Patientenvortrag im Arzthaftungsprozess - Keine strengen Anforderungen an Patientenvortrag im Arztprozess

Gericht

OLG Oldenburg


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

12. 01. 1998


Aktenzeichen

5 U 154/98


Tatbestand

Zum Sachverhalt:

Der Kl. begehrt Schmerzensgeld wegen des Verlustes des linken Hodens, den er auf eine unzureichende diagnostische Abklärung durch die im Krankenhaus der Bekl. zu 1 tätigen Ärzte (Chefarzt - Bekl. zu 2; Oberarzt - Bekl. zu 3; Stationsarzt - Bekl. zu 4) zurückführt. Die Untersuchung des Kl. durch den Bekl. zu 4 am 24. 8. 1994 gegen 5.30 Uhr auf Grund plötzlich aufgetretener Unterbauchschmerzen links ergab einen klinisch unauffälligen Befund. Er konnte nach alsbaldigem Rückgang der Beschwerden ohne medizinische Versorgung entlassen werden. Am 25. 8. 1994 wurde der Kl. um 0.10 Uhr wegen erneuter Schmerzen stationär aufgenommen und klinisch mit zusätzlichen Befunderhebungen (Laborparameter, EKG, Sonographie) untersucht. Am darauf folgenden Tag wurde er laut Arztbrief an den Hausarzt gegen 10.30 Uhr beschwerdefrei entlassen. Der um 12.00 Uhr aufgesuchte Hausarzt stellte eine druckschmerzhafte Hodenschwellung links fest und veranlasste die sofortige Vorstellung bei einem Urologen, der den Kl. nach Untersuchung gegen 14.00 Uhr unter der Diagnose „Hodentorsion links“ umgehend in das Hospital in L. einwies. Bei der gegen 16.00 Uhr durchgeführten Operation musste der linke Hoden wegen vollständiger Infarzierung (abgestorbenes Gewebe) entfernt werden; der rechte Hoden wurde vorbeugend fixiert. Der Kl. hat den Bekl. vorgeworfen, die Hodentorsion, die nach dem weiteren Verlauf bereits zur Zeit der Entlassung vorgelegen haben müsse auf Grund schwer wiegender diagnostischer Pflichtverletzungen nicht erkannt zu haben, was zu dem Verlust des Hodens geführt habe. Die Bekl. haben dem entgegengehalten, die auch darauf ausgedehnten klinischen Untersuchungen hätten keinen Hinweis auf eine Hodentorsion ergeben, sodass der Kl. unter der Verdachtsdiagnose eines gastrointestinalen Infektes beschwerdefrei habe entlassen werden können. Der Zeitraum bis zur Operation erlaube nicht den Schluss, der Hodenstrang sei schon vor Entlassung verdreht gewesen. Der in dem vorgeschalteten Schlichtungsverfahren als Gutachter hinzugezogene Chefarzt einer Urologischen Abteilung hat einen Verstoß gegen die anerkannten Regeln der Heilkunst und damit eine Verantwortlichkeit der Bekl. verneint. Demgegenüber ist die Schlichtungsstelle auf Grund der Befunde nach der Entlassung davon ausgegangen, dass sich die Hodentorsion bereits zuvor ausgebildet haben müsse und sich eine adäquate Therapie infolge Versäumnisse bei den Bekl. um Stunden verzögert habe.

Das LG hat sachverständig beraten die Klage abgewiesen, da diagnostische Versäumnisse nicht festzustellen seien und sich die Hodentorsion auch erst nach der Entlassung aus dem Krankenhaus entwickelt haben könne. Die Berufung des Kl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Dem Kl. steht im Zusammenhang mit der Behandlung im Krankenhaus der Bekl. zu 1 und dem Verlust des linken Hodens kein Schmerzensgeldanspruch gem. §§ 823 I, 847, 31, 831 BGB zu. Das LG hat unter nicht zu beanstandender Auswertung der sachverständigen Beratung behandlungsfehlerhafte Versäumnisse bei der diagnostischen Abklärung des gegebenen Beschwerdebildes und einen Zusammenhang zwischen Behandlung und dem Verlust des Hodens nicht festzustellen vermocht, da eine Entwicklung der Torsion erst nach der Entlassung nicht auszuschließen sei. Für beides - Behandlungsfehler und Ursachenzusammenhang - ist der Kl. darlegungs- und beweisbelastet. Dem hat er nicht genügen können. Insoweit kann zunächst gem. § 543 I Halbs. 2 ZPO auf die überzeugenden Gründe der angefochtenen Entscheidung, die sich der Senat zu Eigen macht, verwiesen und von einer rein wiederholenden Darstellung abgesehen werden. Dem hat auch die Berufung nichts Erhebliches entgegenzusetzen. Einer weiteren sachverständigen Abklärung des Krankheits- und Behandlungsverlaufs bedarf es nicht. Auch besteht keinerlei Anlass an der Sachkunde des Gerichtssachverständigen zu zweifeln.

Es ist bereits nicht erkennbar, welche haftungsbegründenden Vorwürfe gegenüber den Bekl. zu 2 und 3 erhoben werden; ihre Beteiligung an dem Behandlungsgeschehen wird nicht einmal andeutungsweise dargetan. Auch unter Berücksichtigung der im Arzthaftungsprozess vor einer Abklärung der medizinischen Abläufe durch Sachverständige bestehenden verringerten Substantiierungspflichten auf der Patientenseite muss wenigstens die Möglichkeit einer haftungsrelevanten Behandlungsbeteiligung angegeben werden. Aus der bloßen Stellung in einem Krankenhaus als Chef- oder Oberarzt folgt eine solche Einbindung in die Versorgung unter Übernahme einer entsprechenden deliktsrechtlich abgesicherten Garantenstellung allein nicht.

Nach den auch in den Einzelergebnissen völlig übereinstimmenden Gutachten des Gerichts- und des Schlichtungssachverständigen, die eine ausführliche, insgesamt überzeugende Beurteilungsgrundlage geben, sind Behandlungsfehler bei der diagnostischen Abklärung der Beschwerden des Kl., wie sie sich den Bekl. darstellten, jedenfalls nicht festzustellen. Der gegenteiligen Annahme der Schlichtungsstelle fehlt es an feststellbaren Anknüpfungstatsachen. Sie ist mithin rein spekulativ. Die Regulierungsempfehlung und die dafür herangezogene Begründung ist - wie der Gerichtssachverständige bei seiner Anhörung unmissverständlich klargestellt hat - nicht haltbar. Sie beruht auf einer nach den Erkenntnissen in der medizinischen Wissenschaft und Praxis gerade nicht möglichen Schlussfolgerung aus der erst poststationär erkennbaren Krankheitssymptomatik und nicht auf dem bis dahin dokumentierten und nach dem Parteivorbringen feststellbaren Behandlungs- und Krankheitsverlauf.

Der Kl. ist am 24. und 25. 8. 1994 zur Abklärung von Unterleibsbeschwerden vollständigkeitshalber insbesondere auch im Genitalbereich im Hinblick auf die Möglichkeit einer Hodentorsion untersucht worden, obwohl es an jeglichen klassischen Symptomen für eine solche Erkrankung fehlte. Der Befund war ausweislich der Krankenunterlagen negativ. Nach dem Abschlussbericht konnte er am 26. 8. 1994 beschwerdefrei in die hausärztliche Behandlung entlassen werden. Dass von der letzten klinischen Untersuchung am Tag zuvor bis zu diesem Zeitpunkt auf eine Hodentorsion hindeutende Symptome aufgetreten sind, ist nicht unter Beweisantritt dargetan und daher auch nicht festzustellen. Das Unterbleiben einer erneuten klinischen (abschließenden) Untersuchung bedeutet in Ermangelung etwaiger Auffälligkeiten kein Behandlungsversäumnis. Zuvor hatte immerhin auch nach dem Klägervorbringen eine Visite stattgefunden. Damit ist jedenfalls auch dem laut Gerichtssachverständigen einer Entlassung üblicherweise vorgeschalteten Gespräch genügt worden. Dass der Kl. dabei auf anhaltende oder gar neue Beschwerden hingewiesen hat, ist erstinstanzlich nicht behauptet und unter Beweis gestellt worden; vielmehr hat selbst der Kl. in der Klagebegründung eingeräumt, dass die Bauchschmerzen schwächer geworden waren, während die Bekl. jedwede Äußerungen über Beschwerden verneint haben. Die Behauptung des Kl. in der Berufungsbegründung, er habe bei seiner Entlassung darauf hingewiesen, dass er noch unter Beschwerden leide, ist zum einen nicht hinreichend substantiiert, da nicht dargelegt wird, welche Beschwerden er wem gegenüber geäußert haben will. Zum anderen ist der dazu erfolgte Beweisantritt ungeeignet, da eine Anwesenheit seines dafür als Zeugen benannten Vaters bei Gesprächen des Kl. mit der Behandlungsseite nicht behauptet wird und eine Äußerung von Beschwerden allein gegenüber seinem Vater diese Seite nicht belasten kann.

Damit fehlt es an jedwedem Anhalt, der für die Erforderlichkeit einer weiter gehenden Untersuchung vor der Entlassung streiten könnte, zumal - wie ausgeführt - auch keine Symptome für eine vorangegangene intermittierende Hodentorsion erkennbar geworden waren. Aus dem gleichen Grunde gibt es keine Grundlage für die Vermutung der Schlichtungsstelle, die Hodentorsion hätte schon zum Zeitpunkt der Entlassung bestanden und zu diesem Zeitpunkt auch erkannt werden müssen. Beide Sachverständige haben in völliger Übereinstimmung einer dahingehenden Schlussfolgerung aus dem weiteren dramatisch sich entwickelnden Krankheitsverlauf für nicht zulässig gehalten. Das überzeugt angesichts der gesicherten medizinischen Erkenntnis, dass sich eine Hodentorsion auch innerhalb einer kurzen Frist von zwei Stunden entwickeln kann. Für einen in Arzthaftungsprozessen ohnehin nur sehr eingeschränkt anwendbaren Anscheinsbeweis (vgl. nur Steffen/Dressler, ArzthaftungsR, 7.Aufl., Rdnrn. 495ff.) fehlt es damit zugleich an der erforderlichen Typizität des Geschehensablaufs.

Angesichts nicht feststellbarer Behandlungsversäumnisse und der offenen Kausalitätsfrage muss von einem schicksalhaften Krankheitsverlauf ausgegangen werden, für den die Behandlungsseite keine (Mit-)Verantwortung zu tragen hat.

Rechtsgebiete

Arzt-, Patienten- und Medizinrecht