Kein Einsichtsrecht in Krankenunterlagen nach psychiatrischer Behandlung
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
23. 11. 1982
Aktenzeichen
VI ZR 177/81
Auch nach Abschluß einer (hier klinischen und anschließend ambulanten) psychiatrischen Behandlung besteht selbst gegenüber dem inzwischen beschwerdefreien Patienten in der Regel keine grundsätzliche Verpflichtung zur Gewährung der Einsicht in die Krankenunterlagen.
Der im Jahre 1950 geborene Kl. heute als Diplom-Pädagoge qualifiziert, litt seit April 1977 an psychischen Störungen. Er wurde deshalb zunächst einige Monate in das Psychiatrische Landeskrankenhaus W. eingewiesen. Von Juni bis August 1977 fand eine ebensolche Behandlung in der Psychiatrischen Klinik der bekl. Universität statt, in die sich der Kl. selbst begeben hatte. Die Diagnose bewegte sich dort zwischen den Begriffen „endogene Psychose", „Schizophrenie“ und „paranoidhalluzinatorisches Syndrom". Der Kl. begehrt Einsicht in die bei dieser Gelegenheit über ihn in der Klinik der Bekl. angelegten Krankenunterlagen, in die auch Angaben ärztlich befragter Angehöriger des Kl. eingeflossen sind. Die dabei möglicherweise beteiligten Angehörigen haben auf Betreiben des Kl. alle ihr Einverständnis mit dessen Einsichtnahme in die Krankenunterlagen erklärt. Ferner hat der Kl. alle Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbunden. Der Kl. hat vorgetragen, er benötige die Krankenunterlagen für eine Dissertation unter dem Titel „Gesellschaftliche Determinanten individueller Konfliktverhaltensprädisposition“, die er unter Betreuung des Professors Dr. L beim „Institut für Sozialwissenschaften in Erziehung und Ausbildung“ an der Technischen Universität B. schreiben wolle. Außerdem wolle er anhand der Krankenunterlagen seine Erkrankung „aufarbeiten“ und dabei versuchen, sein individuelles Leiden allgemeiner zu erklären. Die Vorbereitung eines Haftpflichtprozesses ist nach seiner Darstellung nicht der Grund seines Einsichtsbegehrens. Die Bekl. bestreitet eine Verpflichtung zur Einsichtgewährung. Sie macht ferner geltend, eine Einsicht der Unterlagen durch den Kl. sei therapeutisch unvertretbar und müßte außerdem persönliche Belange der befragten Angehörigen wie auch der beteiligten Ärzte, die gerade im Bereich der Psychiatrie auch selbst als Person engagiert seien, unzumutbar tangieren.
Beide Vorinstanzen haben der Klage, die der Kl. in der Berufungsinstanz noch auf Einsicht in die Unterlagen der ambulanten Nachbehandlung erweitert hat, voll stattgegeben. Die Revision der bekl. Universität hatte Erfolg.
I. Das BerGer. begründet seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt:
Die Beziehungen zwischen den Parteien als Patient und Krankenhausträger seien - im Prozeß nicht umstritten - privatrechtlicher Art. Demnach stehe dem Kl. ein Recht auf Einsicht in die Unterlagen der stationären wie der nachfolgenden ambulanten Behandlung zu. Das ergebe sich als Nebenanspruch aus dem Behandlungsvertrag, insbesondere seit der BGH entgegen früherer Rechtsprechung eine Pflicht des Arztes zur Dokumentation bejahe. Allgemein stellt das BerGer. auf die in der neueren Betrachtungsweise anerkannte Rationalisierung und „Entmythologisierung“ des Arzt/Patientenverhältnisses im Sinne einer Anerkennung des vollen Selbstbestimmungsrechts bei der Behandlung ab. Aus der Pflicht des Arztes dem Patienten gegenüber zur Führung von Krankenunterlagen folge auch das grundsätzliche Einsichtsrecht des Patienten, ohne daß es im Einzelfall eines besonderen rechtlichen Interesses bedürfte. Die Anwendbarkeit der Vorschrift des § 810 BGB, die zweifelhaft sein möge, könne daher dahinstehen. Allerdings lägen im Bereich der Psychiatrie besondere Verhältnisse vor, ohne daß aber hier das grundsätzliche Selbstbestimmungsrecht jedenfalls des geschäftsfähigen Patienten eingeschränkt sei. Daher müsse die Beklagte konkrete Bedenken gegen die Gewährung der Einsicht im Einzelfall wenigstens einigermaßen substantiieren, was hier nicht geschehen sei.
Des näheren wird auf die Ausführungen des angefochtenen Urteils (abgedruckt in NJW 1981, 2521) Bezug genommen.
II. Die angefochtene Entscheidung hat keinen Bestand.
1. Ein allgemeines Einsichtsrecht des Patienten in die Krankenunterlagen wird zwar in jüngerer Zeit mehrfach mit verschiedener Begründung im Schrifttum und in Entscheidungen von Instanzgerichten bejaht. Es kann insoweit auf die Übersicht in dem unter gleichem Datum verkündeten Senatsurteil VI ZR 222/79 (NJW 1983, 328 (in diesem Heft), für BGHZ vorgesehen) Bezug genommen werden. Bei jener Entscheidung (künftig „Parallelurteil“) hat der Senat, der diese Frage in BGHZ 72, 132 = NJW 1978, 2337, ausdrücklich offengelassen hatte, ein grundsätzliches Einsichtsrecht des Patienten in Krankenunterlagen erstmals bejaht, wie dies der neuerlich vordringenden Meinung entspricht. Er hat aber auch dort diesen Anspruch eingeschränkt und deshalb der dortigen Klage im Gegensatz zu den Vorinstanzen nicht voll stattgegeben. Er hat vielmehr dieses Einsichtsrecht - indessen ebenfalls vorbehaltlich besonderer therapeutischer Gegengründe - auf physikalisch objektivierte Befunde und Berichte über Behandlungsmaßnahmen wie Operationen und Medikation beschränkt. Insoweit hat er das - auch hinsichtlich seiner praktischen Durchführung näher definierte - Einsichtsrecht aus der grundrechtlich gewährleisteten personalen Würde und Selbstbestimmung des Patienten hergeleitet. Er hat aber schon dort bemerkt, daß dieses Einsichtsrecht außerhalb der somatischen Behandlung, also insbesondere da, wo wie in Psychiatrie und Psychotherapie die für notwendig erachtete Einflußnahme auf die geistig-seelische Person des Patienten den Schwerpunkt des Vertragsgegenstandes und damit der Behandlung bildet, vielfach anderes gelten kann. Dies nicht nur deshalb, weil hier therapeutische Bedenken auch nach Abklingen des Krankheitszustandes besonderes Gewicht haben können, sondern vor allem auch, weil die persönliche Einbeziehung des behandelnden Arztes wie auch - das trifft hier zu - dritter Personen eine besondere Rolle spielen kann und subjektive Beurteilungselemente in den Vordergrund treten. Dann aber kann die Entscheidung nicht einseitig am Persönlichkeitsrecht des Kl. ausgerichtet werden, dem, soweit er, wie der Kl. derzeit zu rationalen Entscheidungen fähig ist, allerdings auch in gewissem Umfang das Recht zur Selbstschädigung zugestanden werden muß.
Das würde freilich, jedenfalls weil der Kl. inzwischen wohl unstreitig die aufgetretenen psychischen Störungen hinter sich gebracht hat, nicht hindern, sein Recht auf Kenntnisnahme in demjenigen Umfange, in dem es im Parallelurteil anerkannt wird, zuzugestehen, nämlich in Bezug auf Behandlungsmaßnahmen, hier insbesondere Medikation und körperliche Befunde. Daß es ihm um Information dieser Art gehe, hat der Kl. nicht behauptet, und es ist auch nicht ersichtlich, daß ihm die Ärzte der Bekl., die bereits Auskunftsgespräche geführt haben und zu weiteren ausdrücklich bereit sind, derlei verweigert hätten oder verweigern wollen. Ein solches Anliegen würde auch - anders als in Fällen der Art, wie sie dem Parallelurteil zugrunde liegen - nicht einen Anspruch auf Einsicht in die Krankenunterlagen insgesamt mit gewissen Einschränkungen, sondern allenfalls einen solchen auf Auskunft und eventuelle Erteilung geeigneter Auszüge begründen können. Denn die klinischen Unterlagen über eine typische psychiatrische Behandlung enthalten, wie dem Senat jedenfalls aus langjähriger Erfahrung bekannt ist, ganz vorwiegend Aufzeichnungen, gegen deren Offenlegung nach den Ausführungen des Senats im Parallelurteil durchgreifende Bedenken bestehen können, so daß die Entscheidung darüber dem behandelnden Arzt vorbehalten bleiben muß.
2. a) Bei alledem wird nicht verkannt, daß der Kl. bei seinem Wunsch nach Einsicht in die Krankenunterlagen ein besonderes und anerkennenswertes Interesse verfolgt. Denn er will an einer öffentlichen Hochschule unter Betreuung eines anerkannten Hochschullehrers mit Hilfe dieser Information eine Dissertation verfassen. Daß diese Arbeit nach dem Privatgutachten des Hochschullehrers möglicherweise dazu führen soll, die in der Klinik der Bekl. angeblich betriebene „Drehtürpsychiatrie“ bloßzustellen, spricht nicht gegen die wissenschaftliche Seriosität des Vorhabens, die sich im übrigen der Beurteilung durch die Gerichte im vorliegenden Rechtsstreit entziehen muß. Aber auch ein anerkennenswertes wissenschaftliches Anliegen berechtigt den Kl. nicht zum Zugriff auf Material, das nicht allgemein zugänglich ist und das gerade ihm vorzuenthalten den Verfügungsberechtigten nicht nur seine eigenen, sondern auch schutzwürdige Interessen Dritter veranlassen dürfen.
b) Das indessen trifft hier in besonderem Maße zu. Gerade im Bereich der Psychiatrie ist die Berechtigung ärztlicher Vorbehalte gegen eine Einsicht des Patienten in die ärztlichen Unterlagen, die hier zwangsläufig nicht nur naturwissenschaftlich Nachprüfbares enthalten können, besonders deutlich (statt vieler Deutsch, NJW 1980, 1307; besonders ausführlich zum Einsichtsrecht in psychiatrischen Fällen Lilie, Ärztliche Dokumentation und InformationsR des Patienten, 1980, S. 177 ff.). Diese Berechtigung beruht vor allem auf dem hier nicht nur beiläufig möglichen, sondern notwendigen persönlichen Engagement von Arzt und Patient, das in der Psychoanalyse in dem anerkannten Phänomen von Übertragung und Gegenübertragung seine deutliche Ausprägung findet. Aber das gilt in unterschiedlich vermindertem Maße auch für jede andere Form der Behandlung durch psychische Einwirkung. Daß in dieser Lage (auch insoweit ist auf das Parallelurteil zu verweisen) der Arzt - hier durch seine Klinik vertreten - schon von seiner eigenen Persönlichkeit her nicht mißbräuchlich handelt, wenn er darauf besteht, daß der Behandlungsvertrag insoweit die Nichtzugänglichkeit der im Zuge der Behandlung gemachten Aufzeichnungen für den Patienten voraussetzt, braucht hier nicht noch weiter vertieft zu werden.
c) Daneben ist bei der psychischen Behandlung auch das Bedenken des Arztes, daß eine Einsicht des Patienten in die Unterlagen therapeutisch ungünstige Auswirkungen haben könnte, jedenfalls nicht fernliegend. Daß es - nicht herrschende - Richtungen der Psychiatrie gibt, die eine gegenteilige Auffassung vertreten, hat der Kl. unter Beweis gestellt, und dies kann auch als richtig unterstellt werden. Das ändert nichts daran, daß einem Arzt, der entsprechend der herkömmlichen und noch heute Oberwiegenden Handhabung davon ausgegangen ist, der Patient werde einen Zugang zu den Krankenunterlagen nicht erzwingen können, eine seiner therapeutischen Überzeugung widersprechenden Offenlegung dieser Unterlagen nicht nachträglich zugemutet werden darf. Daß er sie im Einzelfall aus ärztlichen Erwägungen trotzdem gestatten mag, steht auf einem anderen Blatt; derlei muß aber seiner eigenverantwortlichen Entscheidung überlassen bleiben. Entscheidet er sich gegen die Offenlegung, wie dies insoweit dem Grundkonzept des Arztvertrages entspricht, dann ist das auch nach den im Parallelurteil ausgesprochenen Grundsätzen zu respektieren.
d) Im vorliegenden Falle sind ferner seitens der Ärzte der Bekl. unstreitig auch Angehörige des Kl. als Auskunftspersonen in Anspruch genommen worden. Derlei ist im Bereich der Psychiatrie weithin üblich und gilt gerade nach modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie dem Senat aus seiner Tätigkeit bekannt ist, als oft unerläßliche Voraussetzung für eine zutreffende Beurteilung und Behandlung. Inwieweit das Ergebnis solcher Befragungen, das auch die pflichtgemäße Beurteilung zwischenmenschlicher Beziehungen durch den Arzt umfaßt, dem Patienten offengelegt wird, muß dem ärztlichen Ermessen überlassen bleiben. Daran kann auch nichts ändern, daß die befragten Angehörigen auf Betreiben des Kl. mit der Herausgabe einverstanden sind. Selbst wenn die Betreffenden ohne Kenntnis der Aufzeichnungen, um die es ja gerade geht, die Tragweite dieses Einverständnisses beurteilen könnten, was nicht ersichtlich ist, könnte es der Bekl. bzw. ihren Ärzten nicht zugemutet werden, die die Auskunftspersonen betreffenden Eindrücke und Wertungen, welche in Erfüllung der ärztlichen Aufgabe gewonnen wurden, jenen gegenüber gegebenenfalls rechtfertigen zu müssen. Es kann der Bekl. auch entgegen der Meinung des BerGer. nicht zugemutet werden, im einzelnen zu substantiieren, daß die vorgenannten Erwägungen auch im Streitfall zutreffen; ihre bzw. ihrer Ärzte Befugnis, dem Kl. nach pflichtgemäßem Ermessen die Kenntnis bestimmter Aufzeichnungen vorzuenthalten, würde dadurch im Ergebnis unterlaufen.
e) Es mag nur ergänzend erwähnt werden, daß auch von dem inzwischen gesundeten Kl. selbst in Fehlverarbeitung des früheren, inzwischen verdrängten Geschehens (vgl. Bergen, Arzt und Krankenhaus 1982, 182) für die Ärzte und Angehörigen Angriffe auch rechtlicher Art erfahrungsgemäß befürchtet werden müßten, die ihnen nicht zugemutet werden dürfen.
3. Nach allem können die im Parallelprozeß des näheren ausgeführten Grundsätze gerade im vorliegenden Falle nicht zu einer Bejahung des Einsichtsanspruchs führen, den der Kl. aufgrund eines ebenfalls durchaus achtbaren Interesses verfolgt. Die Grundsätze des Parallelurteils, die für den Regelfall ein Einsichtsrecht des Patienten in Unterlagen über typisch bewertungsneutrale Aufzeichnungen bejahen, greifen hier nicht durch.
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