Anspruch auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus einem Vollstreckungsbescheid
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
09. 02. 1999
Aktenzeichen
VI ZR 9-98
Zu den Voraussetzungen eines auf § 826 BGB gegründeten Anspruchs auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus einem Vollstreckungsbescheid.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die Kl. begehrt die Unterlassung der Zwangsvollstreckung durch den Bekl. aus einem gegen sie erwirkten Vollstreckungsbescheid und die Herausgabe dieses Titels. Der Bekl. und der Ehemann der Kl. hatten eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet, um gemeinsam auf der Insel R. ein „Reiterzentrum„ mit Ferienhäusern und einem Hotelbettenhaus zu errichten. Wegen der damit verbundenen Bauvorhaben reichte die Gesellschaft am 30. 3. 1993 bei der zuständigen Baubehörde eine Bauvoranfrage ein. Am 4. 5. 1993 verkaufte der Bekl. seinen Gesellschaftsanteil an die Kl. Im notariellen Vertrag wurde die Abtretung des Anteils unter die aufschiebende Bedingung der vollständigen Zahlung des Kaufpreises in Höhe von 300000 DM gestellt; dieser sollte in drei gleichen Raten entrichtet werden, von denen die erste in der 17. Kalenderwoche, die zweite nach der Entscheidung über die Bauanfrage und die dritte am 1. 9. 1993 fällig werden sollte. Die Kl. bezahlte den Kaufpreis nicht. Der Bekl. setzte ihr hinsichtlich der ersten Rate am 7. 5. 1993 vergeblich eine - später bis 21. 5. 1993 verlängerte - Nachfrist. Am 6. 8. 1993 beschied die Baubehörde die Bauvoranfrage dahin, das Bauvorhaben sei derzeit nicht genehmigungsfähig; erforderlich sei die Aufstellung eines Bebauungsplans oder die Vorlage eines Vorhaben- und Erschließungsplans. Der Bekl. leitete im September 1993 das Mahnverfahren über einen Betrag von 200000 DM nebst Zinsen gegen die Kl. ein. Der Mahnbescheid und der Vollstreckungsbescheid wurden der Kl. jeweils durch Niederlegung zugestellt.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Kl. hat das KG durch Versäumnisurteil nach deren Antrag erkannt. Auf den Einspruch des Bekl. hin hat es das Versäumnisurteil im angefochtenen Urteil aufrecht erhalten. Die Revision war erfolgreich.
Auszüge aus den Gründen:
I. Das BerGer. erachtet das Klagebegehren auf der Grundlage des § 826 BGB für berechtigt. Zwar sei ein auf diese Vorschrift gestützter Schadensersatzanspruch gegenüber der Vollstreckung aus einem rechtskräftigen Titel nur in besonders schwerwiegenden und eng begrenzten Ausnahmefällen gegeben. Ein solcher Fall liege jedoch hier vor.
Der Vollstreckungsbescheid sei sachlich unrichtig; dem Bekl. stehe der titulierte Kaufpreisanspruch nicht zu. Da der Zweck, auf den die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts gerichtet gewesen sei, nach dem abschlägigen Bescheid der Baubehörde auf die Bauvoranfrage nicht mehr habe erreicht werden können, sei objektive nachträgliche Unmöglichkeit der Erfüllung des Kaufvertrags über den Gesellschaftsanteil nach § 323 I BGB eingetreten. Die Abtretung des Anteils sei mangels Zahlung des Kaufpreises, den der Bekl. nun nicht mehr verlangen könne, nicht wirksam erfolgt. Der Bekl. habe auch die erforderliche Kenntnis von der Unrichtigkeit des Vollstreckungsbescheids. Da er schon vor Einleitung des Mahnverfahrens habe erkennen können, dass eine gerichtliche Schlüssigkeitsprüfung zu einer Ablehnung seines Klagebegehrens führen müsste, liege allein darin, dass er sich des Mahnverfahrens bedient habe, ein besonderer Umstand, der die Vollstreckung aus dem so erwirkten, materiell unrichtigen Titel sittenwidrig mache. Zum subjektiven Tatbestand des § 826 BGB bedürfe es hier nicht der Feststellung oder Vermutung, dass der Gläubiger das Mahnverfahren bewusst missbraucht habe.
Als weitere die Sittenwidrigkeit begründende Umstände seien der vollständige Wegfall des Gesellschaftszwecks und der unwidersprochene Vortrag der Kl. zu berücksichtigen, dass es der Bekl. gewesen sei, der beim Verkauf seines Gesellschaftsanteils beteuert habe, es werde mit Sicherheit ein positiver Bauvorbescheid ergehen. Auch habe der Bekl. nach dem Verkauf nichts unternommen, um noch auf eine positive Entscheidung hinzuwirken. Bei dieser Sachlage rechtfertige es einen Schadensersatzanspruch der Kl. nach § 826 BGB, wenn der Bekl. die Vollstreckung aus dem Titel betreibe, von dem er jedenfalls mittlerweile wisse, dass darin eine Forderung zuerkannt worden sei, auf die er keinen Anspruch habe.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
A. Da das BerGer. offen lässt, ob der Vollstreckungsbescheid der Kl. wirksam zugestellt wurde, fehlt es an den erforderlichen Feststellungen für die Rechtskraft des Titels, die ihrerseits grundlegende Voraussetzung des hier geltend gemachten Schadensersatzanspruchs ist. Damit wird zugleich - entgegen der Auffassung des BerGer. - das Rechtsschutzbedürfnis der Kl. für die vorliegend erhobene Klage in Frage gestellt. Dennoch kann der Senat hier in der Sache entscheiden, da die revisionsrechtliche Prüfung auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen die materiellrechtliche Unbegründetheit der Klage ergibt und in einem solchen Fall die Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses hintangestellt werden kann (vgl. BGHZ 130, 390 [400] = NJW 1996, 193 = LM H. 2-1996 § 22 GWB Nr. 24 m.w. Nachw.).
B. Die Beurteilung des BerGer., der Kl. stehe auf der Grundlage des § 826 BGB ein Anspruch auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung und Herausgabe des Titels zu, beruht - auch wenn man vom Eintritt der Rechtskraft ausgeht - auf durchgreifenden Rechtsfehlern.
1. Das BerGer. geht allerdings zu Recht davon aus, dass die Durchbrechung der Rechtskraft eines Vollstreckungstitels, auch eines Vollstreckungsbescheides, auf der Grundlage eines Schadensersatzanspruchs nach § 826 BGB nur in besonders schwerwiegenden, eng begrenzten Ausnahmefällen gewährt werden darf, weil sonst die Rechtskraft ausgehöhlt und die Rechtssicherheit beeinträchtigt würde. Die Rechtskraft muss nur dann zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, dass der Titelgläubiger seine formelle Rechtsstellung unter Missachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten des Schuldners ausnutzt (st. Rspr.; vgl. z.B. BGHZ 101, 380 [383] = NJW 1987, 3256 = LM § 700 ZPO Nr. 5; BGHZ 103, 44 [46] = NJW 1988, 971 = LM § 826 [Fa] BGB Nr. 32; BGHZ 112, 54 [58] = NJW 1991, 30 = LM § 607 BGB Nr. 124; Senat, NJW 1998, 2818 = VersR 1999, 78 [79]). Die Anwendung des § 826 BGB in derartigen Fällen setzt nicht nur die materielle Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels und die Kenntnis des Gläubigers hiervon voraus; hinzutreten müssen vielmehr besondere Umstände, die sich aus der Art und Weise der Titelerlangung oder der beabsichtigten Vollstreckung ergeben und die das Vorgehen des Gläubigers als sittenwidrig prägen, so dass es letzterem zugemutet werden muss, die ihm unverdient zugefallene Rechtsposition aufzugeben.
2. Die Revision rügt zu Recht, dass im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des BerGer. die unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze zu fordernden Anspruchsvoraussetzungen für die Kl. nicht gegeben sind.
a) Das BerGer. stützt seine Auffassung, dem gegen die Kl. ergangenen Vollstreckungsbescheid liege materiellrechtlich kein berechtigter Zahlungsanspruch des Bekl. zugrunde, im wesentlichen auf die Überlegung, infolge endgültiger Verfehlung des Gesellschaftszwecks sei die Kaufpreisforderung wegen objektiv nachträglicher Unmöglichkeit der Erfüllung des Kaufvertrags gem. § 323 I BGB erloschen. Ob dieser Beurteilung, die von der Revision mit Erwägungen angegriffen wird, die nicht von vornherein von der Hand zu weisen sind, letztlich zu folgen ist, kann offen bleiben. Denn auch wenn der Vollstreckungsbescheidmangels eines noch bestehenden Kaufpreisanspruchs des Bekl. in der Sache als unrichtig anzusehen sein sollte, würde dies den hier geltend gemachten Schadensersatzanspruch der Kl. aus § 826 BGB nichtrechtfertigen. Zwar wäre dann die nötige Kenntnis des Titelgläubigers von der Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels zu bejahen, da es hierfür ausreicht, wenn dem Gläubiger diese Kenntnis erst während des Rechtsstreits über den Anspruch aus § 826 BGB vermittelt wird (vgl. BGHZ 101, 380 [385] = NJW 1987, 3256 = LM § 700 ZPO Nr. 5). Jedoch fehlt es an den zusätzlich erforderlichen besonderen, die Sittenwidrigkeit begründenden Umständen.
b) Die Überlegungen, mit denen das BerGer. hier solche Umstände als gegeben erachtet hat, sind nicht frei von Rechtsfehlern.
aa) Der festgestellte Sachverhalt rechtfertigt nicht die Annahme, der Bekl. habe als Gläubiger das Mahnverfahren bewusst missbraucht, um für einen ihm nicht zustehenden Anspruch einen Vollstreckungstitel zu erlangen. Davon will wohl auch das BerGer. nicht ausgehen. Soweit im Berufungsurteil ausgeführt wird, das Schreiben des Bekl. vom 14. 5. 1993 spreche dafür, dass er schon vor Beantragung des Mahnbescheids gewusst habe, dass er den Kaufpreis materiellrechtlich nicht fordern könne, wird diese Beurteilung von den getroffenen Feststellungen nicht hinreichend getragen. Das BerGer. hat das Schreiben vom 14. 5. 1993 selbst dahin ausgelegt, es könne ihm eine (die Kaufpreisforderung zum Erlöschen bringende) Rücktrittserklärung des Bekl., der damals noch von der wirtschaftlichen Werthaltigkeit der Forderung ausgegangen sei, nicht entnommen werden.
bb) Der Beurteilung des BerGer., ein besonderer, die Sittenwidrigkeit begründender Umstand sei darin zu sehen, dass der Bekl. sich des Mahnverfahrens bedient habe, obwohl er habe erkennen können, dass bereits die gerichtliche Schlüssigkeitsprüfung zu einer Abweisung seines Klagebegehrens führen müsste, kann aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden.
(a) Zum einen sind die Rechtsfragen, die sich im Hinblick auf einen möglichen materiellrechtlichen Untergang der im Vollstreckungsbescheid titulierten Kaufpreisforderung des Bekl. stellen, keineswegs einfach gelagert und nicht ohne intensive rechtliche Prüfung zu beantworten. Schon aus diesem Grunde kann es dem Bekl., der ersichtlich nicht über besondere Rechtskenntnisse verfügt, nicht als sittenwidriges Vorgehen zur Last gelegt werden, dass er eine erkennbar unschlüssige Forderung ohne Sachprüfung durch das Gericht habe durchsetzen wollen.
(b) Zum anderen lässt sich aus der Inanspruchnahme des Mahnverfahrens zur Titulierung eines Anspruchs, dessen Unschlüssigkeit erkennbar gewesen wäre, nicht generell ein besonderer, die Sittenwidrigkeit der Vollstreckung aus dem Titelbegründender Umstand herleiten.
Soweit das BerGer. sich für seine abweichende Auffassung auf die Überlegungen stützen will, die in der in BGHZ 101, 380ff. = NJW 1987, 3256 = LM § 700 ZPO Nr. 5, veröffentlichten Entscheidung angestellt wurden, verkennt es, dass diese die besonderen Verhältnisse im Bereich der Ratenkreditverträge betrafen, wie der erkennende Senat bereits bei früherer Gelegenheit im einzelnen dargelegt hat (vgl. BGHZ 103, 44 [48ff.] = NJW 1988, 971 = LM § 826 [Fa] BGB Nr. 32). In derartigen Fällen, in denen dem Gläubiger typischerweise einwirtschaftlich schwächerer und geschäftlich unerfahrener Kreditnehmer gegenüber steht, dem die Vertragsbedingungen gleichsam diktiert werden und der seine prozessualen Verteidigungsmöglichkeiten häufig nicht zu nutzen weiß, vermag die Erwirkung eines Vollstreckungsbescheids für eine erkennbar unschlüssige, in solchen Fällen auf einem sittenwidrigen Darlehensgeschäft beruhende Forderung einen Sittenverstoß zu begründen; auch dann ist jedoch nicht die Unschlüssigkeit der Forderung als solche tragender Grund der Beurteilung, sondern die Schutzbedürftigkeit des typischerweise sowohl hinsichtlich der Ausgestaltung des Kreditvertrags als auch der prozessualen Durchsetzung der hieraus hergeleiteten Ansprüche unterlegenen Schuldners (vgl. Senatsurteil BGHZ 103, 44 [49] = NJW 1988, 971 = LM § 826 [Fa] BGB Nr. 32).
Abgesehen von Fallgestaltungen, in denen der Gläubiger das Mahnverfahren bewusst zur Durchsetzung rechtswidriger Ziele missbraucht, muss die Durchbrechung der Rechtskraft mit Hilfe des § 826 BGB nach Erwirkung eines rechtskräftigen Titels über einen nicht schlüssigen Anspruch im Mahnverfahrengrundsätzlich auf Fälle beschränkt bleiben, die - wie dies bei der erwähnten Fallgruppe der Ratenkreditverträge zu bejahen ist - nach der Art der zugrunde liegenden Rechtsbeziehungen eine klar umrissene sittenwidrige Typik aufweisen und in denen ein besonderes Schutzbedürfnis des mit dem Mahnverfahren überzogenen Schuldners hervortritt (vgl. BGHZ 103, 44 [50] = NJW 1988, 971 = LM § 826 [Fa] BGB Nr. 32; Senat, NJW 1998, 2818 = VersR 1999, 78 [79]).
cc) Der vorliegende Sachverhalt weist keinerlei Merkmale einer typisch sittenwidrigen Fallgestaltung im dargelegten Sinne auf. Hier geht es vielmehr um die Abwicklung rechtsgeschäftlicher Vereinbarungen, die der Verwirklichung eines umfangreichen, einerseits mit Gewinnerwartungen, andererseits aber auch mit wirtschaftlichen Risiken verbundenen gewerblichen Vorhabens dienten, dessen Beteiligte sich gerade nicht von vornherein in wirtschaftlicher und geschäftlicher Hinsicht deutlich „ungleichgewichtig„ gegenüber standen.
dd) Bei dieser Sachlage ist auch - gemessen an den in der zitierten Rechtsprechung aufgestellten Kriterien - kein besonderes Schutzbedürfnis der Kl. zu erkennen. Den getroffenen Feststellungen sind insbesondere keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass sie im Hinblick auf eine - vom Bekl. ausgenutzte - geschäftliche und rechtliche Unerfahrenheit ein Opfer des Mahnverfahrens geworden ist. Der Bekl. konnte hier nicht damit rechnen, dass sich die Kl. weder gegen den Mahn- noch gegen den Vollstreckungsbescheid mit den zulässigen rechtlichen Mitteln wehren und ihre Einwendungen gegenüber der gegen sie geltend gemachten Kaufpreisforderung nicht im Rechtsstreit zur Prüfung stellen würde.
c) Auch die weiteren im Berufungsurteil angeführten Gesichtspunkte vermögen entgegen der Auffassung des BerGer. die Annahme besonderer, die Sittenwidrigkeit begründender Umstände nicht zu rechtfertigen. Soweit das BerGer. darauf abstellt, der Bekl. habe den Verkauf des Gesellschaftsanteils mit seinen Beteuerungen herbeigeführt, dass mit Sicherheit einpositiver Bauvorbescheid ergehen werde, vermag dies zur Bejahung eines Sittenverstoßes nichts beizutragen, da aufgrund der getroffenen Feststellungen nichts dafür spricht, dass der Bekl. seinerzeit an einem positiven Ausgang des baurechtlichen Verfahrens gezweifelt hätte oder auch nur hätte zweifeln müssen. Auch aus der im Berufungsurteil erörterten Frage, ob der Bekl. nach Abschluss des Kaufvertrags seinen Pflichten gegenüber der Gesellschaft nachgekommen ist oder nicht, lassen sich für die hier wesentliche Frage eines sittenwidrigen Verhaltens keine Anhaltspunkte entnehmen, die nunmehr im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs aus § 826 BGB zur Durchbrechung der Rechtskraft des Vollstreckungsbescheids führen könnten.
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