Härte bei Inanspruchnahme unterhaltspflichtiger Eltern

Gericht

BVerwG (Lüneburg)


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

27. 06. 1991


Aktenzeichen

5 C 2/87


Leitsatz des Gerichts

Die in § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG i. V. mit § 27 III BSHG nur für die Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege in einem Heim getroffene Regelung, den Unterhaltspflichtigen grundsätzlich auch nicht hinsichtlich der auf den Lebensunterhalt bezogenen Hilfe in Anspruch zu nehmen, kann nicht mit Hilfe der Härtevorschrift nach § 91 III 1 Halbs. 1 BSHG generell auf die Fälle der Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege auch außerhalb von Einrichtungen erweitert werden.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. zu 2 ist der Vater und Vormund seiner 1949 geborenen, geistig behinderten Tochter. Sie lebt im Haushalt ihrer Eltern und wird dort gepflegt. Halbtags wird sie in einer Tagesstätte zur Förderung Behinderter auf Kosten der Eingliederungshilfe betreut. Die Bekl. gewährt ihr seit Juli 1980 Pflegegeld und rückwirkend ab dem 10. 7. 1980 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Durch den an den Kl. zu 2 und seine Ehefrau, die bisherige Kl. zu 1, gerichteten Bescheid vom 19. 2. 1981 leitete die Bekl. unter Hinweis auf die von ihr geleistete Hilfe zum Lebensunterhalt den Unterhaltsanspruch der Tochter gegen ihre Eltern in Höhe von 365,60 DM monatlich (ab 10. 7. 1980) bzw. von 346,80 DM monatlich (ab 1. 1. 1981) auf sich über. Der Widerspruch hiergegen wurde zurückgewiesen mit der Begründung, daß es für den Kl. zu 2 und seine Ehefrau keine Härte bedeute, wenn sie auf Unterhalt in Anspruch genommen würden. Am 16. 4. 1981 und am 7. 4. 1983 erließ die Bekl. zwei weitere Überleitungsanzeigen. Auf die Klage des Kl. zu 2 und seiner Ehefrau hat das VG antragsgemäß die Bescheide der Bekl. vom 19. 2. 1981, 16. 4. 1981 und 7. 4. 1983 sowie den Widerspruchsbescheid vom 2. 12. 1982 aufgehoben. Die Berufung der Bekl. hat das OVG zurückgewiesen. Die Revision der Bekl. hatte Erfolg und führte zur Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Revision ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 I Nr. 1 VwGO). Denn die vom BerGer. gegebene Begründung rechtfertigt nicht die Annahme, daß es für den Kl. eine Härte i. S. von § 91 III 1 BSHG in der für die Beurteilung des vorliegenden Rechtsstreits maßgebenden Fassung der Bekanntmachung vom 13. 2. 1976 (BGBl I, 289, ber. 1159) bedeutete, wenn er auf Unterhalt in Anspruch genommen würde.

Das BerGer. ist zu Recht davon ausgegangen, daß keiner der in § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG genannten Härtegründe vorliegt. Nach dieser Vorschrift soll der Träger der Sozialhilfe vor allem von der Inanspruchnahme unterhaltspflichtiger Eltern absehen, soweit einem Behinderten, einem von einer Behinderung Bedrohten oder einem Pflegebedürftigen nach Vollendung des 21. Lebensjahres Eingliederungshilfe für Behinderte oder Hilfe zur Pflege gewährt wird. Diese Härtebestimmung gilt nicht für die - hier allein in Rede stehende - Inanspruchnahme wegen der Leistung von Hilfe zum Lebensunterhalt. Schon der Wortlaut der Vorschrift ("soweit ... gewährt wird“, nicht etwa: „wenn ... gewährt wird“) zeigt, daß sie ein Absehen von der Inanspruchnahme nicht wegen gewährter Sozialhilfeleistungen schlechthin, sondern nur wegen gewährter Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege zuläßt.

Das BerGer. hat weiter zutreffend erkannt, daß die Härtebeispiele in § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG die nach § 91 III 1 Halbs. 1 BSHG offenen Härtegründe nicht einengen, daß sie vielmehr zur Auslegung des Begriffs der Härte i. S. von § 91 III 1 Halbs. 1 BSHG herangezogen werden können. Dem BerGer. kann aber nicht darin gefolgt werden, daß Dauer und Schwere des Leidenszustandes, wie sie für die Härtebeispiele des Halbs. 2 kennzeichnend seien, alleinentscheidendes Gewicht auch bei der Beurteilung einer Härte nach Halbs. 1 zukomme. Die Intensität des Leidenszustandes ist zwar als notwendige Voraussetzung für die Eingliederungshilfe- und Plegebedürftigkeit entscheidend, genügt aber für sich zur Erfüllung der Härtebeispiele der § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG gerade nicht. Dort wird weiter vorausgesetzt, daß sich der Unterhaltsanspruch gegen die Eltern des Hilfeempfängers richtet, der Hilfeempfänger das 21. Lebensjahr vollendet hat und die Inanspruchnahme wegen gewährter Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege in Betracht kommt. Diese zusätzlichen Umstände erst geben den Ausschlag für die Härtegründe nach Halbs. 2. Danach kann beispielsweise von der Inanspruchnahme eines unterhaltspflichtigen Kindes auch bei einem langen und schweren Leidenszustand des Hilfeempfängers nicht abgesehen werden. Deshalb können die Härtegründe nach Halbs. 2 und ihre Bedeutung für die Auslegung der Härte i. S. des Halbs. 1 nicht auf das Merkmal der Dauer und Schwere des Leidenszustandes verkürzt werden.

Eine Härte nach § 91 III 1 Halbs. 1 BSHG kann auch nicht mit der Begründung des BerGer. angenommen werden, daß bei den ihr Kind zu Hause pflegenden und betreuenden Eltern gleich gewichtige Gründe gegen ihre Inanspruchnahme sprächen wie in den Fällen der Hilfe im Heim, die nach § 27 III BSHG den dort gewährten Lebensunterhalt mitumfaßt mit der Folge, daß auch hinsichtlich der auf den Lebensunterhalt bezogenen Hilfe von einer Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen bereits nach § 91 III 1 Halbs. 1 BSHG abgesehen werden soll. Die je nach Haus- oder Heimpflege unterschiedlichen Ergebnisse beruhen auf der Entscheidung des Gesetzgebers in § 27 III BSHG, den in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalt der Hilfe in besonderen Lebenslagen zuzuordnen.

Dabei ist zu sehen, daß der Anwendungsbereich des § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG bei einer Heimunterbringung eingeschränkt ist. Denn die Zuordnung des in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalts zur Hilfe in besonderen Lebenslagen nach § 27 III BSHG führt bereits dazu, daß die Einsatzpflicht der Eltern dafür nach § 28 BSHG auf die Zeit der Minderjährigkeit ihrer Kinder begrenzt und die Überleitungsmöglichkeiten nach § 90 I 3 BSHG als Folge der Einkommensgrenzen nach §§ 79 ff. BSHG eingeschränkt ist. Bei den Hilfen in einem Heim werden danach nur diejenigen Fälle von § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG noch erfaßt, in denen die dem Hilfebedürftigen zustehenden Unterhaltsleistungen (gegebenenfalls zusammen mit seinem sonstigen Einkommen) die maßgebliche Einkommensgrenze nach §§ 79 ff. BSHG übersteigen. Diesem im Fall der Heimunterbringung eingeschränkten Anwendungsbereich des § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG mit seiner Erstreckung auch auf die Hilfe für den Lebensunterhalt steht der im Fall der nichtstationären Eingliederungshilfe und der Hilfe zur häuslichen Pflege uneingeschränkte Anwendungsbereich des § 91 III 1 Halbs. 1 BSHG ohne Erstreckung auf die Hilfe für den Lebensunterhalt gegenüber.

Auch wenn man - wie VG und OVG - die Inanspruchnahme der Eltern auf Unterhalt in Fällen der häuslichen Pflege als unbefriedigend bewertet, weil Eltern, die ihr über 21jähriges behindertes Kind in ein Heim geben, grundsätzlich nicht mit ihrer finanziellen Inanspruchnahme rechnen müssen, dagegen Eltern, die ihr Kind selbst pflegen, zusätzlich zu dieser Belastung zu Unterhaltsleistungen herangezogen werden, kann dies zu keinem anderen Ergebnis führen. Eine Abhilfe durch Annahme einer - dann notwendig generellen - Härte würde den in § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG ausdrücklich auf die Eingliederungshilfe und die Hilfe zur Pflege bezogene Härtebeispiel umfassend auf die Hilfe zum Lebensunterhalt erweitern und insoweit die grundsätzlich unterschiedliche Behandlung der Hilfe zum Lebensunterhalt und der Hilfe in besonderen Lebenslagen aufgeben. Die Hilfe zum Lebensunterhalt ist eine unterhaltsabhängige, von der Behinderung im Grundsatz aber unabhängige Hilfe. Die Trennung zwischen Pflege und Pflegegeld einerseits und Unterhalt und Hilfe zum Lebensunterhalt andererseits wird augenscheinlich, wenn man dem vom VG und OVG angeführten Vergleichsbeispiel der Heimpflege statt der Hauspflege den Fall gegenüberstellt, daß ein behindertes Kind nicht im Haushalt seiner unterhaltspflichtigen Eltern, sondern im Haushalt eines Geschwisters gepflegt und betreut wird. Die Unterhaltspflicht der Eltern besteht allein deshalb, weil der Hilfebedürftige - sei es auch infolge seiner Behinderung - nicht selbst für seinen Unterhalt aufkommen kann, unabhängig vom Erfordernis der Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege, die § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG als Härtebeispiele nennt und in denen der Lebensunterhalt bei der Heimunterbringung einbezogen ist (§ 27 III BSHG).

Es kann dahinstehen, inwieweit diese Rechtslage den Zielen des § 3a BSHG i. d. F. des Art. 26 Nr. 2 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 von 22. 12. 1983 (BGBl I, 1532 (1563)), dem Vorrang der offenen Hilfe, und des § 68 BSHG, der Förderung der Bereitschaft zur häuslichen Pflege, entspricht. Die Gerichte sind jedenfalls nicht befugt, die in § 91 III 1 Halbs. 2 BSHG i. V. mit § 27 III BSHG nur für die Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege in einem Heim getroffene Regelung, den Unterhaltspflichtigen grundsätzlich auch nicht hinsichtlich der auf den Lebensunterhalt bezogenen Hilfe in Anspruch zu nehmen, mit Hilfe der Härtevorschrift nach § 91 III 1 Halbs. 1 BSHG generell auf die Fälle der Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege auch außerhalb von Einrichtungen zu erweitern. Es liegt im Ermessen des Gesetzgebers, ob und gegebenenfalls inwieweit und in welcher Richtung (Inanspruchnahme oder Nichtinanspruchnahme) er eine Anpassung regelt.

Auf die danach begründete Revision kann das BVerwG nicht in der Sache selbst entscheiden. So ist die Klage nicht deshalb abzuweisen, weil - wie die Revision meint - die Überleitung des Unterhaltsanspruches von der Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen zu unterscheiden ist. Im Streitfall kann die Frage der Härte einer Inanspruchnahme nach § 91 III 1 BSHG nicht von der Überprüfung der Überleitungsanzeige getrennt werden. Dabei braucht hier nicht näher auf das Verhältnis von Überleitung und Inanspruchnahme eingegangen zu werden. Denn wie der Widerspruchsbescheid zeigt, hat der Träger der Sozialhilfe die Inanspruchnahme des Kl. zu 2 unter dem Aspekt „Härte“ zusammen mit der Überleitung gegen ihn geregelt. Jedenfalls in solchen Fällen umfaßt die gerichtliche Kontrolle die Überleitung und Inanspruchnahme (vgl. BVerwGE 58, 209 (210)).

Auch läßt sich die Frage, ob ein anderer als die bisher erörterten Härtegründe vorliegt, auf der Grundlage der vom BerGer. getroffenen Feststellungen nicht sicher beantworten. Im Berufungsurteil wird einerseits allgemein ausgeführt, daß bei einer Inanspruchnahme in Fällen häuslicher Betreuung die vom BVerwG (BVerwGE 58, 209) bezeichneten sozialen Belange vernachlässigt werden müßten und daß dies zumal dann gelte, wenn der Unterhaltsverpflichtete vor dem Eintreten der Sozialhilfe den Hilfesuchenden weit über das Maß seiner Unterhaltspflicht hinaus betreut und gepflegt habe. Andererseits wird, auf den Kl. zu 2 bezogen, festgestellt, daß er zusammen mit seiner Ehefrau die schwerbehinderte Tochter über dreißig Jahre lang gepflegt und betreut habe. Eine Betreuung und Pflege „weit über das Maß seiner Unterhaltspflicht hinaus“, die nicht allein in der Haus- statt einer Heimpflege gesehen werden kann, wird hingegen nicht festgestellt.

Die Sache ist deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, ohne daß es noch einer Entscheidung der von der Bekl. erhobenen Verfahrensrüge bedarf. Bei der weiteren Prüfung des BerGer., die sich auf die Beurteilung sozialer Belange für eine Härte (BVerwGE 58. 209 (216)) bezieht, wird insbesondere auch zu fragen sein, welche Besonderheiten des Einzelfalles für oder gegen eine Härte sprechen. Als Kriterien können u. a. Dauer und Höhe der bisherigen Unterhaltsbelastung, Ausmaß der Pflegebedürftigkeit - Umfang der Selbständigkeit bzw. Abhängigkeit im lebenspraktischen Bereich, teilstationäre Unterbringung - und Erhalt von Pflegegeld, Höhe des Einkommens in Betracht kommen.

Rechtsgebiete

Sozialrecht