Strafbarkeit des Schwarzfahrens
Gericht
BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats)
Art der Entscheidung
Beschluss über Verfassungsbeschwerde
Datum
09. 02. 1998
Aktenzeichen
2 BvR 1907–97
Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn man unter dem Erschleichen einer Beförderung i. S. von § 265 a I StGB jedes der Ordnung widersprechende Verhalten versteht, durch das sich der Täter in den Genuß der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt. Die Überlistung einer Kontrollmöglichkeit oder eine täuschungsähnliche Manipulation braucht von Verfassungs wegen mithin nicht vorzuliegen.
Zum Sachverhalt:
Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Erschleichens von Leistungen (§ 265 a I StGB). Der Bf. beanstandet die Anwendung dieses Straftatbestandes auf den Fall des sogenannten Schwarzfahrens und rügt eine Verletzung von Art. 103 II GG.
Aus den Gründen:
Die Verfassungsbeschwerde kann nicht zur Entscheidung angenommen werden, weil ein Annahmegrund i. S. des § 93 a II BVerfGG nicht vorliegt.
1. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93 lit. a BVerfGG).
BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats): Strafbarkeit des
Schwarzfahrens
Sie wirft keine Fragen auf, die nicht auf der Grundlage
der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zum Gewährleistungsgehalt von Art. 103
II GG in seiner Ausprägung als Verbot strafbegründender und strafschärfender
Analogie gelöst werden können (vgl. nur BVerfGE 71, 108 [115] = NJW 1986, 1671;
BVerfGE 73, 206 [235] = NJW 1987, 43; BVerfGE 82, 236 [269]; BVerfGE 87, 209
[224] = NJW 1993, 1457; BVerfGE 87, 399 [411] = NJW 1993, 581; BVerfGE 92, 1
[12] = NJW 1995, 1141).
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 I BVerfGG genannten Rechte des Bf. angezeigt (§ 93 a II lit. b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Art. 103 II GG ist nicht verletzt.
Diese Grundrechtsnorm verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 47, 109 [120] = NJW 1978, 933; BVerfGE 55, 144 [152] = NJW 1981, 1087).
Dieses Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit schließt nach der Rechtsprechung eine analoge oder gewohnheitsrechtliche Strafbegründung aus. Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen; vielmehr ist jede Rechtsanwendung ausgeschlossen, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Art. 103 II GG zieht insoweit auch bei der Auslegung von Strafvorschriften eine verfassungsrechtliche Grenze (vgl. BVerfGE 71, 108 [115] = NJW 1986, 1671). Mit diesem Grundgedanken des Art. 103 II GG setzt sich auch eine Verurteilung in Widerspruch, der eine objektiv unhaltbare und deshalb willkürliche Auslegung des materiellen Strafrechts zugrunde liegt. Davon kann im vorliegenden Fall jedoch keine Rede sein.
Die Vorschrift des § 265 a StGB enthält vier Auffangtatbestände zum Betrug (§ 263 StGB) und wurde 1935 geschaffen, um den Schwierigkeiten Rechnung zu tragen, die bei der Feststellung der Betrugsmerkmale Täuschung, Irrtumserregung und Vermögensschädigung bei Inanspruchnahme von Massenleistungen ohne Entrichtung des geforderten Entgelts auftraten (vgl. dazu im einzelnen Lackner, in: LK, StGB, 10. Aufl., Vorb. § 265 a). Geschütztes Rechtsgut ist das Vermögen. Dieses soll nach dem Zweck des Gesetzes nicht durch den Mißbrauch des Vertrauens, das der Betreiber durch das uneingeschränkte Anbieten seiner Leistung an das gesamte Publikum vorgeleistet hat, straflos beeinträchtigt werden können (Lackner, in: LK, Vorb. § 265 a; Schönke–Schröder, StGB, 25. Aufl., § 265 a Rdnr. 1 m. w. Nachw.). Da das Tatbestandsmerkmal „Erschleichen“ schon im Hinblick auf seine Funktion der Lückenausfüllung für sich genommen eine weite Auslegung zuläßt, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die herrschende Auffassung im Schrifttum sowie die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung unter dem Erschleichen einer Beförderung jedes der Ordnung widersprechende Verhalten versteht, durch das sich der Täter in den Genuß der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt (so OLG Hamburg, NStZ 1988, 221 [222]; OLG Stuttgart, NJW 1990, 924; OLG Hamburg, NStZ 1991, 587 [588]; OLG Düsseldorf, NStZ 1992, 84; Lackner, in: LK, Vorb. § 265 a Rdnr. 8; für die gegenteilige Auffassung vgl. AG Hamburg, NStZ 1988, 221; Alwart, JZ 1986, 563; Albrecht, NStZ 1988, 222). Entgegen der Auffassung des Bf. verliert der Tatbestand des § 265 a StGB in der Tatmodalität des Erschleichens dadurch auch nicht jegliche Konturen. Es ist von Verfassungs wegen insbesondere nicht geboten, über das bloße Erwecken hinaus etwa die Überlistung einer Kontrollmöglichkeit oder eine täuschungsähnliche Manipulation zu verlangen. Wäre beispielsweise ein „Anscheinsempfänger“ vorhanden, läge eine Täuschung vor; damit wäre der Tatbestand des Betruges i. S. des § 263 StGB in Betracht zu ziehen. Auch in der vom Bf. beanstandeten Auslegung erfüllt das Tatbestandsmerkmal des Erschleichens seine rechtsstaatliche Garantiefunktion. So wird nicht jede unbefugte Entgegennahme einer Leistung als Erschleichen bezeichnet werden können, etwa dann, wenn die Sperreinrichtung eines Automaten versagt oder wenn vom Täter Gewalt angewendet wird. Daß der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 265 a StGB vergleichbare Fallgestaltungen im Auge hatte, ergibt sich ungeachtet der Unterschiede im einzelnen auch aus der Aufnahme der Tatmodalität der Zutrittserschleichung in die Vorschrift.
Kanzlei Prof. Schweizer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH © 2020
Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen