Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - Unentgeltliche Nacharbeit - Kürzung des Arbeitszeitkontos
Gericht
BAG
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
26. 09. 2001
Aktenzeichen
5 AZR 539/00
Eine Tarifregelung, die dem Arbeitgeber das Recht einräumt, für jeden Tag der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall den Arbeitnehmer 1,5 Stunden nacharbeiten zu lassen bzw., sofern ein Arbeitszeitkonto vorhanden ist, von diesem Zeitkonto 1,5 Stunden in Abzug zu bringen, weicht zu Ungunsten der Arbeitnehmer von § 4 Abs. 1 EntgeltFG ab und ist deshalb nach § 12 EntgeltFG, § 134 BGB unwirksam.
Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG:
§ 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV für die kunststoffverarbeitende Industrie in der ab 1. 12. 1997 geltenden Fassung ist mit der Anhebung der Entgeltfortzahlung auf 100% durch das sog. Korrekturgesetz vom 19. 12. 1999 (BGBl. I S. 3843) zum 1. 1. 1999 unwirksam geworden.
Das Recht, unentgeltliche Nacharbeit verlangen bzw. das Arbeitszeitkonto kürzen zu können, ist nicht mit der Kürzung von Sondervergütungen vergleichbar. Die entsprechende Tarifnorm ist deshalb nicht nach § 4a EntgeltFG zulässig.
Die mit § 12 EntgeltFG verbundene Einschränkung tariflicher Gestaltungsmöglichkeiten ist verfassungsgemäß.
Verhältnis zu bisheriger Rechtsprechung:
Keine Angaben.
Die Parteien streiten über die Höhe des Guthabens auf dem Arbeitszeitkonto des Kl.
Der Kl. ist bei der Bekl., die ein Unternehmen der kunststoffverarbeitenden Industrie betreibt, als Maschinenführer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit der Manteltarifvertrag der kunststoffverarbeitenden Industrie in Hessen vom 26. 10. 1994/4. 11. 1996 (MTV) in der ab 1. 12. 1997 geltenden Fassung Anwendung.
Im Betrieb der Bekl. wird für den Kl. ein Arbeitszeitkonto geführt, auf dem alle lohnpflichtigen Arbeitsstunden verzeichnet werden. Die Höhe des Vergütungsanspruchs richtet sich nach der Anzahl der auf dem Arbeitszeitkonto verbuchten Arbeitsstunden.
Vom 11. bis 14. 1. 1999 war der Kl. arbeitsunfähig krank. Die Bekl. zog für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit 1,5 Stunden, d.h. insgesamt sechs Stunden von dem Guthaben des Arbeitszeitkontos des Kl. ab.
Mit seiner Klage begehrt der Kl. die Gutschrift der in Abzug gebrachten sechs Arbeitsstunden, weil die Bekl. zu der erfolgten Kürzung nicht berechtigt gewesen sei.
Der Kl. hat beantragt, die Bekl. zu verurteilen, seinem Arbeitszeitkonto sechs Stunden gutzuschreiben.
Die Bekl. hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, sie sei nach § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV in der ab 1. 1. 1997 geltenden Fassung berechtigt gewesen, von dem Arbeitszeitkonto des Kl. je Krankheitstag 1,5 Stunden in Abzug zu bringen. Die Tarifvorschrift sei nach wie vor wirksam. Die Änderung des Entgeltfortzahlungsgesetzes durch das sog. Korrekturgesetz vom 19. 12. 1998 habe die tarifliche Regelung nicht beeinflusst.
Das ArbG hat der Klage stattgegeben. Das LAG hat die Berufung der Bekl. zurückgewiesen. Die Revision der Bekl. ist nicht begründet.
Die Bekl. ist verpflichtet, dem Kl. sechs Arbeitsstunden auf dem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben.
I.
Die Bekl. war nicht berechtigt, dem Kl. je Tag der Arbeitsunfähigkeit 1,5 Arbeitsstunden vom Arbeitszeitkonto abzuziehen. Die Regelung im MTV, auf die sich die Bekl. beruft, ist nach § 12 EntgeltFG i.V. mit § 134 BGB nichtig.
1.
Der Manteltarifvertrag für die kunststoffverarbeitende Industrie in Hessen in der ab 1. 12. 1997 geltenden Fassung bestimmt - soweit für den Rechtsstreit von Bedeutung - folgendes:
„§ 10 III Nr. 1
Bei Erkrankung, die mit Arbeitsunfähigkeit verbunden ist, gelten die gesetzlichen Bestimmungen.
Die Höhe der Vergütungsfortzahlung im Krankheitsfall bemisst sich unabhängig von der jeweiligen gesetzlichen Regelung nach der Arbeitsvergütung, die dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden tariflichen regelmäßigen oder davon abweichend vereinbarten Arbeitszeit zusteht, ohne Mehrarbeit und ohne Mehrarbeitszuschläge, auch soweit diese pauschaliert sind. Bei Kurzarbeit ist die verkürzte Arbeitszeit maßgebend. Der Vergütungsberechnung können die durchschnittlichen Verhältnisse eines Zeitraums zugrunde gelegt werden, der durch Betriebsvereinbarung festzulegen ist.
Der Arbeitgeber kann für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit, für die er Vergütungsfortzahlung leisten muss, den Arbeitnehmer 1,5 Stunden nacharbeiten lassen bzw., sofern ein Arbeitszeitkonto vorhanden ist, diese 1,5 Stunden von seinem Zeitkonto in Abzug bringen. Ist Nacharbeit bzw. eine Verrechnung mit dem Zeitkonto nicht möglich, so ist der Arbeitgeber berechtigt, diese 1,5 Stunden pro Arbeitstag von der Vergütung in Abzug zu bringen.
Diese Anrechnungsmöglichkeit ist auf 15 Kalendertage pro Kalenderjahr bzw. 10 Kalendertage pro Krankheitsfall beschränkt. ...“
2.
§ 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV weicht zuungunsten der Arbeitnehmer von § 4 Abs. 1 EntgeltFG ab.
a)
Das dem Arbeitgeber in § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV eingeräumte Recht, den Arbeitnehmer für jeden Tag entgeltfortzahlungspflichtiger Arbeitsunfähigkeit 1,5 Stunden nacharbeiten zu lassen bzw., sofern ein Arbeitszeitkonto vorhanden ist, 1,5 Stunden von diesem Arbeitszeitkonto in Abzug zu bringen, oder, soweit Nacharbeit bzw. eine Verrechnung mit dem Zeitkonto nicht möglich ist, 1,5 Stunden pro Krankheitstag vom Lohn bzw. Gehalt in Abzug zu bringen, verstößt nach dem Tarifwortlaut allerdings nicht unmittelbar gegen § 4 Abs. 1 EntgeltFG. Denn nach § 10 III Nr. 1 Abs. 2 MTV bemisst sich die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall unabhängig von der jeweiligen gesetzlichen Regelung nach dem Arbeitsentgelt, das dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden tariflichen regelmäßigen oder der davon abweichenden vereinbarten Arbeitszeit ohne Mehrarbeit und ohne Mehrarbeitszuschläge zusteht.
§ 10 III Nr. 1 Abs. 2 MTV entspricht damit zwar im wesentlichen § 4 Abs. 1 EntgeltFG. Doch kann die Regelung über die Höhe der Entgeltfortzahlung in § 10 III Nr. 1 Abs. 2 MTV nicht isoliert betrachtet werden. Die Bestimmung steht in engem systematischen Zusammenhang mit den dem Arbeitgeber in § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV eingeräumten Rechten. Diese Rechte des Arbeitgebers bestehen nur bei Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers. Sie führen im Ergebnis zu einer Verringerung des laufenden Arbeitsentgelts. § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV bewirkt, dass der Arbeitgeber in den dort genannten Alternativen unter Berücksichtigung der Obergrenze des Abs. 4 vom Arbeitnehmer tatsächlich geleistete Arbeit nicht zu vergüten braucht: Entweder arbeitet der Arbeitnehmer einzelne Stunden unentgeltlich oder er erhält durch den Abzug vom Zeitkonto bzw. von der Vergütung für bereits geleistete Arbeit kein Arbeitsentgelt. Rechnerisch mindert sich die Vergütung je Tag der Arbeitsunfähigkeit bei einer regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit von 7,6 Stunden je Arbeitstag auf 80,26% der Vergütung, die dem Arbeitnehmer ohne Anwendung dieser Bestimmung zugestanden hätte. Der tarifliche Zusammenhang der Regelungen in § 10 III Nr. 1 Abs. 2 und 3 MTV erhellt damit, dass sich bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit die Höhe des Arbeitsverdienstes reduziert (ebenso Harth Die Neuregelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall 2000 S. 91).
b)
Diese wirtschaftliche Folge ist auch objektives Ziel des Tarifvertrags. Das bestätigt die Entstehungsgeschichte der Tarifnorm. Während § 10 III MTV i.d.F. vom 26. 10. 1994/4. 11. 1996 eine Verweisung auf die gesetzlichen Bestimmungen enthielt, regelt die hier in Streit stehende Fassung des § 10 III Nr. 1 MTV die Entgeltfortzahlung eigenständig. Vor dem Hintergrund der zum 1. 10. 1996 durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. 9. 1996 (BGBl. I S. 1476) in Kraft getretenen Absenkung der Höhe des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts bei Arbeitsunfähigkeit auf 80% des regelmäßigen Arbeitsentgelts haben die Tarifvertragsparteien die gesetzlichen Bestimmungen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall modifiziert.
Dem Anliegen der Gewerkschaftsseite, die hundertprozentige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sicherzustellen, trägt § 10 III Nr. 1 Abs. 2 MTV zunächst Rechnung. Auf der anderen Seite berücksichtigt die Tarifregelung erkennbar den Wunsch der Arbeitgeber nach einer Senkung der Kosten für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, indem sie dem Arbeitgeber das Recht einräumt, unbezahlte Nacharbeit verlangen zu können, bzw. je Tag der Arbeitsunfähigkeit 1,5 Stunden vom Zeitkonto in Abzug zu bringen, oder, soweit Nacharbeit oder eine Verrechnung mit dem Zeitkonto nicht möglich ist, 1,5 Stunden je Krankheitstag vom Lohn abzuziehen. In der in § 10 III Nr. 1 Abs. 4 MTV enthaltenen Beschränkung der Anrechnungsmöglichkeiten auf 15 Kalendertage im Kalenderjahr bzw. 10 Krankheitstage je Krankheitsfall kommt der Kompromisscharakter dieser Tarifregelung besonders augenscheinlich zum Ausdruck. Die Entgeltfortzahlungskosten belaufen sich für diese Zeitdauer auf 80,26% der Vergütung, im übrigen in den Grenzen des § 3 Abs. 1 EntgeltFG auf 100% der Vergütung.
c)
Soweit die Revision meint, Ziel der tariflichen Neuregelung des Jahres 1997 sei allein gewesen, den Zweck des damaligen § 4b EntgeltFG (heute § 4a EntgeltFG) nachzuvollziehen und damit dem Missbrauch der Entgeltfortzahlung entgegenzuwirken, kann dem nicht gefolgt werden. Hierbei werden der tarifliche Gesamtzusammenhang und die Entstehungsgeschichte des § 10 III Nr. 1 MTV nicht genügend beachtet. Dass durch die Senkung der Entgeltfortzahlungskosten auch dem Missbrauch der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall entgegengewirkt werden kann, bedeutet nicht, dass dies das einzige objektive Ziel der tariflichen Regelung ist. Kostensenkung und Eindämmung des Missbrauchs der Entgeltfortzahlung schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. Beide Gesichtspunkte waren im übrigen auch Zweck der Änderung des EntgeltFG durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. 9. 1996 (vgl. BT-Drucks. 13/4612 S. 10f.).
3.
Mit der Heraufsetzung der Höhe des bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit fortzuzahlenden Arbeitsentgelts von 80% auf 100% des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts durch das sog. Korrekturgesetz vom 19. 12. 1998 (BGBl. I S. 3843) zum 1. 1. 1999 ist § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV unwirksam geworden. Diese Tarifnorm ist mit dem gemäß § 12 EntgeltFG zugunsten der Arbeitnehmer zwingenden und nicht tarifdispositiven § 4 Abs. 1 EntgeltFG nicht mehr vereinbar (ebenso Harth a.a.O. S. 104).
a)
Die Wirksamkeit des § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV ergibt sich nicht aus dem Tarifvorbehalt des § 4 Abs. 4 EntgeltFG.
aa)
Nach § 4 Abs. 4 EntgeltFG kann durch Tarifvertrag eine von § 4 Abs. 1 EntgeltFG abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts festgelegt werden. Zur „Bemessungs grundlage“ i.S. des § 4 Abs. 4 Satz 1 EntgeltFG gehören sowohl die Berechnungsmethode als auch die Berechnungsgrundlage. Die Tarifvertragsparteien können daher das gesetzliche Lohnausfallprinzip durch das Referenzprinzip ersetzen sowie Umfang und Bestandteile des zugrunde zu legenden Arbeitsentgelts regeln (Senat vom 26. 8. 1998 - 5 AZR 740/97 - AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie = BAG 89, 330). So können einzelne Vergütungsbestandteile, wie beispielsweise die Nachtarbeitsvergütung, von der Berechnung der Krankenbezüge ausgenommen werden.
bb)
§ 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV betrifft weder die Berechnungsmethode noch die -grundlagen des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts. Denn die Tarifvorschrift regelt nicht, welche Entgeltbestandteile bei der Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zu berücksichtigen sind oder unberücksichtigt bleiben. Zu den Bemessungsgrundlagen i.S. von § 4 Abs. 4 EntgeltFG gehört zwar auch die Arbeitszeit. Damit ist allerdings die Arbeitszeit gemeint, für die der Arbeitnehmer in dem Zeitraum des § 3 Abs. 1 EntgeltFG Arbeitsentgelt bekommen hätte, wenn er nicht an der Arbeitsleistung verhindert gewesen wäre, sondern gearbeitet hätte (ErfK/Dörner 2. Aufl. EFZG § 4 Rn. 7). Dieser für die Berechnung der Höhe der Entgeltfortzahlung maßgebliche Zeitfaktor kann abweichend von § 4 Abs. 1 EntgeltFG festgelegt werden. So kann geregelt werden, ob die jeweils individuelle oder die betriebsübliche Arbeitszeit entgeltfortzahlungspflichtig sein soll. Von diesen Gestaltungsmöglichkeiten haben die Tarifvertragsparteien in § 10 III Nr. 1 Abs. 2 MTV Gebrauch gemacht. In § 10 III Nr. 1 Abs. 3 und 4 MTV wird jedoch nicht der Zeitfaktor näher geregelt, sondern dem Arbeitgeber das Recht eingeräumt, unter den dort im einzelnen bestimmten Voraussetzungen unentgeltliche Arbeitsleistungen vom Arbeitnehmer verlangen zu können. Eine solche Regelung wird von der Tariföffnungsklausel des § 4 Abs. 4 EntgeltFG nicht erfasst.
b)
Entgegen der Auffassung der Revision kann die Wirksamkeit des § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV auch nicht damit begründet werden, die Tarifregelung verfolge den gleichen Zweck wie § 4a EntgeltFG. Denn § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV hat einen anderen Regelungsinhalt als § 4a EntgeltFG.
Während nach § 4a EntgeltFG der Arbeitgeber Leistungen kürzen kann, die er zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbringt, führt § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV zu einer Verringerung des laufenden Arbeitsentgelts für geleistete Arbeit. Laufendes Arbeitsentgelt ist der Bruttoverdienst des Arbeitnehmers, den dieser aus dem Arbeitsverhältnis als Gegenleistung für geleistete Arbeit für bestimmte Zeitabschnitte erhält (vgl. ErfK/Dörner a.a.O. EFZG § 4 Rn. 16 und EFZG § 4a Rn. 6; Schmitt EFZG 4. Aufl. § 4 Rn. 47; Kasseler Handbuch/Vossen 2. Aufl. 2.2 Rn. 341f.). Sondervergütungen werden demgegenüber nicht als Gegenleistung für Arbeitsleistungen in bestimmten Zeitabschnitten erbracht, sondern als weitergehende zusätzliche Leistungen, wie beispielsweise Weihnachtsgratifikationen u.ä. (vgl. ErfK/Dörner a.a.O. EFZG § 4a Rn. 10ff. m.w.N.). Die Vergütung für Mehrarbeit ist die Gegenleistung für die in einem bestimmten Zeitabschnitt erbrachte Arbeitsleistung und keine weitere Leistung, die zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt bezahlt wird.
II.
Die durch § 12 und § 4 Abs. 4 EntgeltFG beschränkte Zulässigkeit abweichender tarifvertraglicher Regelungen zuungunsten der Arbeitnehmer ist verfassungsgemäß. Diese Bestimmungen verstoßen nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG.
1.
Der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Schutz der Tarifautonomie erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen und umfasst insbesondere auch das Aushandeln von Tarifverträgen (vgl. BVerfG vom 24. 4. 1996 - 1 BvR 712/86 - AP Nr. 2 zu § 57a HRG = BVerfG 94, 268). Der Staat enthält sich in diesem Betätigungsfeld grundsätzlich einer Einflussnahme und überlässt die erforderlichen Regelungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zum großen Teil den Koalitionen, die sie autonom durch Vereinbarungen treffen. Zu den der Regelungsbefugnis der Koalitionen überlassenen Materien gehören insbesondere das Arbeitsentgelt und die anderen materiellen Arbeitsbedingungen (vgl. AP Nr. 2 zu § 57a HRG = BVerfG 94, 268, 283; BVerfG vom 27. 4. 1999 - 1 BvR 2203/93 und 1 BvR 897/95 - AP Nr. 88 zu Art. 9 GG = BVerfG 100, 271 = NZA 1999, 992; BVerfG vom 3. 4. 2001 - 1 BvL 32/97 - AP Nr. 2 zu § 10 BurlG Kur).
Die durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit kann, obwohl sie ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist, jedenfalls zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt. Dem Gesetzgeber ist es, wenn solche Gründe vorliegen, grundsätzlich nicht verwehrt, Fragen zu regeln, die Gegenstand von Tarifverträgen sein können (vgl. AP Nr. 2 zu § 57a HRG = BVerfG 94, 268, 284; 100, 271, 283). Art. 9 Abs. 3 GG verleiht den Tarifvertragsparteien für den für tarifvertragliche Regelungen offenstehenden Bereich zwar ein Normsetzungsrecht aber kein Normsetzungsmonopol. Der Gesetzgeber bleibt befugt, das Arbeitsrecht zu regeln. Damit verbundene Beeinträchtigungen der Tarifautonomie sind verfassungsgemäß, wenn der Gesetzgeber mit den gesetzlichen Regelungen den Schutz der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Belange bezweckt und hierbei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (BVerfG vom 3. 4. 2001, AP Nr. 2 zu § 10 BurlG Kur).
2.
Diese Voraussetzungen sind beachtet. § 12 und § 4 Abs. 4 EntgeltFG beeinträchtigen zwar den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG. Denn hierdurch werden die Möglichkeiten zur Regelung der Arbeitsbedingungen einseitig beschränkt. Diese Bestimmungen die nen jedoch der Sicherung von Belangen, die mit Verfassungsrang ausgestattet sind.
a)
Die Bedeutung der gesetzlich geregelten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall kommt bereits in deren geschichtlicher Entwicklung zum Ausdruck. Die Gesetzgebung hat sich schon früh der Sicherung der Arbeitnehmer im Krankheitsfall angenommen (hierzu MünchArbR/Boecken 2. Aufl. § 84 Rn. 2ff.; Schmitt a.a.O. Einl. Rn. 17ff.). Die Geschichte des modernen Rechts der Entgeltfortzahlung beginnt im vorletzten Jahrhundert mit der Einführung des § 60 ADHGB von 1861 sowie später der §§ 63 HGB, 133c GewO und 616 BGB. In der Nachkriegszeit wurde die Entgeltfortzahlung durch das Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle (ArbKrankhG) vom 26. 6. 1957 (BGBl. I S. 649) und daran anschließend durch das Lohnfortzahlungsgesetz (LohnFG) vom 27. 7. 1969 (BGBl. I S. 946) fortgeschrieben und mit dem Inkrafttreten des EntgeltFG am 1. 6. 1994 (BGBl. I S. 1014) in der Bundesrepublik Deutschland für Arbeiter und Angestellte einheitlich geregelt. Seit Inkrafttreten des § 9 LohnFG, der dem heutigen § 12 EntgeltFG entspricht, kann von den wesentlichen gesetzlichen Bestimmungen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht durch Tarifvertrag zuungunsten der Arbeitnehmer abgewichen werden.
Mit den Regelungen in § 12 und § 4 Abs. 4 EntgeltFG wird ein einheitlicher Mindeststandard der Entgeltfortzahlung sichergestellt. Hierdurch wird gewährleistet, dass alle Arbeitnehmer unabhängig davon, ob sie tarifgebunden sind oder nicht, und losgelöst von der tariflichen Regelungsmacht der Gewerkschaften für die in § 3 Abs. 1 EntgeltFG näher bestimmte Dauer Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe des dem einzelnen Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Entgelts erhalten (§ 4 Abs. 1 EntgeltFG). Das Gesetz schützt damit die wirtschaftliche und soziale Existenz des Arbeitnehmers in einer Notlage und bewirkt unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Belange der Arbeitgeber eine angemessene finanzielle Sicherung der Arbeitnehmer. § 12 und § 4 Abs. 4 EntgeltFG gewährleisten, dass dieses gesetzliche Ziel nicht umgangen werden kann. Beide Vorschriften dienen deshalb der Verwirklichung und Durchsetzung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) und damit verfassungsrechtlich legitimierten Gemeinwohlbelangen.
b)
Zur Sicherstellung der gesetzgeberischen Ziele sind die Regelungen in § 12 und § 4 Abs. 4 EntgeltFG geeignet und erforderlich. Die Bestimmungen sind auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Die Einschränkung der tarifvertraglichen Regelungsmöglichkeiten ist unter Berücksichtigung des Regelungszwecks von § 12 und § 4 Abs. 4 EntgeltFG nicht unangemessen. Den Tarifvertragsparteien steht trotz der Beschränkungen in § 12 und § 4 Abs. 4 EntgeltFG noch ein beträchtlicher Gestaltungsspielraum zur Verfügung. Die Berechnungsgrundlagen der Höhe des nach § 4 Abs. 1 EntgeltFG fortzuzahlenden Entgelts können nach § 4 Abs. 4 EntgeltFG tariflich geregelt werden. Über die nähere Ausgestaltung der Kürzungsmöglichkeiten des § 4a EntgeltFG kann weiterhin auch durch Tarifverträge einem Missbrauch der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall entgegengewirkt werden. In diesem Rahmen sind bezogen auf Sondervergütungen auch Regelungen denkbar, wie sie in § 10 III Nr. 1 Abs. 3 MTV enthalten sind. Dass der Gesetzgeber das laufende Arbeitsentgelt von diesen Kürzungsmöglichkeiten ausgenommen hat, weil er offenbar eine Reduzierung von Sondervergütungen als nicht so einschneidend empfunden hat, hält sich in dem Rahmen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit.
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