Nur massvolle Anforderungen an die Substantiierungspflicht in Arzthaftpflichtprozessen.

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

19. 05. 1981


Aktenzeichen

VI ZR 220/79


Tatbestand

Die Kl. stürzte am 13.7.1975 von einem Jagdhochsitz und prallte mit dem Becken auf den Boden. Im Kreiskrankenhaus R. fand der behandelnde Arzt auf einer Röntgenübersichtsaufnahme des Beckens keine abnormen Befunde. Er diagnostizierte daher lediglich eine schwere Beckenprellung. Die Kl. wurde nach Hause entlassen, wo sie noch ihren Hausarzt, den früheren Erstbekl., hinzuzog. Am 17.7.1975 suchte sie das Kreiskrankenhaus O. auf, wo sie von dem Zweitbekl. und dem Drittbekl. bis Oktober 1975 in Abständen behandelt wurde. Einen Bruch im Beckenbereich oder eine Fraktur oder Ruptur der Symphyse konnten die Bekl. mit den von ihnen angewandten Untersuchungsrnethoden, vor allem auf den Röntgenaufnahmen vom 17.7. und vom 4.8.1975, nicht feststellen. Die Kl. konsultierte weitere Fachärzte, die die Ursachen ihrer fortbestehenden Beschwerden, insbesondere im Beckenbereich, unterschiedlich beurteilten.

Die Kl. behauptete, sie habe bei ihrem Unfall eine Ruptur der Symphyse erlitten; das hätten die Bekl. infolge unzureichender röntgenologischer, jedenfalls klinischer, Untersuchungen nicht erkannt und sie unsachgemäß behandelt. Bei richtiger Diagnosestellung und sofortiger Verordnung mehrwöchiger fester Bettruhe wäre der Riß der Schambeinfuge alsbald beschwerdefrei geheilt. Mit der Klage verlangte sie von den Bekl. Ersatz ihres auf 17662,72 DM bezifferten materiellen Schadens, Zahlung eines Schmerzensgeldes und Feststellung der Haftung der Bekl. für Zukunftsschäden.

Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Kl. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

I. Das Berufungsgericht hält es schon nicht für erwiesen - dies vor allem aufgrund der Ausführungen des in erster Instanz bestellten Sachverständigen Dr. T., eines Chirurgen und Oberarztes in der Sportklinik S. -, daß die Kl. bei ihrem Sturz eine Ruptur der Symphyse erlitten hat. Darüber hinaus führt es aus, daß kein Verschulden der bekl. Ärzte vorliege, weil eine etwaige Ruptur der Symphyse mit den vorhandenen medizinischen Hilfsmitteln, insbesondere aufgrund der Röntgenaufnahmen, nicht erkennbar gewesen sei und weitere Untersuchungsmaßnahmen nicht indiziert gewesen seien.

Ein von der Kl. mit der Berufungsbegründung vorgelegtes Privatgutachten des Chirurgen Prof. Dr. B. von der Universität Z., das zu dem Ergebnis kommt, eine gründliche, nach der Symptomatik erforderliche klinische Untersuchung der Kl. hätte mindestens den Verdacht auf eine Symphysenruptur, die sicher vorgelegen habe, begründet und eine entsprechende Therapie indiziert, hat dem Berufungsgericht keine Veranlassung zur weiteren Aufklärung gegeben. Es meint, der Gutachter habe nicht im einzelnen dargelegt, wie er zu seinem klinischen Befund gekommen sei, und sich insbesondere nicht substantiiert mit der Beurteilung durch den gerichtlichen Sachverständigen Dr. T. auseinandergesetzt.

II. Das Verfahren des Berufungsgerichts hält den Rügen der Revision nicht stand. Diese beanstandet mit Recht, daß das Berufungsgericht aufgrund der von der Kl. vorgetragenen Ausführungen des Privatgutachters Prof. Dr. B. nicht die danach gebotene weitere Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere zu den medizinischen Streitfragen, versucht hat (§ 286 ZPO).

1. Gutachten gerichtlich bestellter Sachverständiger hat das Gericht sorgfältig und kritisch zu würdigen. Unvollständigkeiten, Unklarheiten und Zweifel sind von Amts wegen - soweit möglich - auszuräumen. Dazu bietet sich an, den Gutachter zu einer Ergänzung seines schriftlichen Gutachtens zu veranlassen und ihn, wenn das zweckmäßig erscheint, zur mündlichen Verhandlung zu laden und zu befragen. In schwierigen Fällen kann es dann geboten sein, ein weiteres Gutachten einzuholen (vgl. dazu und zur Verfahrensweise bei widerstreitenden gerichtlichen Gutachten Senatsurteil vom 4.3.1980 - VI ZR 6/79 VersR 80, 533 m. w. Nachw.). Vor allem bieten Einwendungen einer Partei gegen das vom Gericht eingeholte Sachverständigengutachten Anlaß, die Schlußfolgerungen des Sachverständigen zu überprüfen. Solche Einwendungen sind nicht nur dann ernstzunehmen, wenn sie auf eigenen Überlegungen der Partei beruhen, sondern erst recht, wenn die Partei sich, wie es häufig der Fall sein wird, durch Befragung von Experten sachkundig gemacht hat oder gar - wie im Streitfall - ein von ihr besorgtes Privatgutachten vorlegt, auf das sie sich bezieht. Das Gericht hat sich damit ebenso sorgfältig auseinanderzusetzen, als wenn es sich um die abweichende Stellungnahme eines von ihm bestellten weiteren Gutachters handeln würde. Vor allem in Arzthaftungsprozessen bleibt der Partei nämlich häufig nichts anderes übrig, als ein für sie ungünstiges Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen mit Hilfe eines Privatgutachters überprüfen zu lassen und dann dessen Ansicht vorzutragen. Es ist weiter zu beachten, daß an die Substantiierungspflicht einer Partei in derartigen Prozessen nur maßvolle und verständige Anforderungen gestellt werden dürfen, weil von ihr, auch wenn sie abweichende Meinungen wiedergibt, keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann. Je nach den Umständen des Einzelfalls hat das Gericht daher, wenn die vorgetragenen Einwendungen gegen das von ihm eingeholte Gutachten von vornherein nicht unbeachtlich erscheinen, die Pflicht, den Sachverhalt weiter aufzuklären; andernfalls verletzt es die Vorschriften der §§ 412, 286 ZPO.

2. Das Verfahren des Berufungsgerichts im Streitfall verletzt diese Grundsätze.

a) Zutreffend legt das Berufungsgericht zwar dar, daß auch nach Ansicht von Prof. Dr. B. die vom Becken der Kl. gemachten Röntgenübersichtsaufnahmen keinen Anhalt für die Verdachtsdiagnose auf eine Symphysenruptur gegeben haben. Indessen geht es nicht darum, ob die im Krankenhaus R. am Tag des Unfalls und die später von den Bekl. angefertigten Röntgenbilder für sich allein Anlaß zu weiteren Untersuchungs- undTherpiemaßnahmen gaben; auf ihnen waren, wie die damit befaßten Ärzte übereinstimmend meinen, keine abnormen Befunde zu erkennen. Die Kl. wirft den Bekl. vielmehr vor, sie hätten schuldhaft klinische Untersuchungen und vor allem eine genauere röntgenologische Abklärung durch zusätzliche Aufnahmen im sog. Einbeinstand unterlassen, die dann mindestens zur Stellung einer Verdachtsdiagnose auf eine Ruptur der Symphyse hätten führen müssen.

b) Anders als der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. T., der über die von den Bekl. vorgenommenen hinausgehende diagnostische Maßnahmen angesichts der Symptomatik nicht für erforderlich gehalten hat, hat Prof. Dr. B., der Privatgutachter der KI., angesichts desweiteren Krankheitsverlaufs mit den auffallenderweise noch immer anhaltenden starken Schmerzen eine gründliche klinische Untersuchung der Kl. und spätestens nach zwei bis drei Wochen eine gründlichere röntgenologische Abklärung, nach Lage der Sache also zusätzliche Einbeinstand-Aufnahmen, für geboten erachtet. Diesen Widerspruch durfte das Berufungsgericht nicht ohne zusätzliche sachverständige Beratung entscheiden, weil ihm die dazu erforderliche eigene Sachkunde offensichtlich fehlte, von ihm auch nicht in Anspruch genommen worden ist. Die Begründung, mit der es die Ausführungen von Prof. Dr. B. unter Hinweis auf die schriftlichen und mündlichen Äußerungen von Dr. T. als unerheblich angesehen hat, ist nicht stichhaltig (§ 286 ZPO).

aa) Das Berufungsgericht vermißt einmal nähere Angaben von Prof. Dr. B. über die Art der nach seiner Ansicht gebotenen klinischen Untersuchungen, insoweit auch eine nähere Auseinandersetzung mit dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen. Dazu rügt die Revision mit Recht, daß das Berufungsgericht an die Substantiierungspflicht der KI., die in Arzthaftungsprozessen - wie dargelegt - in der Sache liegenden Einschränkungen unterliegt zu hohe Anforderungen gestellt hat. Wenn die medizinischen Erläuterungen der KI., die sie unter Bezugnahme auf das Privatgutachten dem Berufungsgericht vorgetragen hatte, diesem zu verkürzt erschienen, hätte es nachfragen müssen. Ein Zurückgreifen auf das von Dr. T. erstattete gerichtliche Gutachten konnte zu diesem Punkt schon deswegen nicht weiter führen, weil dieser dazu ebenfalls keine ausführliche Stellungnahme abgegeben hatte. Erst eine weitere Aufklärung hätte Aufschluß darüber geben können, ob ein gewissenhafter Facharzt aus dem Hergang des Unfalls sowie der Art, Dauer und Lokalisation der Schmerzempfindungen trotz der zunächst unauffälligen Röntgenübersichtsaufnahmen des Beckens die Differentialdiagnose einer Ruptur der Symphyse hätte in Betracht ziehen und entsprechende ärztliche Maßnahmen hätte ergreifen müssen.

bb) Vor allem aber konnte das Berufungsgericht aus eigener Sachkunde nicht entscheiden, ob das Unterlassen sog. Einbeinstand-Aufnahmen durch die Bekl., die offenbar auch nach seiner Ansicht frühzeitig weiteren Aufschluß über die Verletzung der Kl. hätten geben können, medizinisch zu verantworten war oder nicht. Dr. T. ist dazu nicht befragt worden; Prof. Dr. B. hat angesichts der gesamten Symptomtik eine frühzeitige gründliche röntgenologische Abklärung gerade als erforderlich angesehen. Dieser Widerspruch wäre nur durch ergänzende Befragung des gerichtlichen Sachverständigen und je nach dem Ergebnis solcher Befragung nach etwaigen weiteren Aufklärungsmaßnahmen zu lösen gewesen. Keinesfalls kann die Unterlassung möglicher, sich vielleicht geradezu anbietender, den Patienten sicherlich nicht schwer belastender Diagnosemaßnahmen damit gerechtfertigt werden, daß bei der Patientin kein lebensgefährlicher Zustand vorgelegen habe, wie das Berufungsgericht meint.

c) Weitere Feststellungen darüber, ob die Bekl. schuldhaft Diagnosemaßnahmen unterlassen haben, würden sich freilich erübrigen, wenn es sich insoweit, was naheliegt, nicht um einen schweren Behandlungsfehler handeln würde und die Kl. nicht beweisen könnte, daß sie überhaupt eine Symphysenruptur erlitten hat, die hätte aufgedeckt und behandelt werden können. Das Berufungsgericht nimmt das aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen Dr. T. an. Auch insoweit aber vertritt Prof. Dr. B. eine andere Ansicht, und zwar unter Zugrundelegung der ihm wie auch Dr. T. zugänglichen Befunde der Kl. und eigener Untersuchungen. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts, das das Gutachten insoweit offenbar mißverstanden hat, hat Prof. Dr. B. schon aus den Röntgenaufnahmen, die später im Einbeinstand vorgenommen worden waren (im übrigen übereinstimmend mit anderen Ärzten, die die Kl. früher untersucht haben) eine deutliche Verschiebung der Symphsenanteile sowie sklerosierte und aufgerauhte knöcherne Randteile der Symphyse gesehen und daraus diagnostiziert, daß die Symphyse am 13.7.1975 gerissen war und zu einer Symphysiolyse mit nachfolgender Osteoarthrose geführt hat. Er hat der Theorie von Dr. T., die abnorme Beweglichkeit der Symphyse sei konstitutionell bedingt, "bei Berücksichtigung der ganzen Sachlage" widersprochen. Was Prof. Dr. B. damit gemeint hat, ist aus dem Zusammenhang seines Gutachtens klar: Er beruft sich für seine Ansicht auf den röntgenologischen Befund der KI., ihre (bis auf vorhandene Plattfüße) keine Bindegewebsschwäche indizierende Konstitution, auf den Unfallhergang und auf die äußere Symptomatik. Das alles hat entgegen der Meinung des Berufungsgerichts Substanz genug, um Zweifel an den bisherigen Ausführungen des gerichtlichen Gutachters Dr. T. zu begründen. Da ohnehin angesichts dessen, daß die Kl. bis zu ihrem Unfall unwiderlegt keine Beschwerden hafte, die auf eine Bindegewebsschwäche, insbesondere im Bereich der Symphyse, hindeuteten, wenig dafür spricht, daß ihre anhaltenden Schmerzen nach dem Unfall auf anlagebedingten Leiden beruhen, hätte das Berufungsgericht nicht ohne weitere Aufklärung über die Ausführungen im Privatgutachten Prof. Dr. B. hinweggehen dürfen, sondern auch zu diesem Punkt versuchen müssen, den medizinischen Sachverhalt weiter aufzuklären (§ 412 ZPO).

3. Das angefochtene Urteil beruht auf den dargelegten Verfahrensfehlern. Es ist nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht nach der gebotenen weiteren Aufklärung, die - wie dargelegt - durch ergänzende Befragung des gerichtlichen Gutachters geschehen muß - zweckmäßigerweise im Streitfall aber durch Einholung eines weiteren Gutachtens erfolgen sollte, zumal es sich offensichtlich um schwierige medizinische Fragen handelt -, wird feststellen können, daß die Kl. bei dem Unfall eine Ruptur der Symphyse erlitten hat und daß diese Verletzung bei Anwendung der gebotenen ärztlichen Untersuchungsmethoden rechtzeitig hätte diagnostiziert und geheilt werden können.

Rechtsgebiete

Arzt-, Patienten- und Medizinrecht