Verdachtskündigung einer Kassiererin wegen Unterschlagung

Gericht

LAG Köln


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

30. 07. 1999


Aktenzeichen

11 Sa 425/99


Leitsatz des Gerichts

  1. Die Kassiererin in einem Lebensmittelmarkt, die bei mehreren Testkäufen die vorgeschriebene Kassenregistrierung der vereinnahmten Beträge unterlässt, ohne dass der Kassenabschluss die entsprechende Plus-Differenz ergibt, setzt grundsätzlich den für eine Verdachtskündigung erforderlichen Verdacht der Unterschlagung.

  2. In einem Kündigungsschutzprozess kann sich der Arbeitgeber, der den Tatbeweis nicht führen kann, auf einen Verdacht gemäß Leitsatz 1 auch dann berufen, wenn er der Kassiererin in einem nach Ausspruch der Kündigung ausgestellten Zeugnis Ehrlichkeit bescheinigt hat.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Verdachtskündigung vom 1. 9. 1998, gefolgt von einer vorsorglich erklärten ordentlichen Kündigung vom 3. 9. 1998 zum 31. 3. 1999. Die Bekl., die Lebensmittelfilialen betreibt, hat sie der seit 1979 bei ihr als Verkäuferin beschäftigten, 1950 geborenen Kl. gegenüber nach deren Anhörung am 25. 8. 1998 ausgesprochen, weil diese entgegen der gültigen Kassenanweisung bei drei Testkäufen - nämlich am 4., 10. und 18. 8. 1998 - die vereinnahmten Geldbeträge (10,99 DM, 13,99 DM und 13,99 DM) nicht in die von ihre bediente Registrierkasse eingegeben hat, ohne dass die Kasse bei Kassenschluss eine entsprechende Plusdifferenz aufzuweisen hatte. Die Kl. hat den sich daran anknüpfenden Vorwurf der Unterschlagung bestritten und sich außerdem auf ein von der Bekl. unter dem 1. 9. 1998 ausgestelltes Zeugnis berufen, in dem ihr unter anderem Ehrlichkeit bescheinigt wird.

Das ArbG hat der Kündigungsschutzklage sowie der damit verbunden Klage auf Weitervergütung für die Monate September 1998 bis Januar 1999 stattgegeben. Mit ihrer Berufung verfolgt die Bekl. ihren Klageabweisungsantrag weiter und verweist auf die dem Handel alljährlich durch Personaldiebstähle zugefügten Defizite in Milliardenhöhe; dabei liefen die Delikte im Kassenbereich üblicherweise so ab wie vorliegend geschehen. Bei dem Ehrlichkeitsvermerk im Zeugnis der Kl., das sie inzwischen widerrufen hat und auf dem Klagewege zurückverlangt, handele es sich um ein Versehen. Die Berufung der Bekl. hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Kündigung vom 1. 9. 1998 beendet das Arbeitsverhältnis wie vorgesehen fristlos, weil sie durch einen wichtigen Grund i.S. von § 626 I BGB gerechtfertigt ist. Wichtiger Grund ist der gegen die Kl. bestehende Verdacht der Unterschlagung vereinnahmter Kundengelder. Eine Kassiererin in einem Lebensmittelmarkt, die von einem Kunden Geld kassiert, den Kassiervorgang aber trotz eindeutiger Kassenanweisung nicht registriert, erzeugt damit grundsätzlich den für eine Verdachtskündigung ausreichenden Verdacht der Unterschlagung - jedenfalls dann, wenn sich bei einer Kassenüberprüfung kein Überschuss des Ist-Bestandes über den aus den Registrierungen sich ergebenden Soll-Bestand ergibt:

Es ist allgemein bekannt, dass die Registrierungspflicht für Kassierer vor allem gerade auch dazu dient, die Entstehung eines entsprechenden Verdachts zu verhindern. Wer sich dennoch darüber hinwegsetzt, muss dazu ein Motiv haben, das stark genug ist, um den dadurch hervorgerufenen Verdacht in Kauf zu nehmen. Dass dieses Motiv in einer Bereicherungsabsicht besteht, liegt aus folgenden Gründen nahe: Zum einen muss ein Kassierer mit entsprechender Absicht genau so und nicht anders vorgehen, will er die Entstehung größerer Minus-Differenzen verhindern. Zum anderen handelt es sich gerichtsbekanntermaßen um eine weit verbreitete Praxis unehrlicher Kassierer im Einzelhandel.

Dass eine unterlassene Registrierung auf einem Versehen beruht, ist schon generell aber besonders unter den vorliegenden Umständen äußerst unwahrscheinlich: Zum einen handelt es sich bei der Registrierungspflicht nicht um eine Nebenpflicht eines Kassierers, sondern um eine seiner Hauptpflichten, auf deren Beachtung folglich seine besondere Aufmerksamkeit ruht und zu ruhen hat; mit langjähriger Berufserfahrung, über die die Kl. des vorliegenden Verfahrens ohne Zweifel verfügt, gewinnt dieses Argument an Gewicht. Zum anderen setzt ein solches „Versehen“ eine Denkoperation voraus, wodurch es praktisch ausgeschlossen werden kann: Es kann nämlich immer nur dann möglich werden, wenn wie hier ein Kunde auf seinen Kassenbon verzichtet; erst dadurch wird die Schlussfolgerung ausgelöst, dass eine Registrierung unterbleiben kann, während normalerweise der Zwang, dem Kunden einen Kassenzettel auszuhändigen, den Kassierer fortwährend an die Erfüllung seiner Hauptpflicht erinnert und ihm deren Nichterfüllung unmöglich macht.

Auch die Hektik geschäftlicher Spitzenzeiten verbunden mit dem Wunsch nach beschleunigter Abfertigung eines eiligen Kunden macht ein Versehen nicht wahrscheinlicher: Der eilige Kunde, den hier die Testkäufer vorgegeben haben, ist nämlich mit der Ablieferung seines Geldes aus dem Kassenbetrieb entlassen; ihm kann durch eine unterlassene Registrierung seiner Zahlung nicht mehr geholfen werden - in der Regel wird er sie nicht einmal wahrnehmen.

Noch unwahrscheinlicher wird ein Versehen vorliegend dadurch, dass es nach Darstellung der Kl. dreimal hintereinander eingetreten sein müsste und dadurch, dass die Kl. - unstreitig - auch im Nachhinein keine Registrierung vorgenommen hat - und das, obwohl ihr die Wichtigkeit dieses Vorgangs durch die quittierte Übergabe einer schriftlichen Anweisung eindrucksvoll vor Augen geführt worden war: Trotz dieses Appells an ihre Aufmerksamkeit, der im Bewusstsein dauerhafte Spuren hinterlassen haben muss, und trotz der Bedeutung des Registriervorgangs, die jedem Kassierer klar ist, und trotz der bekannten Gefahr, sich einem schweren, den Arbeitsplatz gefährdenden Verdacht auszusetzen, müsste die Kl. dreimal hintereinander die Registrierung vergessen oder aufgeschoben und die Nachholung vergessen haben. Das ist nicht ausgeschlossen aber lebensfremd.

Letzteres gilt auch für den Einwand der Kl., durch die Einlegung der streitigen Beträge in die Kasse habe sich deren ansonsten zu erwartende Minus-Differenz verringert. Die Minus-Differenzen hätten dann ohne die - unstreitig nicht registrierten - Beträge bei 12,41 DM, 19,66 DM und 13,85 DM liegen müssen. Es ist unwahrscheinlich, dass ausgerechnet an den Tagen der Testkäufe Kassenfehlbestände in dieser nicht alltäglichen Größenordnung entstanden sein sollen. Im Übrigen übersieht die Kl. bei ihrer Argumentation, dass ein Kassenplus in der zu erwartenden Höhe ihrer Entlastung gedient hätte. Die Tatsache, dass das Fehlen dieses entlastenden Umstandes auch andere Ursachen haben kann, ersetzt die fehlende Entlastung nicht.

Zu Unrecht meint die Kl., die Bekl. dürfe sich auf den von ihr gehegten Verdacht wegen des von ihr ausgestellten Zeugnisses nicht berufen. Widersprüchliches Verhalten ist nicht ersichtlich: Die Bekl. hat nicht wegen einer strafbaren Handlung gekündigt, sondern wegen eines dahin zielenden Verdachts. Nach der im Rechtsstaat geltenden Unschuldsvermutung ist kein Arbeitgeber berechtigt, seinen Arbeitnehmer vor Dritten einer Täterschaft zu bezichtigen, nur weil er einen entsprechenden Verdacht hegt. Hätte die Bekl. den Ehrlichkeitsvermerk unterlassen, hätte dies im Zeugnis einer Kassiererin eine negative Aussage durch beredtes Schweigen bedeutet. In einem Zeugnisberichtigungsprozess wäre die Bekl. in Beweisnot geraten, weil sie nicht Unehrlichkeit, sondern nur Umstände für einen Verdacht beweisen kann. Ob sich ein Arbeitgeber überhaupt im Kündigungsschutzprozess an einem nach der Kündigung ausgestellten Zeugnis festhalten lassen muss, kann danach offen bleiben, ist aber schon wegen der unterschiedlichen Anforderungen - etwa wegen der dem Sachvortrag im Kündigungsschutzprozess fremden Verpflichtung zur wohlwollenden Zeugnisformulierung - zweifelhaft. Die Entscheidung des BAG vom 8. 2. 1972 (NJW 1972, 1214 = AP Nr. 7 zu § 630 BGB) ist jedenfalls nicht einschlägig, weil sie dem Arbeitgeber das Recht abspricht, ein Jahr nach Ausstellung eines Zeugnisses mit Ehrlichkeitsvermerk Schadensersatzansprüche bestimmter Art gegen den Arbeitnehmer geltend zu machen: Das prozessuale Vorgehen des Arbeitgebers verstoße gegen das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium). Vorliegend ist gar kein prozessuales Vorgehen der Bekl. zu bewerten, sondern eine Kündigung, die zudem nicht nach, sondern vor Erteilung des Zeugnisses ausgesprochen worden ist.

Die umfassende Interessenabwägung fällt nicht zugunsten der Kl. aus. Für sie sprechen zwar gewichtige soziale Gesichtspunkte, insbesondere ihre lange Betriebszugehörigkeit, ihr vorgerücktes Alter sowie ihre teils dadurch teils durch die hier streitigen Kündigungsgründe erschwerte Vermittelbarkeit. Die Kl. ist jedoch Kassiererin; ihre Weiterbeschäftigung unter dem auf ihr lastenden Verdacht ist der Bekl. nicht zuzumuten.

Zu Unrecht rügt die Kl. die Betriebsratsanhörung. Keineswegs erweckt das Anhörungsschreiben zur außerordentlichen Kündigung den Eindruck, es solle wegen des Verstoßes gegen die Kassenanweisung gekündigt werden - auch wenn der vorletzte Absatz den Verstoß gegen die Kassenanweisung erwähnt und der anschließende letzte Absatz damit beginnt, dass „aus diesem Grunde“ das Vertrauensverhältnis als gestört angesehen werde: Erkennbar ist mit „diesem Grunde“ der gesamte vorab geschilderte Tatbestand gemeint. Das ergibt nicht nur das Schriftbild, das mit den Worten „aus diesem Grunde“ einen neuen Absatz beginnen lässt und damit Bezug auf alle vorstehenden Absätze nimmt, sondern auch der Textinhalt: Durch Verstoß gegen eine Anweisung wird kein Vertrauensverhältnis gestört. Zudem stehen alle vorstehenden Absätze unter der Überschrift „Kündigungsgrund“.

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

BGB § 626 I; KSchG § 1 II