Beurteilung eines ärztlichen Verhaltens als „groben“ Fehler
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
03. 12. 1985
Aktenzeichen
VI ZR 106/84
Zum Sachverhalt:
Die Kl. zog sich am 12. 2. 1973 bei einem Unfall eine subkapitale Humerustrümmerfraktur am rechten Oberarm zu. Dieser Bruch wurde am 13. 2. 1973 in der vom bekl. Land betriebenen orthopädischen Klinik in M. operativ versorgt. Zur Stabilisierung der reponierten Trümmer wurden drei Kirschnerdrähte in das Schultergelenk eingebracht; deren Enden wurden nicht umgebogen. Einige Tage danach begann man auf ärztliche Anordnung bei der Kl. mit leichten Bewegungsübungen am rechten Arm nach der sogenannten Methode „Poelchen“, die im Laufe der Zeit intensiviert wurden. Die Kl. klagte bei den Übungen über heftige Schmerzen. Nachdem Röntgenkontrollen am 20. und 26. 3. 1973 ergeben hatten, daß die eingesetzten Drähte, die zum Teil überstanden, gewandert waren, wurden die Bewegungsübungen eingestellt. Die Drähte wurden am 30. 3. 1973 operativ entfernt. Eine Festigung der Fraktur wurde danach nicht erreicht, so daß letztlich am 16. 7. 1973 in einer dritten Operation mittels einer Spanplastik eine Versteifung des rechten Oberarms durchgeführt wurde. Die Kl. verlangt vom bekl. Land im gegenwärtigen Verfahrensstadium Ersatz ihrer materiellen Schäden infolge der Versteifung des Schultergelenks, und zwar Zahlung von 22085,71 DM, sowie Feststellung der Ersatzpflicht des bekl. Landes wegen materieller Zukunftsschäden. Sie behauptet dazu im wesentlichen, die Bewegungsbeeinträchtigung ihres rechten Oberarms sei auf grobe ärztliche Fehler bei der Behandlung des Trümmerbruches in der Klinik des bekl. Landes zurückzuführen. Das bekl. Land streitet Behandlungsfehler seiner Ärzte ab und trägt vor, die schlechte Heilung des Bruches sei schicksalhaft gewesen.
Das LG hat die Zahlungsklage dem Grunde nach zu 2/3 für gerechtfertigt erklärt und dem Feststellungsanspruch zu 2/3 stattgegeben. Das OLG hat die Klage insgesamt abgewiesen. Die Revision der Kl. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Aus den Gründen:
Das BerGer. stellt, sachverständig beraten, fest, die operative Versorgung des Bruches sei medizinisch mindestens vertretbar gewesen; Fehler der Ärzte bei der Operation selbst seien nicht zu erkennen. Ob die anschließende krankengymnastische Bewegungsbehandlung der Kl. - als „modifizierte Poelchen-Behandlung“ bezeichnet - trotz sperrender Spickdrähte und Wanderung mindestens eines Spickdrahtes als ärztlicher Behandlungsfehler anzusehen ist oder nicht, läßt es offen. Jedenfalls liegt darin seiner Ansicht nach - insoweit im Widerspruch zu der vom LG vorgenommenen Wertung - kein grober Behandlungsfehler. Dazu führt das BerGer. u. a. aus:
Auch der in erster Instanz gehörte Sachverständige Dr. S habe das Vorgehen der Ärzte nicht als groben Verstoß gegen die ärztlichen Kunstregeln bewertet; er habe einen solchen Ausdruck nicht gebraucht und habe nicht ausgesprochen, daß durch die Verwendung der Poelchen-Methode die Gefahr einer weiteren Schädigung der Kl. vergrößert worden sei. Da der in zweiter Instanz gehörte Sachverständige Dr. A Fehler in der Anordnung der Bewegungsübungen nicht gesehen, diese in seinem schriftlichen Gutachten vielmehr nur als „eine wenig empfehlenswerte Maßnahme“ bezeichnet habe, seien sich die Sachverständigen jedenfalls darin einig, daß von schweren Behandlungsfehlern der Ärzte des bekl. Landes nicht gesprochen werden könne. Die andere Wertung des LG habe deswegen in den Äußerungen der Sachverständigen keine ausreichende Grundlage. Es sei dann auch nicht erforderlich, den Sachverständigen Dr. S nochmals zu hören und ihn gegebenenfalls dem Sachverständigen Dr. A gegenüberzustellen. Die danach dafür beweispflichtige Kl. habe nicht den Nachweis erbringen können, daß ihr jetziger Zustand auf etwaige Fehler bei den Bewegungsübungen nach der ersten Operation zurückzuführen sei.
II. Das angefochtene Urteil hält den Verfahrensrügen der Revision nicht stand. Es bedarf vielmehr weiterer tatsächlicher Feststellungen dazu, ob die krankengymnastische Behandlung der Kl. im Anschluß an die erste Operation als schwerer Behandlungsfehler der Ärzte anzusehen ist. Das BerGer. hat zu Unrecht einen Widerspruch zwischen den Ausführungen der in erster und zweiter Instanz gehörten Sachverständigen ausgeschlossen. Dieser Widerspruch muß vor einer abschließenden Würdigung des Beweisergebnisses aufgeklärt werden.
Soweit das BerGer. Behandlungsfehler der Ärzte des bekl. Landes bei der Indikationsstellung zur operativen Versorgung des Bruches, bei der Operation selbst und bei den folgenden Operationen der Kl. verneint hat, hat die Revision nichts zu erinnern. Das angefochtene Urteil läßt insoweit auch keine Rechtsfehler erkennen. Mithin geht es im Revisionsverfahren nur noch darum, ob die Anordnung oder Weiterführung von Bewegungsübungen des rechten Armes „nach Poelchen“, d. h. Mobilisation des Armes nach Anlegung eines Streckverbandes zur Förderung der Innervation der Bruchstellen, angesichts des Operationsergebnisses bei der Kl. ohne vorherige Korrekturen an den eingebrachten Kirschnerdrähten aus medizinischer Sicht fehlerhaft war, und ob ein solcher Fehler so schwer wiegt, daß deshalb das bekl. Land mit dem Beweis für den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Fehlbehandlung und der Versteifung des rechten Schultergelenks der Kl. belastet ist.
1. Das LG hat zu dieser Frage schriftliche Sachverständigengutachten eingeholt und den Sachverständigen Dr. S dazu mündlich angehört. Es hat dessen Ausführungen, die es für überzeugend gehalten hat, wie folgt zusammengefaßt:
Nach den sehr dezidierten und anschaulich vorgetragenen Ausführungen des Sachverständigen Dr. S in der mündlichen Befragung durften bei dem Zustand, der sich aus den postoperativen Röntgenaufnahmen vom 12. 3. 1972 ergab (überstehende Drähte), keine Bewegungsübungen gemacht werden. Dies hat der Sachverständige mehrfach betont und seiner Verwunderung Ausdruck verliehen, daß angesichts der damit verbundenen Schmerzen solche Bewegungen überhaupt stattfinden konnten. Der Sachverständige hat durchaus anerkannt, daß Bewegungsübungen nach der Poelchen-Methode oder in ähnlicher Form geeignet waren, der Versteifungsgefahr entgegenzuwirken. Er hat andererseits auch eingeräumt, daß ein Zurückziehen oder sehr frühes Entfernen der Drähte die Stabilität des Bruches möglicherweise gefährdet hätte. Ganz eindeutig hat er aber zum Ausdruck gebracht, daß hier eine Entscheidung für das eine oder das andere hätte fallen müssen. Das eine zu tun (Bewegungsübungen), ohne das andere zu beseitigen (überstehende Drähte), war jedenfalls fehlerhaft. Abgesehen von den damit für den Patienten verbundenen fast unerträglichen Schmerzen bestand - was auch dem Laien ohne weiteres einleuchtet - die Gefahr, daß die Drähte die Kapsel und Sehnen verletzten, zumal durch die Bewegungen - was sich hier bewahrheitet hat - die Drähte „wandern“ können. Der Sachverständige hat auch ausgeführt, daß bei einer solchen Behandlung der Bruch wieder in Unordnung geraten und eine gewisse zusätzliche Bewegungsbehinderung verursacht werden kann. Solange die Drähte wie hier überstehen, muß das Gelenk - so der Sachverständige ganz klar - „absolut ruhig gestellt werden."
In Übereinstimmung mit dem Sachverständigen S hat das LG das Verschulden der behandelnden Ärzte darin gesehen, daß sie trotz des schon auf dem ersten postoperativen Röntgenbild ersichtlichen Zustandes, der das kontraindizierte, Bewegungsübungen anordneten. Darüber hinaus hätten die von der Kl. geäußerten heftigen Bewegungsschmerzen, wenn sie auch nicht zwingend für das Wandern eines Drahtes gesprochen hätten, eine frühere röntgenologische Prüfung notwendig gemacht. Diese hätte dann die Wanderung mindestens eines Drahtes sichtbar gemacht.
2. Den festgestellten Sachverhalt hat das LG entgegen der Ansicht des BerGer. mit Recht dahin gewürdigt, daß die verantwortlichen Ärzte des bekl. Landes der Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers trifft. Dazu war es nicht erforderlich, daß der Sachverständige selbst eine solche Qualifizierung aussprach. Es genügte der Umstand, daß seinen Ausführungen nach Ansicht des LG zu entnehmen war, die verantwortlichen Ärzte des bekl. Landes hätten mit der Anordnung und Weiterführung der Bewegungsübungen gegen elementare Erkenntnisse und Erfahrungen der Medizin verstoßen. Daß dies die Meinung der Sachverständigen war, durfte das LG der in der Anhörung geäußerten „deutlichen Verwunderung" über die Behandlung entnehmen. Das LG hat die von ihm als groben Verstoß gegen die ärztlichen Kunstregeln bewertete Fehlbehandlung auch als gefährlich für die möglichst komplikationslose Heilung des Trümmerbruches angesehen, und zwar ganz offenbar auch insoweit unter dem Eindruck der entsprechenden mündlichen Ausführungen des Sachverständigen S. Dem steht der Wortlaut des Protokolls über die mündliche Anhörung des Sachverständigen nicht entgegen, er stützt vielmehr die Überzeugung des LG. Der vom BerGer. für seine gegenteilige Ansicht zitierte Satz aus der Niederschrift, „die Versteifung könne eben durch die in dem ganzen Verlauf durchgeführte Ruhestellung und immer wieder erforderliche Ruhestellung herbeigeführt worden sein“, gibt für eine andere Beurteilung in Wahrheit nichts her. Er besagt nichts darüber, ob bei einer anderen, vom Sachverständigen S empfohlenen ärztlichen Vorgehensweise auch solche, die Versteifung des Gelenkes hervorrufenden Ruhestellungen erforderlich geworden wären.
Sollte das BerGer. gemeint haben, die Annahme eines groben Behandlungsfehlers setze voraus, daß er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die eingetretene Gesundheitsbeschädigung habe hervorrufen können, könnte ihm aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden. Für die Beurteilung eines ärztlichen Verhaltens als „groben“ Fehler kommt es nur darauf an, ob es eindeutig gegen gesicherte und bewährte medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen verstieß. Ist das der Fall, dann ist es Sache der ärztlichen Seite, den Beweis dafür zu erbringen, daß der Gesundheitsschaden des Patienten nicht auf den Behandlungsfehler zurückzuführen ist. Für die Haftung reicht es aus, daß der Fehler generell zur Verursachung des eingetretenen Schadens geeignet ist; wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolges nicht zu sein (BGHZ 85, 212 (216 f.) = NJW 1983, 333). Daß die postoperative Behandlung der Kl. im Streitfall geeignet war, letztlich eine sonst vermeidbare Versteifung des Armes herbeizuführen, war jedenfalls die Meinung des Sachverständigen S. Mit Recht macht deshalb die Revision geltend, daß das BerGer., wollte es das Beweisergebnis anders würdigen als das LG, insbesondere ein anderers Verständnis der medizinischen Ausführungen des Sachverständigen S zugrunde legen, diesen Sachverständigen hätte erneut hören müssen. Es kann insoweit rechtlich nichts anderes gelten als im Falle der abweichenden Beurteilung von Zeugenaussagen erster Instanz durch das BerGer. oder bei der abweichenden Beurteilung eines Augenscheins (vgl. dazu zuletzt Senat, VersR 1985, 839 m. w. Nach.).
3. Danach besteht entgegen der Ansicht des BerGer. ein klarer Widerspruch zwischen den Auffassungen des Sachverständigen S und denen des in zweiter Instanz gehörten Sachverständigen A in entscheidenden Punkten. Im erklärten Gegensatz zu Dr. S hält insbesondere Dr. A das Zurückziehen der überstehenden Drähte vor Durchführung oder Weiterführung der Bewegungsübungen gerade nicht für die richtige Maßnahme, und in ebenso deutlichem Gegensatz zu Dr. S meint er, es sei medizinisch durchaus vertretbar gewesen, die Mobilisationsbehandlung angesichts aller bekannten medizinischen Fakten weiterzuführen. Da das BerGer. - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - keine Ausführungen dazu gemacht hat, ist für die Revisionsinstanz davon auszugehen, daß bisher keine überzeugenden Sachgründe dafür sprechen, dem Gutachten des Sachverständigen Dr. A gegenüber demjenigen des Sachverständigen Dr. S den Vorzug zu geben. Das hat das BerGer., das fehlerhaft von einer übereinstimmenden Auffassung der Sachverständigen über die Schwere eines etwaigen Behandlungsfehlers ausgegangen ist, offenbar auch nicht erwogen, weil es mit dieser unrichtigen Begründung eine nochmalige Anhörung des Sachverständigen Dr. S und eine etwaige Gegenüberstellung der Sachverständigen verworfen hat. Mithin hätte, wie die Revision mit Recht rügt, das BerGer. bei zutreffender Würdigung des Sachverständigengutachtens Dr. S die Sache nicht entscheiden dürfen, ohne den Versuch zu machen, den in Wahrheit vorhandenen Widerspruch zwischen den Gutachten aufzuklären (vgl. dazu Senat, VersR 1981, 752).
Das angefochtene Urteil beruht auf den dargelegten Verfahrensfehlern. Es ist nicht auszuschließen, daß das BerGer. nach der gebotenen weiteren Sachaufklärung ebenso wie das LG einen Sachverhalt feststellt, der die rechtliche Bewertung zuläßt, daß die verantwortlichen Ärzte des bekl. Landes zu Lasten der Kl. einen schweren Behandlungsfehler begangen haben. Es wäre dann Sache des bekl. Landes, den Beweis dafür zu erbringen, daß die Versteifung des rechten Schultergelenks der Kl. nicht auf einem solchen Fehlverhalten der Ärzte beruht. Bisher ist das nicht bewiesen. Das BerGer. wird sich dann gegebenenfalls mit der Frage zu befassen haben, ob es dem LG in seiner Schätzung des Umfanges des auf eine etwaige Fehlbehandlung zurückzuführenden Schadens folgen will.
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