach § 114 II sozial erfahrene Personen beratend zu beteiligen gewesen wären, nicht durchgeführt hat. Widerspruch erheben - bevor er bei dem VG um Rechtsschutz nachsuchen konnte - mußte er gegen den Bescheid der Bekl. vom 21. 3. 1978 insoweit, als mit diesem die Leistung von Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 1. 11. 1977 bis zum 21. 3. 1978 abgelehnt worden war, und gegen den in der mündlichen Verhandlung vor dem OVG am 23. 10. 1980 erteilten, die Folgezeit betreffenden ablehnenden Bescheid. Insoweit lagen die Voraussetzungen, unter denen nach § 75 S. 1 VwGO eine Klage abweichend von § 68 VwGO zulässig ist, nicht vor.

Im einzelnen ergibt sich dies aus folgendem: Die Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 11 ff. BSHG) ist keine rentengleiche wirtschaftliche Dauerleistung mit Versorgungscharakter. Sie ist vielmehr Hilfe in einer gegenwärtigen Notlage. Infolgedessen kommt nur eine zeitabschnittsweise Hilfegewährung in Betracht. Die Voraussetzungen hierfür sind stets neu zu prüfen (BVerwGE 25, 307; 57, 237). Von da her war die Bekl. - als der Kl. am 14. 2. 1978 Klage erhob - gemessen an der in § 75 S. 2 VwGO (für den Regelfall) bestimmten Sperrfrist von drei Monaten nur in bezug auf eine Hilfegewährung für die Monate September (zwei Tage) und Oktober 1977 „untätig“ i. S. des § 75 S. 1 VwGO gewesen. Insoweit war die Klage daher nach dieser Vorschrift zulässig. Sie blieb es auch (i. S. einer Sachurteilsvoraussetzung) ungeachtet dessen, daß die Bekl. den Kl. auch insoweit am 21. 3. 1978 ablehnend beschieden und daß der Kl. insoweit Widerspruch nicht erhoben hat; denn das VG war nicht nach § 75 S. 3 VwGO verfahren: Es hatte versäumt, die Bekl. aufzufordern, den Grund für die Verzögerung der Bescheidung des Kl. darzulegen, und bei Anerkennung des dargelegten Grundes als zureichend das Verfahren unter Bestimmung einer Frist für die (nachzuholende) Bescheidung auszusetzen. Nur bei einer (ablehnenden) Bescheidung innerhalb der vom Gericht nach § 75 S. 3 VwGO bestimmten Frist ist die gerichtliche Sachentscheidung erst nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens zulässig (BVerwGE 42, 108).

Was eine von November 1977 an (bis zur Bescheidung am 21. 3. 1978) Monat für Monat neu in Frage stehende Hilfegewährung anging, so hat der Kl. Untätigkeitsklage „auf Vorrat“ erhoben. Eine solche widerspricht dem Sinn und Zweck des § 75 VwGO. Insoweit hätte er gegen den genannten Bescheid zunächst nach § 68 II VwGO Widerspruch erheben müssen. Dahingehend hatte die Bekl. ihn auch belehrt. Jedoch hat er diesen Rechtsbehelf zu keiner Zeit eingelegt.

Klage „auf Vorrat“ und damit in unzulässiger Weise hat der Kl. auch in bezug auf die Hilfegewährung für Zeitabschnitte erhoben, die zwischen dem 22. 3. 1978 und dem 23. 10. 1980 lagen. Zulässig werden konnte diese Klage nicht allein dadurch, daß die Bekl. den Kl. (auf Veranlassung des BerGer.) am 23. 10. 1980 „verfahrensbegleitend“ beschied. Auch dieser Bescheid hätte zunächst einem Vorverfahren unter Beteiligung sozial erfahrener Personen (§ 114 II BSHG) zugeführt werden müssen. Hierauf hat das BVerwG unter Bezugnahme auf seine Entscheidungen in BVerwGE 21, 208 (210); 25, 307 (309) und 28, 216 (218) in seinem Beschluß v. 26. 2. 1982 - 5 C 115/81 - erneut hingewiesen. Das OVG hätte - nachdem es eine verfahrensbegleitende Bescheidung des Kl. in bezug auf Zeitabschnitte zwischen März 1978 und Oktober 1980 herbeigeführt hatte - folgerichtig die Erhebung des Widerspruchs seitens des Kl. und die Bescheidung dieses Widerspruchs durch die Bekl. unter Beachtung von § 114 II BSHG herbeiführen müssen (BVerwG, FEVS 23, 7); denn § 68 II VwGO steht nicht zur Disposition der Bet. Aber auch das VG kann nicht von der Durchführung des Vorverfahrens befreien. Hierüber ist abschließend eine Regelung im Gesetz, nämlich in § 75 VwGO, getroffen. Nur wenn die dort normierten Voraussetzungen vorliegen, ist die Klage abweichend von § 68 VwGO zulässig.

Soweit nach alledem die Klage zulässig ist, ist sie auch vom OVG zu Recht als unbegründet erachtet worden. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf der Verletzung von Bundesrecht. Was die Hilfegewährung für die zwei Tage des Monats September 1977 angeht, so stellt sich die Frage, ob das Einkommen des Kl., das dem nach dem Sozialhilferecht zu ermittelnden Bedarf gegenüberzustellen war, um Beträge zu kürzen war, die er von seinem Einkommen zum Zwecke der Tilgung von Schulden abgetreten hatte, nicht; denn er hat die Abtretung erst am 1. 10. 1977 erklärt. Im übrigen hat das OVG - für das BVerwG bindend (§ 137 II VwGO) - in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß dem Kl. unter Berücksichtigung der Gehaltspfändung zum Zwecke der Erfüllung der ihm gegenüber seiner Ehefrau und seiner Tochter obliegenden Unterhaltspflicht (vgl. dazu BVerwGE 55, 148) ein Einkommen zur Verfügung gestanden hat, das den sozialhilferechtlichen Bedarf überstiegen hat.

Die zuletzt erwähnte tatsächliche Feststellung trifft auch für den Monat Oktober 1977 zu. Der Umstand, daß dem Kl. in diesem Monat nur 390,80 DM ausgezahlt worden sind - während nach der Feststellung des VG der Regelsatzbedarf für 1977 DM 646 monatlich betragen hat -, beruht darauf, daß im Rahmen der „persönlichen Abzüge“ aufgrund der Abtretung 608 DM an die Vermieterin des Kl. abgeführt worden sind. Zu Recht hat das OVG dazu ausgeführt, die Abtretung habe bei der Bedarfsberechnung außer Betracht zu bleiben, weil sie der Tilgung von Schulden diene, was nicht Aufgabe der Sozialhilfe sei. Zu Unrecht beruft sich der Kl. demgegenüber auf das Urteil des Senats vom 15. 12. 1977 (BVerwGE 55, 148), insbesondere auf dessen zweiten Leitsatz, nämlich daß es auf die tatsächliche Lage des Einkommensbeziehers ankomme und darauf, ob er in dieser Lage imstande sei, seinen notwendigen Unterhalt aus eigenen Mitteln (ausreichend) zu beschaffen. Die genannte Entscheidung steht der Ansicht des Kl. gerade entgegen. In ihr ist der Fall der Pfändung (hier geht es dagegen um eine Abtretung) zur Erfüllung eines Unterhaltsanspruchs einer Person behandelt, der gegenüber der Hilfesuchende gesteigert unterhaltspflichtig war. Anknüpfend an BVerwGE 20, 188 hat der Senat damals für diese besondere Fallgestaltung ausgesprochen, daß ein Betrag nicht Einkommen ist, der dem Hilfesuchenden von vornherein aus einem Grund nicht zufließt, der ihm „aufgezwungen“ ist. Im übrigen ist in dieser Entscheidung aber gerade der Grundsatz aufrechterhalten worden, daß der Hilfesuchende sein Einkommen auch dann zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage für sich verwenden muß, wenn er sich dadurch außerstande setzt, anderweit bestehende Verpflichtungen zu erfüllen. Daraus folgt: Zur Vermeidung der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel mußte der Kl. - damit sein jeweiliger gegenwärtiger Bedarf für seinen Lebensunterhalt sichergestellt war - aus dem Einkommen, das ihm nach Abzug der Beträge nach § 76 II BSHG und des zur Befriedigung der Unterhaltsansprüche der Angehörigen gepfändeten Betrages verblieb, zunächst das seiner Vermieterin für den aktuellen Monat geschuldete Entgelt (damals 560 DM) entrichten. Nur soweit ihm danach Einkommen verblieb, konnte er es zur Tilgung der Rückstände verwenden, die infolge Schuldigbleibens des Entgelts in der Vergangenheit entstanden waren. Eine anderweitige (freiwillige) Disposition (hier: Abtretung von Teilen des Gehalts) ist bei der Beurteilung, ob der Kl. in der Lage war, sich selbst zu helfen (§ 2 I BSHG), nicht zu berücksichtigen.

Rechtsgebiete

Verwaltungsrecht