Arbeitsunfall trotz fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

19. 12. 2000


Aktenzeichen

B 2 U 45/99


Leitsatz des Gerichts

Der Unfallversicherungsschutz auf dem Weg zur Arbeitsstätte wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Versicherte aufgrund seiner Fahrweise wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung bestraft wird, auch wenn der Unfall auf dieser Verhaltensweise beruht (Abgrenzung zu BSGE 75, 180 = SozR 3-3200 § 81 Nr. 12).

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Zwischen den Bet. ist streitig, ob der Verkehrsunfall des Kl. vom 16. 6. 1993 als Arbeitsunfall zu entschädigen ist.

Der Kl. erlitt am 16. 6. 1993 auf dem Weg von seiner Wohnung zur Meisterschule bei der Handwerkskammer K., wo er einen vom Arbeitsamt als Fortbildungsmaßnahme geförderten Vorbereitungslehrgang zur Meisterprüfung besuchte, einen Verkehrsunfall. Er überholte mit seinem Motorrad in einer langgezogenen, unübersichtlichen Rechtskurve mehrere Fahrzeuge und stieß dabei mit einem entgegenkommenden Pkw zusammen, wobei er sich erheblich verletzte. Wegen dieses Vorfalls wurde der Kl. durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts M (AG) vom 9. 12. 1993 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 35,00 DM gemäß § 315c I Nr. 2 Buchst. b, III Nr. 2 StGB verurteilt.

Nach Beiziehung der Strafakten lehnte die Bekl. die Anerkennung des Ereignisses vom 16. 6. 1993 als Arbeitsunfall ab, weil sich der Kl. durch sein verkehrswidriges Verhalten von der versicherten Tätigkeit gelöst habe. Widerspruch, Klage und Berufung des Kl. waren erfolglos. Die Revision hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der Anspruch des Kl. richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, weil der von ihm geltend gemachte Arbeitsunfall vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1. 1. 1997 eingetreten ist (Art. 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).

Arbeitsunfall ist nach § 548 I 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Nach § 550 I RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Allerdings hat der Gesetzgeber nicht schlechthin jeden Weg unter Versicherungsschutz gestellt, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von ihr aus begonnen wird. Vielmehr ist es nach § 550 I RVO darüber hinaus erforderlich, dass der Weg mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängt, also ein innerer Zusammenhang zwischen dieser und dem Weg besteht. Dieser innere Zusammenhang setzt voraus, dass der Weg, den der Versicherte zurücklegt, wesentlich dazu dient, den Ort der Tätigkeit oder nach Beendigung der Tätigkeit die eigene Wohnung oder einen anderen Endpunkt des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu erreichen. Maßgebend ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird; fehlt es an einem solchen inneren Zusammenhang, scheidet ein Versicherungsschutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gewöhnlich benutzt (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr. 4 mwN und zuletzt BSG Urteil vom 17. 2. 1998 - B 2 U 1/97 R - = USK 9850). Für die tatsächlichen Grundlagen des Vorliegens versicherter Tätigkeit muss der volle Beweis erbracht werden, das Vorhandensein versicherter Tätigkeit also sicher feststehen (vgl. BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr. 70; BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr. 84 mwN), während für die kausale Verknüpfung zwischen ihr und dem Unfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (vgl. BSGE 58, 80, 82 = SozR 2200 § 555a Nr. 1 mwN).

Als Teilnehmer an einer beruflichen Fortbildungsmaßnahme gehörte der Kl. gemäß § 539 I Nr. 14 Buchst. c RVO zum gegen Unfall versicherten Personenkreis; dieser Unfallversicherungsschutz erstreckte sich gemäß § 550 I RVO auch auf Wege zum und vom Schulungsort (Meisterschule). Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG befand sich der Kl. zum Unfallzeitpunkt auf dem (direkten) Weg zur Meisterschule. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen bestand dabei auch ein innerer Zusammenhang zwischen dem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit.

Bei der Feststellung dieses inneren Zusammenhangs geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht, und nicht um eine Frage der Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne. Es ist wertend zu entscheiden, ob das Handeln des Versicherten zur versicherten Tätigkeit oder - wie hier - zum Weg zur Arbeitsstätte bzw. zum Schulungsort gehört (BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr. 70; BSG SozR 3-2200 § 550 Nr. 14): Hierzu ist eine wesentliche sachliche Verbindung der Verrichtung mit der versicherten Tätigkeit erforderlich. Diese fehlt etwa dann, wenn der Versicherte den Weg zur Arbeitsstelle für zum Erreichen dieses Zieles nicht dienliche Zwecke nutzen will, wozu etwa eine Selbsttötung durch Verursachung eines Verkehrsunfalls (vgl. BSGE 58, 76, 77 = SozR aaO), die Veranstaltung eines Wettrennens oder der Zeitgewinn zur Erledigung privater Einkäufe durch Schnellfahren (vgl. Schur SGb 2000, 408) gehören würden.

Das Befahren der Straße in Richtung Meisterschule mit dem Motorrad war zum Erreichen dieses Zieles dienlich; die Wahl des Verkehrsmittels steht dem Versicherten grundsätzlich frei, auch wenn dies im Einzelfall eine erhöhte Gefahr gegenüber der Benutzung eines anderen möglichen Verkehrsmittels (etwa Bahn oder Bus) eine statische Gefahrerhöhung mit sich bringt. Auch der Überholvorgang in der unübersichtlichen, langgezogenen Kurve, bei dem sich der Unfall ereignete, diente noch diesem Zweck, da mit ihm ein Teil der Wegstrecke zum Schulungsort zurückgelegt werden sollte. Dass die allgemeine Verkehrsgefahr, die für den Kläger auf der Fahrt zum Schulungsort bestand, durch diesen Überholvorgang erheblich erhöht wurde, machte diese Handlung des Kl. noch nicht zu einer privaten, betriebsfremden und damit unversicherten Tätigkeit. Allerdings stimmte diese Fahrweise des Kl. mit der Rechtsordnung nicht überein. Dadurch wird der Versicherungsschutz indes noch nicht in Frage gestellt. Denn verbotswidriges Handeln schließt nach § 548 III RVO die Annahme eines Arbeitsunfalls nicht aus, selbst wenn bei einem nicht rechtswidrigen Handeln der Unfall nicht eingetreten wäre (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 22). Die Rechtsprechung des BSG hat dementsprechend in zahlreichen Fällen ein verbotswidriges Handeln im Rahmen der versicherten Tätigkeit als unschädlich für den Versicherungsschutz erachtet (z.B. zu schnelles Motorradfahren BSGE 6, 164, 169; Abspringen von einem fahrenden Verkehrsmittel BSGE 43, 15, 18 = SozR 2200 § 550 Nr. 21; Fahren ohne Führerschein mit überhöhter Geschwindigkeit BSGE 25, 161, 164 = SozR Nr. 1 zu § 557 RVO aF; Fahren auf polizeilich gesperrter Straße SozR Nr. 10 zu § 543 RVO aF; versuchte Landung eines Flugzeuges im Nebel SozR 2200 § 548 Nr. 60).

Eine mit dem verbotswidrigen Überholen verbundene, auf betriebsfremde Zwecke gerichtete Handlungstendenz des Kl. hat das LSG indes nicht festgestellt. Es hat lediglich unter Bezugnahme auf das Urteil des AG dargelegt, eine strafrechtliche Verurteilung nach § 315c I Nr. 2 Buchst. b, III Nr. 2 StGB schließe einen inneren Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Zurücklegen des Weges aus, weil nicht mehr die vom Unfallversicherungsschutz umfassten allgemeinen Verkehrsgefahren als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen seien, sondern allein das - wenn auch fahrlässige - grob verkehrswidrige Verhalten. Dieser Auffassung vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

Die bloße Strafbarkeit des Verhaltens, das zum Unfall führt, kann nach der aus § 548 III RVO zu erkennenden Wertung des Gesetzgebers nicht zum Verneinen des inneren Zusammenhangs und damit zum Verlust des Versicherungsschutzes überhaupt führen, auch wenn das strafbare Verhalten als wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist. Dies wird auch aus der Regelung in § 554 I RVO deutlich, nach der in dem Fall, dass der Verletzte den Arbeitsunfall beim Begehen einer Handlung, die nach rechtskräftigem strafgerichtlichen Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist, erlitten hat, die Leistungen ganz oder teilweise versagt werden können. Damit wird vorausgesetzt, dass der Unfallversicherungsschutz bei diesen - qualifiziert strafbaren - Handlungen grundsätzlich zuerst einmal bestehen bleibt, der innere Zusammenhang zwischen dem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit also durch dieses Verhalten nicht automatisch entfällt, sondern vielmehr gegeben sein kann und erst die Entschädigung im Wege des pflichtgemäßen Ermessens des Unfallversicherungsträgers gekürzt oder ganz versagt werden kann. Diese Wertung ist bei der Untersuchung, wie weit der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung im Bereich auch der Wegeunfallversicherung reicht, zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die Regelung des § 553 Satz 1 RVO, nach welcher (erst dann) kein Entschädigungsanspruch besteht, wenn der Verletzte den Arbeitsunfall absichtlich verursacht, d.h. diesen Erfolg als Ziel seines Handelns erstrebt hat (s bereits BSGE 1, 150, 155). Aus der Gesamtsicht dieser Regelungen folgt, dass jedenfalls ein fahrlässiges strafbares Handeln nicht zum Wegfall des inneren Zusammenhangs im obigen Sinne und damit des Unfallversicherungsschutzes führen muss.

Erforderlich ist für das Entfallen des inneren Zusammenhangs aufgrund des Vorliegens einer strafbaren Handlung vielmehr - wie auch sonst -, dass die Handlungstendenz des Versicherten bei einem solchen Verhalten auf einen betriebsfremden Zweck gerichtet ist. Dass seine Handlungsweise als grob verkehrswidrig und rücksichtslos iS des § 315c I Nr. 2 StGB und - daraus gefolgert - „eigensüchtig“ zu qualifizieren ist, kann demnach hierfür nicht ausreichen. Denn der Bezug um Zurücklegen des Weges, dem betrieblichen Zweck, wird dadurch nicht aufgehoben. Es handelt sich vielmehr weiterhin um ein Verkehrsverhalten, das die Fortbewegung zur Arbeitsstätte bzw. dem Schulungsort zum Ziel hat und sich deshalb des im Rahmen der Wegeunfallversicherung versicherten Risikos der allgemeinen Verkehrsgefahren hält; eine qualitative Veränderung des Verhaltens in Richtung einen betriebsfremden - nicht der Zurücklegung des Weges dienlichen - Zweck liegt nicht vor. Die grobe Verkehrswidrigkeit und die Rücksichtslosigkeit des Verhaltens betreffen lediglich die Qualität der - grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehenden - Fortbewegung in Richtung Ziel, ohne etwas anderes als das Erreichen des Ziels zu bezwecken. Auf eine Abwägung zwischen dem betrieblichen Interesse und der Sicherheit des Straßenverkehrs kann es aus unfallversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht ankommen; derartige Erwägungen wären allenfalls für die davon zu trennende strafrechtliche Würdigung von Bedeutung. Eine durch grob verkehrswidrige und rücksichtslose Fahrweise fahrlässig begangene Gefährdung des Straßenverkehrs ist hinsichtlich der Beurteilung des Vorliegens des inneren Zusammenhangs nicht mit einer durch Fahren unter Alkoholeinwirkung verursachten Verkehrsgefährdung infolge herabgesetzter Fahrtüchtigkeit gleichzusetzen, wie es der 9. Senat des BSG jedenfalls im Hinblick auf eine vorsätzliche Verkehrsgefährdung für angezeigt hält (BSGE 75, 180, 183 = SozR 3-3200 § 81 Nr. 12). Denn während der Alkoholgenuss wegen der damit untrennbar verbundenen Herabsetzung oder Aufhebung der Fahrtüchtigkeit generell nicht zum Erreichen der Arbeitsstätte im Straßenverkehr geeignet und damit nicht betriebsdienlich ist, ist das Fahren in Richtung Ziel - wie oben aufgezeigt - auch bei grob verkehrswidriger und rücksichtsloser Fahrweise dazu im allgemeinen geeignet und damit betriebsdienlich (vgl. dazu Schur SGb 2000, 408f.).

Das riskante Überholen stellt auch keine „selbstgeschaffene Gefahr“ dar, die zum Verlust des Unfallversicherungsschutzes führen könnte, da nur - hier nicht ersichtliche - betriebsfremde Zwecke, welche eine erhöhte Gefahr herbeigeführt haben, zur Beseitigung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall und damit zum Fortfall des Versicherungsschutzes führen können (BSG SozR 2200 § 548 Nrn. 60 und 93 mwN).

Der Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht vom Urteil des 9. Senats des BSG vom 11. 10. 1994 (BSGE 75, 180 = SozR 3-3200 § 81 Nr. 12) ab, in dem Versorgungsschutz gemäß § 81 des Soldatenversorgungsgesetzes im Hinblick auf das zum Unfall und zur Bestrafung des dortigen Klägers führende Falschüberholen abgelehnt wird und auf das sich das LSG ausdrücklich bezogen hat. Zwar ist nach der ständigen Rechtsprechung des 9. Senats der Schutz auf Wegen für die Soldatenversorgung und für die gesetzliche Unfallversicherung einheitlich zu beurteilen (stellvertretend BSG SozR 3200 § 81 Nr. 24 mwN); ob ein „Abweichen“ iS des § 41 II SGG durch eine auf dem Gebiet des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung getroffene Entscheidung insoweit möglich wäre, erscheint allerdings zweifelhaft. Dies kann hier indes offen bleiben, denn der innere Zusammenhang wird in dieser Entscheidung wegen einer vom dortigen Kläger begangenen Straftat des vorsätzlichen Falschüberholens mit fahrlässiger Herbeiführung der Gefahr gemäß § 315c I Nr. 2, III Nr. 1 StGB abgelehnt, während hier lediglich ein fahrlässiges Falschüberholen mit fahrlässigem Herbeiführen der Gefahr gemäß § 315c I Nr. 2 Buchst.b, III Nr. 2 StGB vorlag. Mit der Frage, ob der innere Zusammenhang hier auch im Falle der Bestrafung des Versicherten wegen eines vorsätzlichen Vergehens gegeben wäre, musste sich der erkennende Senat im vorliegenden Verfahren daher ohnehin nicht auseinandersetzen.

Vorinstanzen

LSG RhPf., L 3 U 252/97, 25.8.1999

Rechtsgebiete

Sozialrecht