Bedürftigkeit als Voraussetzung für eine Ausbildungsförderung (BAföG)
Gericht
BVerwG
Datum
04. 07. 1985
Aktenzeichen
5 C 55.82
Zur Ausbildungsförderung über die Vollendung des 30. (evtl. 35.) Lebensjahres hinaus.
Bedürftig i. S. von § 10 III S. 2 Nr. 4 BAföG ist, wer vor dem Beginn des Ausbildungsabschnitts über einzusetzendes Vermögen im Sinne von § 88 BSHG nicht verfügt und dessen monatliches Einkommen die nach § 79 BSHG maßgebliche Einkommensgrenze nicht übersteigt.
I.
Der 1929 geborene Kl. begehrt Leistungen nach dem BAföG für ein Studium der Germanistik und der Sozialkunde an der Universität R., das er im Sommersemester 1980 begonnen hat.
Zur Begründung seines Antrages auf Gewährung von Ausbildungsförderung [Afö] trug der Kl. vor, er habe nach der Reifeprüfung i. J. 1947 zunächst wegen Studienplatzmangels, nach der "Währungsreform" i. J. 1948 aus finanziellen Gründen nicht studieren können. Von 1949 bis 1951 habe er eine kaufmännische Lehre durchlaufen und sei danach im Einfuhrhandel tätig gewesen; in späteren Jahren sei er in den Außendienst gegangen. Seit etwa 1975 hätten ihm die Ärzte wegen einer leichten Angina pectoris das mit dem Außendienst verbundene Autofahren untersagt. Seit dieser Zeit sei er - bis auf eine einjährige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme 1977/78 - beim Arbeitsamt D. als arbeitslos gemeldet. Das Arbeitsamt sei nicht in der Lage gewesen, ihm im kaufmännischen Innendienstbereich eine angemessene Position anzubieten. Seit 1975 bestreite seine Ehefrau überwiegend den Lebensunterhalt der Familie. Er habe vier Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren zu versorgen. Nach dem Abschluß des sprachwissenschaftlichen Studiums dürfte es möglich sein, als Privatlehrer, Privatschullehrer oder bei der Presse tätig zu sein.
Das Studentenwerk R. lehnte den Antrag des Kl. im Juni 1980 mit der Begründung ab, eine einschneidende Veränderung der persönlichen Verhältnisse des Auszubildenden i. S. von § 10 III S. 2 Nr. 4 BAföG sei nach Tz 10.3.5 BAföGVwV nur bei Tod oder Scheidung des Ehegatten gegeben; diese Voraussetzung liege nicht vor. Auch die übrigen Ausnahmetatbestände des § 10 III S. 2 BAföG träfen nicht zu.
Auf die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage hat das VerwG die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen aufgehoben und den Bekl. verpflichtet, das vom Kl. an der Universität R. begonnene Studium der Germanistik und der Sozialkunde dem Grunde nach als förderungsfähig anzuerkennen. Das VerwG hat dargelegt, § 10 III S. 2 Nr. 4 BAföG sei nicht nur bei Scheidung oder Tod des Ehegatten anzuwenden, sondern auch, wenn die Bedürftigkeit durch Krankheit bedingt und durch Arbeitslosigkeit herbeigeführt sei. [Wird ausgeführt.]
Auf die Berufung des Bekl. hat der BayerVGH am 1. 4. 1982 das Urteil des VerwG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der VGH hat die Voraussetzungen eines der in § 10 III S. 2 BAföG enumerativ aufgeführten Ausnahmetatbestände für die Leistung von Afö nach der Überschreitung der in § 10 III S. 1 BAföG bestimmten Altersgrenze schon deswegen nicht als erfüllt angesehen, weil die Art und Dauer einer nach dem Abschluß der angestrebten Ausbildung möglichen Berufsausübung außer Verhältnis zu den für die Ausbildung aufzuwendenden öffentlichen Mitteln stünden.
Auch wenn das Merkmal der Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel in § 10 III S. 2 BAföG nicht ausdrücklich genannt sei, sei diese Vorschrift unter Mitberücksichtigung der Entstehungsgeschichte, des Sinnes und Zweckes und der systematischen Stellung gleichwohl dahin auszulegen, daß in Ausnahmefällen über den Wortlaut hinaus eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen sei. [Wird ausgeführt.]
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Kl.
II.
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Parteien damit einverstanden sind (§ 141 VwGO i. V. m. § 125 I und § 101 II VwGO).
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an den VGH, weil auf der Grundlage der darzulegenden rechtlichen Erwägungen noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind, die zu treffen dem Revisionsgericht verwehrt ist (§ 144 III Nr. 2 VwGO).
Die Entscheidung des VGH verletzt Bundesrecht (§ 137 I VwGO). Die Ansicht des VGH, die Leistung von Afö nach der Überschreitung der in § 10 III S. 1 i. V. m. § 66 a BAföG in der hier anzuwendenden Fassung des 6. BAföGÄndG v. 16. 7. 1979 (BGBl I 1037) bestimmten Altersgrenze sei unter den Voraussetzungen des § 10 III S. 2 BAföG stets zusätzlich davon abhängig, daß die Art und Dauer einer nach dem Abschluß der angestrebten Ausbildung möglichen Berufsausübung nicht außer Verhältnis zu den für die Ausbildung aufgewendeten öffentlichen Mitteln stehe, trifft jedenfalls für die Nr. 4 der genannten Vorschrift nicht zu.
Nach § 10 III S. 2 Nr. 4 BAföG wird für einen nach der Überschreitung der Altersgrenze begonnenen Ausbildungsabschnitt unter folgenden Voraussetzungen Afö geleistet: Die persönlichen Verhältnisse des Auszubildenden müssen eine einschneidende Veränderung erfahren haben, und der Auszubildende muß bedürftig geworden sein. Zwischen der einschneidenden Veränderung und der Bedürftigkeit muß ein Kausalzusammenhang bestehen. Ferner darf der Auszubildende noch keine Ausbildung, die nach dem BAföG gefördert werden kann, berufsqualifizierend abgeschlossen haben.
Im Wortlaut dieser Vorschrift läßt sich kein Anhaltspunkt finden, daß von der Altersgrenze nur abgesehen werden soll, wenn der Auszubildende noch die Möglichkeit hat, eine ausreichend lange Zeit erwerbstätig zu sein. Zwar wurde für die ursprüngliche Fassung des § 10 III BAföG, wonach die Altersgrenze nicht galt, wenn "die Art der Ausbildung oder die Lage des Einzelfalls die Überschreitung der Altersgrenze rechtfertigt(e)", entsprechend der in Tz 10.3.4 BAföGVwV 1976 (GMBl S. 386) getroffenen Regelung gefordert, daß der Auszubildende nach Beendigung der Ausbildung für eine - insbesondere der Dauer der Ausbildungszeit u. der Art des Berufes - angemessene Zeit erwerbstätig sein werde. Das läßt sich jedoch für die Nr. 4 der hier maßgebenden Neufassung des § 10 III S. 2 BAföG nicht mehr vertreten. In der Neufassung des § 10 III BAföG wurde die frühere, allgemein gehaltene Regelung, die lediglich auf die Art der Ausbildung und die Lage des Einzelfalles abstellte, durch eine Regelung ersetzt, nach der abschließend für vier genau umgrenzte Fallgruppen von der Altersgrenze abzusehen ist. Der neuen Ausnahmebestimmung in Nr. 4 ist nicht zu entnehmen, daß dabei auf die Dauer der noch möglichen Erwerbstätigkeit abgestellt werden soll. Auch in der nach der Neufassung des § 10 III BAföG durch das 6. BAföGÄndG erlassenen BAföGVwV 1980 (GMBl S. 358) - ebenso BAföGVwV 1982 (GMBl S. 311) - fehlt eine der früheren Regelung in Tz 10.3.4 BAföGVwV 1976 entsprechende Bestimmung. Dies läßt gleichfalls erkennen, daß die frühere Einschränkung nicht mehr gelten soll. Aus allgemeinen Erwägungen könnte allenfalls in Betracht kommen, daß Afö nach der Überschreitung der Altersgrenze auch ausnahmsweise nicht mehr zu leisten ist, wenn der Betreffende die Ausbildung in einem so hohen Alter beginnt, daß eine Erwerbstätigkeit nach dem Abschluß der Ausbildung praktisch ausgeschlossen ist. Dann könnte der Zweck des § 10 III S. 2 Nr. 4 BAföG nicht mehr erfüllt werden, durch die Förderung einer berufsqualifizierenden Ausbildung dazu beizutragen, daß eine wirtschaftliche Bedürftigkeit behoben wird (vgl. BVerwG, Urteil v. 9. 5. 1985 - 5 C 48.82 = FamRZ 1985, 970). Ein solcher Sachverhalt ist hier nicht gegeben.
Kommt es danach in den Fällen des § 10 III S. 2 Nr. 4 BAföG auf die Dauer der nach der zu fördernden Ausbildung noch zu erwartenden Berufstätigkeit nicht mehr an, dann kann auch insoweit der damit korrespondierende Grundsatz, den das BVerwG in BVerwGE 61, 87 (90) = FamRZ 1981, 100 unter der Geltung der ursprünglichen Fassung des § 10 III BAföG entwickelt hat, keine Geltung mehr beanspruchen. Danach konnte die Lage des Einzelfalles die Förderung einer Ausbildung, die erst nach Vollendung des 35. Lebensjahres begonnen wurde, nur dann rechtfertigen, wenn der Auszubildende - abweichend von der allgemeinen Regel - die Chance, eine seiner Neigung und Eignung entsprechende Berufsausbildung bis zum 35. Lebensjahr zu beginnen, nicht gehabt hat. Es bedarf deshalb im vorliegenden Fall keiner tatsächlichen Feststellungen, aus welchen Gründen der Kl. in dem Zeitpunkt zwischen Erwerb der Hochschulreife und Vollendung des 35. Lebensjahres keine förderungsfähige Ausbildung begonnen hat.
Vermag danach der Umstand, daß die Art und die Dauer einer nach dem Abschluß der angestrebten Ausbildung möglichen Berufstätigkeit des Kl. außer Verhältnis zu den für die Ausbildung aufzuwendenden öffentlichen Mitteln stände, die Versagung von Afö wegen Überschreitung der Altersgrenze nicht zu rechtfertigen, dann kommt es darauf an, ob die Tatbestandsmerkmale des § 10 III S. 2 Nr. 4 BAföG vorliegen. Hierzu hat der VGH - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - bisher tatsächliche Feststellungen nicht getroffen. Die Sache ist daher zurückzuverweisen. Im einzelnen gilt dazu folgendes:
Ist dem Auszubildenden früher bereits eine berufliche Qualifikation durch eine nach dem BAföG förderungsfähige Ausbildung vermittelt worden, dann scheidet die Förderung einer erneuten Ausbildung nach der Überschreitung der Altersgrenze auch dann aus, wenn der Betroffene infolge einer einschneidenden Veränderung seiner persönlichen Verhältnisse bedürftig geworden ist. Daran scheitert allerdings das Klagebegehren nicht. Denn die kaufmännische Lehre, die der Kl. in den Jahren 1949 bis 1951 durchgeführt und berufsqualifizierend abgeschlossen hat, war keine Ausbildung, die unter der Geltung des BAföG förderungsfähig gewesen wäre (vgl. BVerwGE 55, 194 [196] = FamRZ 1978, 540).
Eine Ausnahme von dem Grundsatz des § 10 III S. 1 BAföG ist zunächst von der Bedürftigkeit des Auszubildenden abhängig. Die Bedürftigkeit ist im Gesetz nicht definiert. Da in keiner anderen Vorschrift des Gesetzes Bedürftigkeit als Leistungsvoraussetzung ausdrücklich genannt ist, sind die Merkmale, bei deren Vorliegen anzunehmen ist, daß der Auszubildende nach der Überschreitung der Altersgrenze "bedürftig" geworden ist, nicht identisch mit den Voraussetzungen, unter denen nach dem Grundsatz des § 1 BAföG die staatliche Afö überhaupt einsetzt. Unter Bedürftigkeit ist nicht das Unvermögen zu verstehen, aus dem anzurechnenden Einkommen und Vermögen des Auszubildenden und seines Ehegatten - Elterneinkommen und -vermögen bleiben bei einem Beginn des Ausbildungsabschnitts nach Vollendung des 30. Lebensjahres ohnehin außer Betracht (vgl. § 11 III S. 1 Nr. 2 BAföG) - die Kosten für den Lebensunterhalt und die Ausbildung zu tragen. Bedürftig ist vielmehr nur derjenige, dem ausreichende Mittel zur Lebensführung fehlen und der außerstande ist, sich diese Mittel selbst zu beschaffen. Das ist regelmäßig - wie in Tz 10.3.6 BAföGVwV 1980 (ebenso Tz 10.3.6 BAföGVwV 1982) umschrieben - dann der Fall, wenn der Auszubildende über einzusetzendes Vermögen i. S. von § 88 BSHG nicht verfügt und sein monatliches Einkommen die nach § 79 BSHG maßgebliche Einkommensgrenze nicht übersteigt.
Ist der Auszubildende vor dem Beginn des Ausbildungsabschnitts, für den er nach der Überschreitung der Altersgrenze Afö begehrt, bedürftig, dann kann darauf ein Förderungsanspruch nur gestützt werden, wenn die Bedürftigkeit des Auszubildenden auf eine einschneidende Veränderung seiner persönlichen Verhältnisse zurückzuführen ist. Zwischen dieser Veränderung und der Bedürftigkeit muß ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Einschneidend ist eine Veränderung, die durch ein Ereignis herbeigeführt wird, das den Auszubildenden unversehens zu einem Neubeginn seiner Lebensführung zwingt. So bezeichnet Tz 10.3.5 BAföGVwV 1980 zutreffend die Ehescheidung oder den Tod des Ehegatten als einschneidende Veränderung der persönlichen Verhältnisse des Auszubildenden. Allerdings ist eine Verengung dieses Begriffes auf die genannten Fälle nicht gerechtfertigt. Auch andere Ereignisse können die Lebensverhältnisse des Auszubildenden einschneidend verändern. So kann ein Arbeitsplatzverlust wegen einer krankheits- oder unfallbedingten Behinderung ein derartiges Ereignis sein. Auch wenn dem Betroffenen dann regelmäßig Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Vorschriften des AFG zustehen, steht eine gleichwohl darauffolgende Bedürftigkeit mit dem Arbeitsplatzverlust noch in einem ursächlichen Zusammenhang. Denn die Lohnersatzleistungen können im Anschluß an den Verlust des Arbeitsplatzes so gering sein oder dies erst nach Ablauf der Zahlung von Arbeitslosengeld werden, daß das Einkommen des Auszubildenden unter Einschluß des Arbeitslosengeldes oder der Arbeitslosenhilfe und das Einkommen seines nicht getrennt lebenden Ehegatten zusammen die Einkommensgrenze des § 79 BSHG nicht erreichen. Bedürftigkeit ist auch dann noch auf den Arbeitsplatzverlust zurückzuführen, wenn die Einkommensgrenze des § 79 BSHG erst dadurch unterschritten wird, daß auch Einkommen des Ehegatten des Auszubildenden infolge einer einschneidenden Veränderung der persönlichen Verhältnisse wegfällt. Das könnte im vorliegenden Fall im Zusammenhang mit dem Konkurs über das Vermögen der Ehefrau des Kl. geschehen sein. Wenn der Kl. allerdings allein wegen der Aufnahme der Ausbildung bedürftig geworden sein sollte, wäre dies unbeachtlich. Entsteht erst mit der Aufnahme der Ausbildung Bedürftigkeit - nämlich dadurch, daß eine Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosenhilfe: Der Betreffende steht der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung (§ 134 I S. 1 Nr. 1 AFG), entfällt -, dann begründet dies einen Anspruch auf Afö nicht.
Ebenso wie im genannten Urteil v. 9. 5. 1985 = FamRZ 1985, 970 kann auch hier die Frage offenbleiben, ob ein Anspruch nach § 10 III S. 2 Nr. 4 BAföG entfällt, wenn der Auszubildende seine Bedürftigkeit in vorwerfbarer Weise herbeigeführt hat. Wie das VerwG mit zutreffenden Erwägungen dargelegt hat, kann dem Kl. kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß ihn seine subjektiv empfundenen körperlichen Beschwerden veranlaßt hatten, seine Außendiensttätigkeit von sich aus aufzugeben.
Schließlich ist es unschädlich, daß der Kl. erst mehrere Jahre nach dem Arbeitsplatzverlust die Ausbildung, deren Förderung er begehrt, begonnen hat. Wie das BVerwG in dem Urteil v. 9. 5. 1985 = FamRZ 1985, 970 im einzelnen dargelegt hat, verlangt die Nr. 4 des § 10 III S. 2 BAföG nicht, daß der Auszubildende die Ausbildung "alsbald" nach der Veränderung aufnimmt.
Da die Ausbildung zum Pädagogen ihrer Art nach die Überschreitung der Altersgrenze nicht rechtfertigt (§ 10 III S. 2 Nr. 2 BAföG; vgl. auch BVerwGE 61, 92 [insbesondere S. 95 ff.] = FamRZ 1981, 210 ff.) und der Vortrag des Kl. keinen Anhalt dafür bietet, daß er aus persönlichen oder familiären Gründen gehindert war, den Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen (§ 10 III S. 2 Nr. 3 BAföG), wird der Kl. nach alledem Afö nur beanspruchen können, wenn festgestellt wird, daß er vor dem Beginn des Studiums bedürftig gewesen ist.
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