Sekundenschlaf

Gericht

LG Stendal


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

04. 12. 2002


Aktenzeichen

23 O 67/02


Leitsatz des Gerichts

Grobfahrlässig handelt, wer seine Fahrt fortsetzt, obwohl er zuvor Ermüdungserscheinungen festgestellt hat und daher auch damit rechnen muss, dass er infolge eines Sekundenschlafes die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

... Der Kl steht ein Anspruch auf Schadensersatz aus übergegangen Recht nach § 823 Abs. 1 BGB, § 67 VVG, § 15 Abs. 2 AKB zu.

1. Zum Schadensersatz ist nach § 823 Abs. 1 BGB verpflichtet, wer vorsätzlich oder fahrlässig das Eigentum eines anderen verletzt. Der Bekl hat schuldhaft einen Sachschaden am Lkw verursacht, der der E- Spedition GmbH gehörte. Hierfür hat er grundsätzlich voll einzustehen. Eine Korrektur des Haftungsumfanges aufgrund einer Überlagerung des Deliktrechts durch die arbeitsrechtlichen Grundsätze über den innerbetrieblichen Schadensausgleich kommt nicht in Betracht. Danach kann die Haftung des Arbeitnehmers, der den Arbeitgeber bei einer - auch nicht gefahrgeneigten - betrieblichen Tätigkeit schädigt, beschränkt sein, selbst wenn dem Arbeitnehmer grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt (Palandt, BGB, 61. Aufl., § 611 Rn 156 ff.), im vorliegenden Fall ist jedoch nicht ersichtlich, dass der Bekl Arbeitnehmer der E-Spedition GmbH war.

2. Die Kl kann nach § 67 VVG aus dem deliktischen Anspruch der VN gegen den Bekl vorgehen. Nach dieser Vorschrift gehen Forderungen aus dem Schadensfall kraft Gesetzes auf den VR über, soweit dieser dem VN den Schaden ersetzt. Denn durch den Eintritt der Versicherung soll der Schädiger nicht entlastet werden.

Zwischen den Parteien steht nunmehr außer Streit, dass die Kl Ersatzleistungen an die VN erbracht hat, die die Klagesumme überschreitet.

3. Die Haftung des Bekl ist nicht durch § 15 Abs. 2 AKB ausgeschlossen. Dem Versicherungsverhältnis zwischen der Kl und der E-Spedition GmbH lagen die Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung (AKB) zugrunde. Danach können Ersatzansprüche des VN, die nach § 67 VVG auf den VR übergegangen sind, gegen den berechtigten Fahrer nur geltend gemacht werden, wenn von ihnen der Versicherungsfall vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt worden ist. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wird, schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt werden und das nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste.

Während der Maßstab der einfachen Fahrlässigkeit ein ausschließlich objektiver ist, sind bei der groben Fahrlässigkeit auch subjektive, in der Individualität des Handelnden begründete Umstände zu berücksichtigen (Palandt, a.a.O., § 277 Rn 2).

Dem Bekl fällt grobe Fahrlässigkeit zur Last. Denn er hat am Verkehr teilgenommen, obwohl er damit rechnen musste, dass er infolge eines Sekundenschlafes die Kontrolle über sein Fahrzeug verlieren würde. Zwar hatte der Bekl vor Fahrtantritt ausreichend geruht, nämlich etwa 11 Stunden. Gleichwohl kann er nicht mit seinem Einwand gehört werden, er habe vor dem Unfall keine Anzeichen der Übermüdung bemerkt. Denn es besteht ein Erfahrungssatz, dass ein Kraftfahrer, bevor er am Steuer seines Fahrzeugs einschläft, stets deutliche Zeichen der Ermüdung (Prodromalerscheinungen) wahrnimmt oder wenigstens wahrnehmen kann (OLG Frankfurt NJW-RR 1993, 102f.; OLG Naumburg OLG-Report 2001, 28f.). Die Müdigkeit kündigt sich durch schwere Glieder, Gähnen, nachlassende Konzentration oder herabfallende Augenlider an.

Das Gericht verkennt nicht, dass das Einschlafen am Steuer dem Kraftfahrer im Regelfall zum einfachen Verschulden gereicht, aber dass die Feststellung der groben Fahrlässigkeit voraussetzt, dass der Fahrer sich über Bedenken hinweggesetzt hat, die sich jedem in seiner Lage Befindlichen geradezu aufgedrängt hätte (BGH NJW 1974, 948, 949). In casu liegen solche besonderen Umstände vor. Einen schlagartig eintretenden Sekundenschlaf hält das Gericht nach eigener Sachkunde für ausgeschlossen; der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf es nicht. Der Bekl hat unstreitig nach dem Unfall den aufnehmenden Polizeibeamten gegenüber eingeräumt, dass er eingenickt sei. Der Behauptung des Bekl, er habe gegenüber den Beamten schockbedingt lediglich Vermutungen über die Unfallursache geäußert, mag das Gericht keinen Glauben schenken. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Bekl sich zu diesem Zeitpunkt noch im Einzelnen an den Unfallhergang erinnern und diesen auch zutreffend schildem konnte. Es ist keine Erklärung dafür ersichtlich, weshalb sich die Erinnerung des Bekl nunmehr - einige Zeit nach dem Unfall - so gebessert haben soll, dass er Prodromalerscheinungen mit Sicherheit ausschließen kann. Der Bekl behauptet selbst nicht, dass andere Faktoren als Unfallursache in Betracht kommen könnten. Aufgrund des Erfahrungssatzes, dass niemand ohne vorherige Ermüdungsanzeichen am Steuer einschläft und aufgrund der Aussage des Bekl gegenüber den aufnehmenden Polizeibeamten besteht für das Gericht kein Zweifel daran, dass für den Bekl - trotz des ausreichenden Schlafes - Müdigkeitserscheinungen erkennbar waren.

Die Teilnahme am Verkehr trotz dieser Anzeichen ist in besonderem Maße sorgfaltswidrig. Die Sorgfaltsanforderungen steigen mit der Gefahrenträchtigkeit eines Verhaltens. Es ist objektiv pflichtwidrig, am Straßenverkehr teilzunehmen, wenn deutliche Anzeichen der Ermüdung auftreten. Denn ein ermüdeter Fahrer muss damit rechnen, dass er infolge eines Sekundenschlafes die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert und es dadurch zu erheblichen Schäden kommen kann. Dies hat bei Lkw wegen deren Masse und Gewicht besondere Bedeutung. Den Bekl trifft auch ein subjektives Verschulden. Für die Gefahren, die mit der Müdigkeit am Steuer verbunden sind, hätte der Bekl als Berufskraftfahrer besonders sensibilisiert sein müssen. Das Unfallrisiko musste sich gerade ihm auf Grund seiner individuellen gesundheitlichen Situation aufdrängen. Denn der Bekl hatte Kenntnis von der Verkrümmung seines Atemweges. Auch wenn hiermit keine akuten Beeinträchtigungen verbunden waren, hatte er immerhin Veranlassung gehabt, ihretwegen einen Arzt aufzusuchen ...

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht