Volle Haftung des Auffahrenden trotz Anfahrprivilegs

Gericht

OLG Hamm


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

04. 06. 1998


Aktenzeichen

6 U 150/97


Leitsatz des Gerichts

Bremst ein Fahrer beim Anfahren an der Ampel plötzlich ab, weil er ein Polizeiauto mit Blaulicht bemerkt, so trifft den Auffahrenden die Schuld. Er muss den Sicherheitsabstand einhalten bzw. besonders bremsbereit sein.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Nachdem der Kl. und hinter ihm der Bekl. auf der Linksabbiegerspur der S.-Straße vor der LZA gehalten hatten, fuhren beide bei Grünlicht an, um nach links in westlicher Richtung abzubiegen. Noch in der Anfahrphase vernahm der Kl. das Einsatzhorn eines Polizeifahrzeuges, das später den Kreuzungsbereich in West-Ost-Richtung überquerte. Er bremste seinen Pkw ab und der Bekl. fuhr auf.

LG und OLG haben auf volle Haftung des Bekl. erkannt.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Zwar ist dem Bekl. nicht zum Vorwurf zu machen, dem Pkw des Kl. entgegen § 4 I 1 StVO mit zu geringem Sicherheitsabstand gefolgt zu sein. Der Bekl. hat vorgetragen, er sei dem Kl., bevor dieser gebremst habe, bei einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h in einem Abstand von ca. 10 m gefolgt. Gegenteiliges hat die Beweisaufnahme nicht ergeben. Da die Pkw des Kl. und des Bekl. vor der LZA gestanden hatten und sich noch in der Anfahrphase befanden, kann der von dem Bekl. angegebene Abstand nicht als zu gering angesehen werden. Denn während des Anfahrens bei Grünlicht darf ausnahmsweise so angefahren werden, wie die Fahrzeuge gestanden haben, weil anderenfalls die Grünphase nicht ausgenutzt und der Verkehr behindert würde (vgl. Jagusch/Hentschel, StraßenverkehrsR, 33. Aufl., § 4 StVO Rdnr. 8; Haag, in: Geigel, Der Haftpflichtprozeß, 22. Aufl., Kap. 27 Rdnr. 144 m.w. Nachw.).

Das Unfallverschulden des Bekl. ist aber darin zu sehen, daß er unter Verstoß gegen § 1 StVO nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit gefahren ist und daher seinen Pkw nicht oder zu spät abgebremst hat. Wer wie der Bekl. einem vorausfahrenden Kfz mit verkürztem Abstand folgt, hat die dadurch geschaffene besondere Lage stets durch gesteigerte Aufmerksamkeit und erhöhte Bremsbereitschaft auszugleichen (Jagusch/Hentschel, § 4 StVO Rdnr. 7, 8). Selbst wenn der Kl., wie der Bekl. unwiderlegt behauptet, auf das Einsatzhorn des Polizeifahrzeuges mit einer Blockierbremsung reagiert haben sollte, hätte der Bekl. seinen Pkw bei der von ihm selbst angegebenen Geschwindigkeit und dem von ihm benannten Fahrzeugabstand noch rechtzeitig vor der Kollision anhalten können. Dies gilt um so mehr, weil der Ton des Einsatzhornes vom Bekl. zu der gleichen Zeit wahrgenommen werden konnte, wie vom Kl., so daß beide gleichzeitig hierdurch zu einer entsprechenden Reaktion aufgefordert wurden.

Der Bekl. durfte auch nicht darauf vertrauen, daß der Kl. etwa nur mit mittlerer Bremsverzögerung reagieren oder gar noch ein Stück ungebremst weiterfahren würde. Denn die Parteien waren gerade im Begriff, in den Bereich einer Kreuzung einzufahren, und es war nicht von vornherein erkennbar, aus welcher Richtung sich das Wegerechtsfahrzeug nähern würde. Sobald aber ein Verkehrsteilnehmer ein Einsatzhorn hört, darf er, um dem Gebot des § 38 StVO entsprechen zu können, in einen Kreuzungsbereich nur einfahren, wenn er zuvor abgeklärt hat, daß das Wegerechtsfahrzeug von dort nicht kommen kann (vgl. OLG Düsseldorf, NZV 1992, 489; OLG Hamm, VersR 1997, 1547 (1548)). Der Bekl. mußte somit damit rechnen, daß sich der Kl. entsprechend verhalten und zu diesem Zweck auch mit einer scharfen Bremsverzögerung reagieren würde, weil der Kl. anderenfalls Gefahr lief, dem Wegerechtsfahrzeug den Weg zu versperren.

Eine auf verkehrswidrigem Verhalten des Kl. beruhende Steigerung der von seinem Pkw ausgegangenen Betriebsgefahr läßt sich hingegen nicht feststellen.

Daß der Kl., wie die Zeugin M angegeben hat, stark abgebremst hat, beweist noch keinen Verstoß des Kl. gegen § 4 I 2 StVO. Denn nach dieser Vorschrift ist starkes Bremsen eines Vorausfahrenden lediglich dann untersagt, wenn ein zwingender Grund für die Bremsverzögerung fehlt. Ein solcher Grund lag hier aber vor, weil sich ein Wegerechtsfahrzeug näherte. Wie bereits ausgeführt, darf gem. § 38 StVO bei in der Nähe befindlichem Wegerechtsfahrzeug nur dann in einen Kreuzungsbereich eingefahren werden, wenn sichergestellt ist, daß dieses Wegerechtsfahrzeug dadurch nicht behindert werden kann. In der hier gegebenen Situation mußte der Kl. aber mit der Gefahr rechnen, daß sein Pkw bei weiterem Einfahren in einen Kreuzungsbereich zu einem gefährlichen Hindernis für das Polizeifahrzeug werden konnte. Tatsächlich befand sich dieses Fahrzeug, wie die Bekundungen der Zeugen D und K ergeben haben, zum Kollisionszeitpunkt schon nur noch 50 bis 100 m vom Kollisionsort entfernt und passierte die Kreuzung nur wenige Sekunden nach der Kollision. Unter diesen Umständen kann dem Kl., wenn er stark gebremst hat, ein Verstoß gegen die erforderliche Sorgfalt nicht zur Last gelegt werden.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß Verkehrsteilnehmer, die gem. § 38 II StVO sofort freie Bahn für ein Wegerechtsfahrzeug schaffen müssen, dabei ein Fahrverhalten, das andere schädigen könnte, tunlichts zu vermeiden haben. Angesichts der Tatsache, daß der Bekl. in einem Abstand von immerhin ca. 10 m hinter dem Kl. folgte, hätte der Kl. allenfalls bei einer Vollbremsung mit einer konkreten Gefährdung des Bekl. rechnen müssen. Eine solche Vollbremsung des Kl. ist aber nicht bewiesen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme muß davon ausgegangen werden, daß der Kl. in einer Ausnahmesituation seiner Verpflichtung, einerseits das Wegerechtsfahrzeug nicht zu behindern und dabei andererseits auch eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer tunlichst zu vermeiden, in angemessener Weise gerecht geworden ist. Demgegenüber erweist sich das verkehrswidrige Verhalten des Bekl. in der gegebenen Situation als besonders gefahrenträchtig. Unter Berücksichtigung aller Umstände erscheint es daher sachgerecht, die Betriebsgefahr des Pkw des Kl. bei der Abwägung der Schadensverursachungsbeiträge gem. § 17 StVG zurücktreten zu lassen.

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht