Mindestaufenthaltsdauer am „dritten Ort“ zur Anerkennung eines Wegeunfalls

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

05. 05. 1998


Aktenzeichen

B 2 U 40-97 R


Leitsatz des Gerichts

Unfallversicherungsschutz kann auf dem Wege von einem anderen Ort als dem der Wohnung („dritter Ort“) zum Ort der Tätigkeit nur dann bestehen, wenn der Aufenthalt an dem „dritten Ort“ mindestens zwei Stunden andauerte.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die bekl. Berufsgenossenschaft verpflichtet ist, die Kl. wegen der Folgen des Verkehrsunfalls vom 4. 8. 1994 zu entschädigen. Die Kl. ist als Verkaufsleiterin bei dem Kaufhaus K in R. beschäftigt und wohnt in O. Am 4. 8. 1994 sollte sie um 12 Uhr die Arbeit antreten. Sie verließ ihre Wohnung gegen 10.45 Uhr und fuhr mit ihrem Pkw auf dem für sie zum Arbeitsantritt üblichen Weg in Richtung ihrer Arbeitsstätte. In R. bog sie kurz vor ihrer Arbeitsstätte von der üblichen Fahrtroute ab, weil sie um ca. 11 Uhr einen vorher vereinbarten Arzttermin wahrnehmen wollte. Die Abweichung vom üblichen Weg zur Arbeitsstätte betrug bis zur Arztpraxis etwa 0,5 km und bis zum Erreichen des üblichen weiteren Fahrtweges zu ihrer Arbeitsstätte wegen einer Einbahnstraßenregelung eine etwas längere Wegstrecke. Nach der ärztlichen Behandlung, die etwa 1¼ Stunden in Anspruch nahm, fuhr die Kl. weiter in Richtung Kaufhaus K. Auf einem Wegstück, auf dem sie noch nicht die übliche Route dorthin erreicht hatte, erlitt die Kl. gegen 12.30 Uhr einen Verkehrsunfall, bei dem sie sich Verletzungen zuzog. Die Bekl. lehnte Entschädigungsleistungen ab, weil die Kl. sich bei diesem Unfall nicht auf dem direkten Weg von der Wohnung zur Arbeit, sondern auf einem unversicherten Abweg befunden habe.

Das SG hat die Bekl. verurteilt, das Ereignis vom 4. 8. 1994 als Arbeitsunfall anzuerkennen sowie zu entschädigen. Das LSG hat die Berufung der Bekl. zurückgewiesen. Die - vom Senat zugelassene - Revision der Bekl. hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II. Die Revision der Bekl. ist begründet. Die Kl. hat entgegen der Auffassung der Vorinstanzen keinen Anspruch, wegen des Unfallereignisses vom 4. 8. 1994 aus der gesetzlichen Unfallversicherung entschädigt zu werden.

Der Anspruch der Kl. richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, weil der von ihr geltend gemachte Arbeitsunfall vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. 1. 1997 eingetreten ist (Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz [UVEG], § 212 SGB VII).

Die Kl. hat am 4. 8. 1994 keinen Arbeitsunfall erlitten. Denn sie ist nicht auf dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit i.S. des § 550 I RVO verunglückt. Nach dieser Vorschrift gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift den Versicherungsschutz für die Wege nach und von der Arbeitsstätte nicht auf die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beschränkt, sondern lediglich darauf abgestellt, daß die Arbeitsstätte Ziel oder Ausgangspunkt des Weges ist; der andere Grenzpunkt des Weges ist gesetzlich nicht festgelegt (so bereits RVA, EuM 21, 281, und 47, 415; st. Rspr. des BSG, z.B. BSGE 22, 60 [61] = SozR Nr. 54 zu § 543 RVO a.F.; BSG, SozR 2200 § 550 Nr. 57; s. auch Brackmann, Hdb. der Sozialversicherung, 11. Aufl., S. 485r f. m. w. Nachw.; Brackmann–Krasney, Hdb. der Sozialversicherung III, Gesetzliche Unfallversicherung, 1997, 12. Aufl., § 8 Rdnrn. 174 und 191ff.). Allerdings hat der Gesetzgeber nicht schlechthin jeden Weg unter Versicherungsschutz gestellt, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von ihr aus begonnen wird. Vielmehr ist es nach § 550 I RVO darüber hinaus erforderlich, daß der Weg mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängt, d.h. daß ein innerer Zusammenhang zwischen dem Weg und der Tätigkeit in dem Unternehmen besteht. Dieser innere Zusammenhang setzt voraus, daß der Weg, den der Versicherte zurücklegt, wesentlich dazu dient, den Ort der Tätigkeit oder nach Beendigung der Tätigkeit - in der Regel - die eigene Wohnung oder einen anderen Endpunkt des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu erreichen. Maßgebend ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird; fehlt es an einem solchen inneren Zusammenhang, scheidet ein Versicherungsschutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gewöhnlich benutzt (BSG, SozR 3-2200 § 550 Nr. 4 m. w. Nachw.; zuletzt BSG, Urt. v. 17. 2. 1998 - B 2 U 1–97 R).

Die Kl. hat entsprechend den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ihren Weg zum Kaufhaus K in R., dem Ort ihrer Tätigkeit i.S. des § 550 I RVO, von ihrer Wohnung in O. und nicht erst von der Praxis ihres Arztes aus angetreten. Denn bei dem Weg von ihrem häuslichen Bereich zu der Arztpraxis und von dort zum Ort ihrer Tätigkeit handelte es sich um einen rechtlich einheitlichen Gesamtweg, gegenüber dem der dem Aufenthalt in der Arztpraxis vorausgegangene Weg von ihrem häuslichen Bereich keine selbständige Bedeutung erlangt hat. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen rechtfertigen es die Verhältnisse des vorliegenden Falles nicht, einen anderen Ort als die Wohnung der Kl., einen sogenannten dritten Ort, als Ausgangspunkt des Weges nach dem Ort der Tätigkeit mit der Folge des Unfallversicherungsschutzes für diesen Weg zu werten. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung einen anderen Ort als die Wohnung nur dann als Ausgangspunkt des Weges nach dem Ort der Tätigkeit angesehen, wenn die Dauer des Aufenthaltes an dem anderen Ort so erheblich war, daß der vorangegangene Weg eine selbständige Bedeutung erlangte und deshalb nicht in einem rechtlich erheblichen Zusammenhang mit der bevorstehenden Aufnahme der Arbeit an der Arbeitsstätte stand (BSGE 62, 113 [115] = NJW 1988, 1552 L = SozR 2200 § 550 Nr. 76; BSG, SozR 2200 § 550 Nr. 78; SozR 3-2200 § 550 Nrn. 2, 5 und 10; BSG, Urt. v. 17. 2. 1998 - B 2 U 1–97 R; s. auch Brackmann–Krasney, § 8 Rdnr. 195; Schulin, in: Schulin [Hrsg.] Hdb. des SozialversicherungsR II, 1996, § 33 Rdnrn. 58ff.). Dabei hat der Senat ausschließlich auf die Dauer des Aufenthalts an dem anderen Ort selbst abgestellt und den Weg von der Wohnung zu dem anderen Ort zeitlich nicht mit eingerechnet (BSG, SozR 3-2200 § 550 Nr. 2, zuletzt BSG, Urt. v. 17. 2. 1998 - B 2 U 1–97 R).

Für die Erheblichkeit des Aufenthalts an dem anderen Ort hat der Senat bisher keine bestimmte (Mindest-)Zeitdauer als wesentliches Kriterium festgelegt (vgl. BSG, SozR 3-2200 § 550 Nr. 2). Er hat nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles einen Aufenthalt an dem anderen Ort von etwa ein bis zwei Stunden als erheblich angesehen, so etwa bei einem der Fahrt zur Arbeitsstätte vorangegangenem (eigenwirtschaftlichen) Aufsuchen einer Wäscherei mit einstündigem Aufenthalt (SozR Nr. 32 zu § 543 RVO a.F.), einem Aufenthalt auf einem Laubengrundstück von 1½ Stunden (VdKMitt 1963, 458), einem etwa zwei Stunden dauernden Besuchsaufenthalt bei Angehörigen (BSGE 22, 60 = SozR Nr. 54 zu § 543 RVO a.F.) und einem Gaststättenbesuch von etwa 1¼ Stunden (HV-Info 1984, Nr. 20, S. 13). Bei vielen der bisher entschiedenen Fälle war der zur Annahme eines dritten Ortes führende Aufenthalt allerdings deutlich länger (s. z.B. SozR Nr. 40 zu § 543 RVO a.F.: fünfstündiger Besuchsaufenthalt bei Verwandten; BSGE 62, 113 = NJW 1988, 1552 L = SozR 2200 § 550 Nr. 76: mehrstündiger Klinikaufenthalt). Der für Angelegenheiten der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr zuständig 9b-Senat des BSG hat indes sogar einen Aufenthalt von wohl nur knapp über einer halben Stunde als erheblich bewertet (USK 87115); dem ist der Senat jedoch nicht gefolgt (krit. in: SozR 3-2200 § 550 Nr. 2, abl. im Urt. v. 17. 2. 1998 - B 2 U 1–97 R). Eine feste Zeitgrenze von zwei Stunden hat der Senat demgegenüber für das (endgültige) Entfallen des Versicherungsschutzes nach einer längeren Unterbrechung auf Wegen von dem Ort der Tätigkeit angenommen, um so die Versicherten in die Lage zu versetzen, anhand dieses sicher zu beurteilenden Kriteriums mit der erforderlichen Rechtssicherheit einschätzen zu können, bis wann sie nach einer lediglich privaten Zwecken dienenden Unterbrechung auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit wieder unter Unfallversicherungsschutz stehen (vgl. BSG, SozR 2200 § 550 Nrn. 12, 42; BSGE 55, 141 [143] = SozR 2200 § 550 Nr. 55; s. auch Brackmann–Krasney, § 8 Rdnr. 247 m. w. Nachw.).

An dieser Rechtsprechung zum Unfallversicherungsschutz auf Wegen von und zum Ort der Tätigkeit mit unterschiedlichen Zeitgrenzen für die Erheblichkeit von Unterbrechungen wird in der einschlägigen Fachliteratur erhebliche Kritik geübt (s. insb. Schulin, § 33 Rdnrn. 67ff.; Ricke, in: KassKomm, § 8 SGB VII Rdnrn. 209ff., insb. Rdnr. 215; Stoll, BG 1991, 45 [46]). Bemängelt wird insbesondere, daß die Einstundengrenze bei dem Weg zum Ort der Tätigkeit infolge der unsicheren Abgrenzung von der Unterbrechung des Weges durch einen Abweg und der Betrachtung des Ziels des Abweges als dritten Ortes zu Konflikten mit der Zweistundengrenze mit der Folge einer unterschiedlichen Annahme von Unfallversicherungsschutz führen kann (s. Schulin, § 33 Rdnrn. 58ff.; Ricke, in: KassKomm, § 8 SGB VII Rdnr. 215 mit Bsp.). Als sachgerechte Lösung zur Vermeidung solcher Widersprüche wird die einheitliche Anwendung der Zweistundengrenze für die Beurteilung des dritten Ortes und der Unterbrechung des Weges vom Ort der Tätigkeit vorgeschlagen (s. Schulin, § 33 Rdnrn. 67ff.; Ricke, in: KassKomm ebda.; Stoll, BG 1991, 45 [46]).

Der Senat hält es nach eingehender Abwägung der verschiedenen Aspekte für geboten, unter teilweiser Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung die Erheblichkeit des Aufenthalts an dem anderen Ort, der diesen als „dritten Ort“ im obigen Sinne erscheinen läßt, davon abhängig zu machen, daß sich der Versicherte dort mindestens zwei Stunden aufhält bzw. aufhalten will. Zum einen werden hierdurch die in der Literatur aufgezeigten Konflikte vermieden, zum anderen wird auch dem Umstand Rechnung getragen, daß es bei beiden Konstellationen im Kern um dieselbe Frage nach der Teilung in zwei selbständige Wege geht (s. Ricke, in: KassKomm, § 8 SGB VII Rdnr. 215), die aus Gründen der Gleichbehandlung und Systemgerechtigkeit auch nur einheitlich beantwortet werden kann. Dabei erscheint der Zeitraum von mindestens zwei Stunden eher sachgerecht als etwa der von nur einer Stunde oder sogar noch darunter, weil hierdurch der Umstand, daß der dritte Ort in diesen Fällen funktional an die Stelle des häuslichen Bereichs tritt (vgl. Schulin, § 33 Rdnr. 59) und so ein adäquates zeitliches Gewicht haben sollte, besser berücksichtigt wird. Durch die Einführung dieses klar zu beurteilenden Kriteriums, die Vereinheitlichung der zeitlichen Maßstäbe für Unterbrechungen sowie Wege nach und von dritten Orten und die damit verbesserte Transparenz wird dem hier in gleichem Maße bestehenden Bedürfnis der Versicherten nach Rechtssicherheit bei der Beurteilung der Reichweite ihres Unfallversicherungsschutzes auf Wegen zum Ort der Tätigkeit Genüge getan.

Angesichts des Aufenthalts der Kl. in der Arztpraxis von 1¼ Stunden, der unter der danach anzuwendenden Zweistundengrenze liegt, war die Praxis nicht dritter Ort im Sinne der Rechtsprechung des Senats. Die Kl. hatte somit am 4. 8. 1994 den zum Unfall führenden Weg zum Ort ihrer Tätigkeit bei dem Kaufhaus K von zu Hause aus angetreten, wich aber davon ab, um zu der Arztpraxis zu gelangen. Dabei handelte es sich nach der Handlungstendenz um eine dem privaten–persönlichen unversicherten Bereich zuzurechnende eigenwirtschaftliche Tätigkeit (BSG, SozR 2200 § 548 Nr. 31; BSG, SozR 3-2200 § 550 Nr. 2), die in keinem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als Verkaufsleiter stand (s. auch BSG, SozR 3-2200 § 550 Nr. 16). Während dieser einer privaten Besorgung dienenden, nicht nur geringfügigen Unterbrechung (vgl. hierzu Brackmann–Krasney, § 8 Rdnr. 235) des Weges nach dem Ort der Tätigkeit durch den Einschub eines anderen mit anderer Zielrichtung (Abweg) bestand kein Unfallversicherungsschutz (vgl. Brackmann–Krasney, § 8 Rdnrn. 232, 235 m. w. Nachw.; Krasney, in: Schulin, § 8 Rdnr. 82; Schulin, § 33 Rdnr. 59). Erst nach Beendigung der Unterbrechung wäre auf dem weiteren Weg nach dem Ort der Tätigkeit wieder ein Versicherungsschutz gegeben gewesen (vgl. BSG, SozR 3-2200 § 550 Nr. 2; Brackmann–Krasney, § 8 Rdnr. 235 m. w. Nachw.). Die Kl. ist jedoch nicht in einem Verkehrsbereich verunglückt, den sie auch sonst auf dem Weg von ihrer Wohnung zur Arbeitsstätte zurückgelegt hätte. Vielmehr hatte sie im Unfallzeitpunkt weder die gewöhnliche zur Arbeitsstätte zurückgelegte Wegstrecke noch den Verkehrsraum ihrer Arbeitsstätte wieder erreicht. Sie ist damit auf einer Wegstrecke verunglückt, die sie ohne Aufsuchen der Arztpraxis von zu Hause nicht zurückgelegt hätte. Damit war im Unfallzeitpunkt die Unterbrechung des Weges nach dem Ort der Tätigkeit noch nicht beendet und somit der Unfallversicherungsschutz noch nicht wieder gegeben (vgl. BSG, SozR 3-2200 § 550 Nr. 2).

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

RVO § 550