Eingliederungshilfe bei drohender seelischer Behinderung

Gericht

VGH Mannheim


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

24. 04. 1996


Aktenzeichen

6 S 827/95


Leitsatz des Gerichts

  1. Eine geistige Behinderung liegt vor, wenn die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft infolge einer Schwäche der geistigen Kräfte beeinträchtigt ist. Eine Schwäche der geistigen Kräfte ist in der Regel bei einem besonders niedrigen Intelligenzquotienten anzunehmen. In besonderen Fällen kann aber auch ein partielles geistiges Defizit - bei sonst normaler Intelligenz - dafür ausreichen, daß eine Person geistig behindert ist.

  2. Eine Lernbehinderung kann nur dann als geistige Behinderung angesehen werden, wenn sie auf eine Schwäche der geistigen Kräfte zurückzuführen ist, nicht jedoch, wenn sie andere, etwa psychosoziale, Ursachen hat.

  3. Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom - mit oder ohne Hyperaktivität - stellt als solches keine seelische Störung, insbesondere keine (leichte) Neurose dar. Es kann jedoch - insbesondere bei Schulversagen - neurotische Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen zur Folge haben. Allerdings kann bei bloßen Schulproblemen, auch bei Schulängsten, die andere Kinder teilen, noch keinesfalls von einer krankhaften Normabweichung gesprochen werden. Eine neurotische Entwicklungsstörung liegt erst vor etwa bei einer Schulphobie, bei totaler Schul- und Lernverweigerung, Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und Vereinzelung in der Schule usw.

  4. Für die Annahme einer drohenden seelischen Behinderung bedarf es einer konkreten Beurteilung anhand der Umstände des gegebenen Einzelfalles; eine bloß allgemeine oder theoretisch bestehende Möglichkeit einer seelischen Behinderung im Sinne einer abstrakten Gefahrenlage genügt nicht.

  5. Für Maßnahmen für seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte junge Menschen ordneten § 10 II 1 SGB VIII i.d.F. von Art. 1 KJHG, Art. 11 KJHG i.V. mit § 21 BadWürttJHG einen Vorrang der öffentlichen Jugendhilfe gegenüber der Sozialhilfe an. Damit wurde Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz jedoch nicht ausgeschlossen; sie blieb subsidiär möglich. Ob das auch für die ab 1. 4. 1993 veränderte Rechtslage so gilt, bleibt offen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Am 2. 2. 1992 zeigten die Eltern der am 18. 12. 1985 geborenen Kl. bei dem bekl. Sozialhilfeträger an, daß sich diese auf Empfehlung ihres Kinderarztes seit November 1991 in heilpädagogischer Behandlung befinde, und beantragten die Übernahme der Therapiekosten - welche Beratungen der Eltern einschließen - und die Erstattung der Kosten ihrer Fahrten zu den Behandlungsstunden im Wege der Eingliederungshilfe. Die Kosten würden von der Krankenversicherung nicht getragen. Der Bekl. holte eine Stellungnahme des Staatlichen Gesundheitsamtes nach dem "Formblatt A" ein. Dieses stellte unter dem 13. 5. 1992 bei der Kl. eine Entwicklungsstörung und Teilleistungsschwäche fest und empfahl zunächst eine Beschäftigungstherapie und eventuell anschließend eine logopädische Behandlung; beides werde von den Krankenkassen bezahlt. Eine Behinderung liege nicht vor und drohe auch nicht. Daraufhin lehnte der Bekl. den Antrag mit Bescheid vom 29. 6. 1992 ab. Die Kl. legte hiergegen erfolglos Widerspruch ein.

Das VG hat die anschließende Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Kl. wurde der Bekl. unter entsprechender Aufhebung der angegriffenen Bescheide zur Neubescheidung verpflichtet.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Nach § 39 I 2, II BSHG kann Personen, die körperlich, geistig oder seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, ohne daß es sich um eine i.S. des § 39 I 1 BSHG wesentliche Behinderung handelt, nach dem Ermessen des Sozialhilfeträgers Eingliederungshilfe gewährt werden. Die Kl. war und ist zwar nicht geistig behindert (1.). Sie war im hier maßgeblichen Zeitraum jedoch von einer - nicht wesentlichen - seelischen Behinderung bedroht (2.). Damit war das Hilfeermessen des Bekl. nach § 39 I 2 BSHG eröffnet; die Kl. konnte weder auf die Jugendhilfe (3.) noch auf Leistungen der Krankenversicherung verwiesen werden (4.). Den Anspruch der Kl. auf rechtsfehlerfreie Ausübung dieses Ermessens hat der Bekl. verletzt; er wird seine Ermessensentscheidung nachzuholen haben (5.).

1. Die Kl. ist nicht geistig behindert. Eine geistige Behinderung droht oder drohte im hier maßgeblichen Zeitraum (Februar 1992 bis Januar 1993) auch nicht.

Eine geistige Behinderung liegt vor, wenn die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft infolge einer Schwäche der geistigen Kräfte beeinträchtigt ist (vgl. § 2 EingliederungshilfeVO). Unter einer Schwäche der geistigen Kräfte sind vornehmlich regelwidrige (normabweichende) Intelligenzmängel zu verstehen, also intellektuelle Funktionsstörungen, die aus einer zurückgebliebenen Leistungsfähigkeit des Gehirns oder des Zentralnervensystems herzuleiten sind (vgl. Knopp/Fichtner, BSHG, 7. Aufl. (1992), § 39 Rdnr. 29; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 14. Aufl. (1993), § 2 EingliederungshilfeVO Rdnr. 1; Oestreicher/Schelter/Kunz, BSHG, Stand: Nov. 1994, § 39 Rdnr. 12). Das ist in der Regel bei einem besonders niedrigen Intelligenzquotienten anzunehmen. Doch kann in besonderen Fällen auch ein partielles geistiges Defizit - bei sonst normaler Intelligenz - dafür ausreichen, daß eine Person geistig behindert ist. Denn die "geistigen Kräfte" i.S. des § 2 EingliederungshilfeVO sind keine einheitliche Größe, sondern setzen sich aus einer Vielzahl von Komponenten zusammen. Allerdings werden geistige Teilleistungsstörungen vielfach durch andere geistige Fähigkeiten ausgeglichen oder reichen wegen ihrer Bezogenheit auf einen Teil der geistigen Kräfte für eine Beeinträchtigung der Eingliederungsfähigkeit i.S. des § 2 EingliederungshilfeVO nicht aus (BVerwG, NVwZ-RR 1996, 446 = DVBl 1996, 857; vgl. auch OVG Lüneburg, FEVS 27, 70 (71f.)).

Die Kl. ist hiernach nicht geistig behindert.

2. Die Kl. war im streitgegenständlichen Zeitraum (Februar 1992 bis Januar 1993) jedoch von einer seelischen Behinderung bedroht.

a) Seelisch behindert sind Personen, deren Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft infolge seelischer Störungen beeinträchtigt ist (vgl. § 3 S. 1 EingliederungshilfeVO). Auch hier enthält der Behinderungsbegriff des Sozialhilferechts damit ein kausales und ein finales Element: Eine krankhafte Normabweichung - eine seelische Störung - muß zur Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft führen (vgl. ausführlich Knopp/Fichtner, § 39 Rdnrn. 1ff.). Dabei bezeichnet § 3 S. 2 EingliederungshilfeVO die seelischen Störungen, die zu einer Behinderung i.S. von S. 1 der Vorschrift führen können (nicht müssen) (BVerwG, Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 3 = FEVS 33, 457 (459)); diese Aufzählung ist grundsätzlich abschließend (Knopp/Fichtner, § 39 Rdnr. 31; Schellhorn/Jirasek/Seipp, § 3 EingliederungshilfeVO Rdnr. 4).

Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom - mit oder ohne Hyperaktivität - stellt als solches keine seelische Störung i.S. von § 3 S. 2 EingliederungshilfeVO dar. Es ist insbesondere keine - auch keine leichte - Neurose (§ 3 S. 2 Nr. 4 EingliederungshilfeVO). Als seelische Störung in Betracht kommen jedoch neurotische Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (vgl. BR-Dr 127/71, Begr. S. 7), die - insbesondere bei Schulversagen - Folge eines Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsdefizits sein können (vgl. BVerwG, Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 3 = FEVS 33, 475; OVG Lüneburg, FEVS 27, 70 (72f.); Schellhorn/Jirasek/Seipp, § 3 EingliederungshilfeVO Rdnrn. 7f.; Oestreicher/Schelter/Kunz, § 39 Rdnr. 13). Auch hier kann indes bei bloßen Schulproblemen, auch bei Schulängsten, die andere Kinder teilen, noch keinesfalls von einer krankhaften Normabweichung gesprochen werden (vgl. zum Rechtsbegriff der Neurose: OVG Lüneburg, FEVS 25, 340 (342ff.) m.w.Nachw.; OVG Berlin, FEVS 25, 66 (68ff.) m.w.Nachw.; LPK-BSHG, § 39 Rdnr. 20). Eine neurotische Entwicklungsstörung liegt erst vor etwa bei einer Schulphobie, bei totaler Schul- und Lernverweigerung, Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und Vereinzelung in der Schule usw.

b) Eine derartige neurotische Fehlentwicklung - unter Einschluß von Beeinträchtigungen in der Eingliederungsfähigkeit - drohte bei der Kl. (jedenfalls) im Jahre 1992.

Von Behinderung bedroht i.S. des § 39 II 1 BSHG sind gem. § 5 EingliederungshilfeVO Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Hierfür bedarf es einer konkreten Beurteilung anhand der Umstände des gegebenen Einzelfalles; eine bloß allgemeine oder theoretisch bestehende Möglichkeit einer seelischen Behinderung i.S. einer abstrakten Gefährdungslage genügt nicht (vgl. BVerwG, Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 12 (S. 2)). Ferner müssen Einschränkungen in der Eingliederungsfähigkeit zwar noch nicht eingetreten sein oder unmittelbar bevorstehen. Sie müssen aber mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein; eine einfache Wahrscheinlichkeit genügt nicht (so zutreffend Knopp/Fichtner, § 39 Rdnr. 35).

Der Landesarzt für Behinderte, Prof. Dr. H, hat in seiner Stellungnahme gegenüber dem Senat vom 27. 2. 1996 in den ihm vorliegenden Unterlagen - die Kl. selbst gesehen hat er nicht - Belege für eine konkret drohende Neurotisierung vermißt. Ihm ist darin zuzustimmen, daß die bei einer Symptomatik der vorliegenden Art - Sprachentwicklungsverzögerung, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne Hyperaktivität, Rechtschreib-/Rechenschwäche - die Gefahr von Schulversagen und einer daran knüpfenden Neurotisierung ganz allgemein immer besteht, daß diese allgemeine Gefahr jedoch nicht ausreicht, um die Eingliederungshilfe nach dem BSHG auf den Plan zu rufen. Zwar bedürfen derartige Kinder frühzeitiger ärztlicher und therapeutischer Hilfe, auch um dieser Gefahr vorzubeugen. Diese vorbeugende Hilfe stellt die Eingliederungshilfe nach dem BSHG indes nicht bereit; hier verbleibt es bei den Leistungen der Krankenversicherungen und im übrigen beim privaten Engagement. Ob und inwieweit die Jugendhilfe eintritt, wird damit nicht entschieden. Insbesondere bleibt offen, ob die neue Eingliederungshilfe nach Jugendhilferecht (§ 35a SGB VIII n.F.) - ggf. im Verbund mit den Maßnahmen der Erziehungshilfe - insofern weiter reicht als die Eingliederungshilfe nach dem Sozialhilferecht.

Für die Kl. ist indes erwiesen, daß die Gefahr einer Neurotisierung auch konkret bestand.

c) Nur festzuhalten ist, daß die hiernach drohende Neurotisierung der Kl. zu keiner Zeit als wesentliche seelische Behinderung anzusehen war. Es fehlen Anhaltspunkte für die Annahme, daß die Fähigkeit der Kl. zur Eingliederung in die Gesellschaft - bei unterbleibender Therapie - in erheblichem Umfang beeinträchtigt zu werden drohte. Hierfür kann nicht lediglich auf den Teilbereich der Schule abgestellt werden, auch wenn dieser für einen jungen Menschen quantitativ wie qualitativ einen besonderen Stellenwert besitzt; vielmehr müssen sämtliche Lebensbereiche der Kl. in den Blick genommen werden. Die diesbezüglichen Anhaltspunkte belegen jedoch lediglich die Gefahr nachteiliger Auswirkungen der drohenden Neurotisierung auf die Eingliederungsfähigkeit der Kl. überhaupt, nicht auch schon gravierender Auswirkungen in erheblichem Umfange, wie sie etwa bei schweren Gemütserkrankungen regelmäßig zu erwarten sind.

Das ergibt sich insbesondere aus den Darlegungen des Landesarztes für Behinderte.

3. War die Kl. mithin von der Gefahr einer - nicht wesentlichen - seelischen Behinderung bedroht, so war das Ermessen des Bekl., ihr Eingliederungshilfe nach § 39 I 2 BSHG zu gewähren, eröffnet. Demgegenüber kann sich der Bekl. nicht auf den Nachrang der Sozialhilfe (§ 2 I BSHG) gegenüber der Jugendhilfe berufen.

Die Gesetzgeber des Bundes und des Landes Baden-Württemberg haben das Verhältnis der Eingliederungshilfe nach dem BSHG zu den Leistungen der Jugendhilfe bei seelisch behinderten oder von einer seelischen Behinderung bedrohten jungen Menschen im Laufe der letzten Jahre wechselnden Regelungen unterworfen. Auf den vorliegenden Rechtsstreit finden § 10 II 1 SGB VIII i.d.F. des Art. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts vom 26. 6. 1990 (BGBl I, 1163) - SGB VIII a.F. - und Art. 11 KJHG i.V. mit § 21 des Landesjugendhilfegesetzes in der ursprünglichen Fassung vom 4. 6. 1991 (GBl, 299) - BadWürttJHG a.F. - Anwendung. Diese Bestimmungen sahen vor, daß Leistungen der Jugendhilfe in diesen Fällen den Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG mit Wirkung vom 1. 1. 1991 vorgehen. Damit wurde Eingliederungshilfe nach dem BSHG jedoch nicht generell und ausnahmslos ausgeschlossen. Vielmehr ließen die genannten Vorschriften die Regelungen des BSHG unberührt; subsidiäre Ansprüche auf Sozialhilfe blieben möglich (vgl. die Begr. des RegE zum KJHG, BT-Dr 11/5948, S. 53 (zu § 9)). Ein Zurücktreten der Sozialhilfe kam damit nur nach § 2 I BSHG in Betracht, wenn also die erforderliche Hilfe im Einzelfall vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe umfassend und endgültig gewährt wurde (Senat, VBlBW 1996, 33 m.w.Nachw.). Allerdings wurde der Rückgriff auf die Sozialhilfe praktisch weitgehend auf Ausnahmefälle zurückgeführt. Während nämlich nach der zuvor gültigen Rechtslage der Träger der Jugendhilfe regelmäßig nur pädagogisch wirksame Hilfen zur Erziehung hatte erbringen können, was sich schon konzeptionell von der Eingliederungshilfe für Behinderte unterscheidet, wurde der Maßnahmenkatalog des Jugendhilferechts in § 27 IV SGB VIII i.d.F. des KJHG um Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach § 40 BSHG ergänzt und der Eingliederungshilfe nach dem BSHG damit weitgehend angenähert. Das änderte indes nichts daran, daß der Rückgriff auf die Sozialhilfe prinzipiell möglich blieb. Ob das unverändert so gilt, nachdem am 1. 4. 1993 das Erste Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 16. 2. 1993 (BGBl I, 239) in Kraft getreten ist, bedarf keiner Entscheidung (vgl. Art. 1 Nrn. 5, 15, 17, Art. 2 Nr. 1 dieses Gesetzes sowie Art. 2 Nr. 2 des bad.-württ. Ges. zur Änd. des BadWürttAGBSHG und des Landesjugendhilfegesetzes vom 7. 2. 1994, GBl, 84).

§ 2 I BSHG steht dem mit der Klage geltend gemachten Anspruch nicht entgegen. Der Kl. sind unstreitig Leistungen nach § 27 IV SGB VIII a.F. nicht erbracht worden. Der Bekl. kann auch nicht damit gehört werden, die Kl. oder ihre Eltern hätten derartige Leistungen nicht beantragt. Er ist im vorliegenden Falle sowohl zuständiger Träger der Sozialhilfe als auch zuständiger Träger der Jugendhilfe gewesen. Aus dem Antrag der Eltern der Kl. ging eindeutig hervor, daß eine Beihilfe für eine heilpädagogische Maßnahme i.S. von § 40 I Nr. 2a bzw. Nr. 1 BSHG begehrt wurde. Das ließ sowohl den Weg über § 27 IV SGB VIII als auch den Weg über § 39 I BSHG offen. Dem Bekl. oblag es, die Kl. und ihre Eltern über den sachdienlichen Weg zu beraten (§ 16 III SGB I) und den als "Antrag auf Leistungen nach dem BSHG" bezeichneten Antrag als (auch) auf Leistungen nach dem SGB VIII gerichtet zu behandeln, wenn dies - wie hier - ernsthaft in Betracht kam (vgl. § 16 II SGB I). Keinesfalls kann er der Kl. heute entgegenhalten, ihre Eltern hätten in dem für beide Hilfeformen gemeinsamen Antragsformular das Kästchen "JWG" nicht angekreuzt.

4. Dem Erfolg der Klage steht auch nicht der Nachrang der Sozialhilfe gegenüber den Leistungen der Krankenversicherung der Kl. oder der Nachrang der Eingliederungshilfe gegenüber der vorbeugenden Gesundheitshilfe und der Krankenhilfe entgegen (§§ 2 I, 39 II 2 i.V. mit 36, 37 BSHG). Die Kl. war auf eine multimodal angelegte, im Kern heilpädagogisch ausgerichtete Entwicklungstherapie, wie sie sie bei Frau N erfahren hat, angewiesen; diese gehört nicht zu den Leistungen der Krankenhilfe und wird auch von der Krankenversicherung der Kl. nicht finanziert.

Die Kl. erhielt im hier streitgegenständlichen Zeitraum eine medikamentöse Behandlung mit Ritalin. Diese Stimulanzientherapie zeigt bei hyperaktiven Kindern, aber auch bei Vorliegen des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms ohne Hyperaktivität in den meisten Fällen gute Erfolge, freilich keine Langzeitwirkung über das Verabreichungsende hinaus. Nach gegenwärtigem ärztlichem Erkenntnisstand sollte jedenfalls bei längerfristig angelegten Behandlungen die medikamentöse Therapie begleitet werden durch eine Verhaltenstherapie und ggf. kognitive Trainings, deren jeweiliges Konzept auf die individuelle Symptomatik abgestellt sein muß (Döpfner, in: Petermann, Lehrb. der Klinischen Kinderpsychologie, 2. Aufl. (1996), S. 187ff., (199ff., 202); Schulz/Remschmidt, Ztschr. für Kinder- und Jugendpsychiatrie 18 (1990), 157 (163)). In diesem Sinne reichte allein die medikamentöse Therapie nicht hin; eine zusätzliche Behandlung war erforderlich.

Die heilpädagogische Entwicklungstherapie nach dem Konzept von Frau N stellte diese zusätzliche Behandlung dar. Mit kognitiven Trainings wurde auf die Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsdefizite reagiert; daneben traten kindzentrierte (Selbstinstruktionstrainings) und familienzentrierte Konzepte der Verhaltenstherapie (hierzu Döpfner, S. 189ff., (193ff.)); schließlich wurde auch die graphomotorische Umsetzungsschwäche einbezogen. Wie insbesondere der Kinderpsychiater Dr. A zur Überzeugung des Senats bestätigte, wurde diese Behandlung, welche verschiedene Ansätze kombinierte und in diesem (erweiterten) Sinne als multimodal bezeichnet werden kann, der vielschichtigen Symptomatik der Kl. gerecht. Die Krankenversicherung der Kl. hat die Finanzierung dieser Behandlung abgelehnt; wie Frau N im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat darlegte, zählen heilpädagogische Maßnahmen auch dann nicht zum Leistungsangebot der Krankenkassen, wenn sie verhaltenstherapeutische Ansätze einbeziehen.

Behandlungsformen aus dem Leistungsangebot der Krankenversicherung der Kl. waren nicht in gleichem Maße geeignet. Allerdings haben sowohl der Kinderarzt der Kl. Dr. K, als auch das Staatliche Gesundheitsamt anfangs eine ergotherapeutische und/oder beschäftigungstherapeutische Behandlung für ausreichend erachtet; Dr. K hat eine Therapie bei Frau N nach eigenem Bekunden nur empfohlen, weil bei einem Ergotherapeuten in erreichbarer Nähe zum Wohnort der Kl. erst nach erheblicher Wartezeit ein Behandlungsplatz frei gewesen wäre. Bewegungstherapie, Logopädie, Ergotherapie und Verhaltenstherapie zählen sämtlich zum Leistungsumfang der Krankenversicherung der Kl.; auch Frau N ist nach eigenem Bekunden seit 1988 als Verhaltenstherapeutin kassenzugelassen. Ob der Eingliederungshilfe der Nachranggrundsatz dann nicht mehr hätte entgegengehalten werden können, wenn ein Aufschub der nötigen Behandlung um einige Monate, längstens ein Jahr, deren Erfolg beeinträchtigt hätte, bedarf indes keiner Entscheidung. Es ist nämlich zur Überzeugung des Senats dargetan, daß eine logopädische Behandlung bei der Kl. nicht indiziert und eine Ergotherapie ebenso wie eine nicht speziell heilpädagogisch ausgerichtete Verhaltenstherapie nur bedingt erfolgversprechend war. Die Logopädie behandelt Störungen in der expressiven Sprache, woran die Kl. nicht leidet. Ergotherapie und Verhaltenstherapie erfassen lediglich Teilaspekte des Leidens der Kl. Wie sich nicht nur aus den Darlegungen von Frau N selbst, sondern auch aus denjenigen von Dr. A überzeugend ergibt, bestand eine ungleich höhere Erfolgschance für eine Behandlung, die - in Reaktion auf die vielschichtige Symptomatik - mehrere jeweils sektoral indizierte Therapieansätze integriert.

5. Der Bekl. wird daher über die Übernahme der Kosten aus der Behandlung der Kl. bei Frau N in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens erneut zu entscheiden haben.

Dies umfaßt nicht nur die Kosten aus der unmittelbaren Behandlung der Kl., sondern auch die Kosten des gleichzeitig durchgeführten "Elterntrainings". Wie bereits erwähnt, bildeten die Aufklärung der Mutter über das Leiden der Kl. und ihre ständige therapiebegleitende Einstellung auf Absichten, Durchführung und jeweilige Akzentuierung der Behandlung eine mitentscheidende Voraussetzung für deren Erfolg. Im übrigen wird ein im Einzelfall - wie hier - nötiges "Elterntraining" vom Leistungsumfang einer heilpädagogischen Maßnahme i.S. des § 40 I Nr. 2a BSHG durchaus umfaßt (ebenso OVG Bremen, FEVS 41, 49; vgl. auch OVG Lüneburg, FEVS 42, 22).

Rechtsgebiete

Sozialrecht