Rechtmässige Verdachtsberichterstattung über Ministerpräsidentin Heide Simonis
Gericht
LG Berlin
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
27. 06. 2002
Aktenzeichen
27.O.409/02
ein Mindestbestand an Beweistatsachen vorliegt, der für den Wahrheitsgehalt der Veröffentlichung spricht
die Darstellung nicht in präjudizierender Weise erfolgt
dort keine bewusst einseitigen und verfälschenden Darstellungen enthalten sind
die zur Verteidigung des Beschuldigten vorhandenen Tatsachen und Argumente berücksichtigt werden
vor der Veröffentlichung eine Stellungnahme des Beschuldigten eingeholt wird
und an der Mitteilung ein durch die Bedeutung des Vorgangs bedingtes öffentliches Informationsinteresse besteht.
Sind die unter Ziffer 1 genannten Voraussetzungen erfüllt, genießt das Veröffentlichungsinteresse (regelmäßig) Vorrang vor dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen.
Die verfassungsrechtlich gewährleistete Aufgabe der Presse gebietet es, deren Veröffentlichungsrecht nicht auf Informationen zu beschränken, deren Wahrheit zum Veröffentlichungszeitpunkt bereits feststeht.
Es besteht keine Pflicht der Presse zur "vollständigen" Berichterstattung i.d. S. dass sie sämtliche gegenteiligen Aussagen im Rahmen der Veröffentlichung gegenüberzustellen hat, solange sich aus den nichtveröffentlichten Aussagen keine zwingende Schlußfolgerung ziehen lässt.
Die Antragsgegnerin ist Verlegerin des Magazins "FOCUS", dessen Ausgaben Nr. 13 bis 19/2002 sich mit der "Kieler Korruptionsaffäre" und den insoweit gegen die Antragstellerin erhobenen Vorwürfen befassen.
In der Ausgabe Nr. 19/2002 des FOCUS vom 6. Mai 2002 erschien auf den Seiten 46 f. der nachfolgend in Ablichtung wiedergegebene Artikel mit der sich daran anschließenden Gegendarstellung der Antragstellerin:
Die Antragstellerin beanstandet hieran die Aussage,
"Von der Doppelrolle will Simonis erst am 20. Februar dieses Jahres erfahren .... haben .... . Ganz anders schildern Brückner und ... das Engagement von "Mister Expo". Beide behaupten übereinstimmend, Simonis .... sei(en) schon frühzeitig, und zwar am 2. März 2001 von ... geplanter Tätigkeit für B&B unterrichtet worden."
weil die Antragsgegnerin damit bewusst und wider besseren Wissens die Belastungslage falsch darstelle. Die Aussagen des Brückner seien unwahr. Die Wahrheit sei, dass sie, die Antragstellerin, mit der Personalangelegenheit des Regierungsmitarbeiters ... nicht befasst gewesen sei. Sie habe weder von ihm erfahren, dass und wie er sich beruflich verändern wolle, noch habe sie sich mit ihm oder Dritten, schon gar nicht mit dem Unternehmer Brückner, darüber unterhalten. Während des Treffens und vor dem omanischen Außenminister sei zu derartigen Erörterungen auch keine Gelegenheit gewesen. Sie sei aus dem Treffen vor dessen Ende weg- und zum nächsten Termin mit dem Innenminister Buß gerufen worden; die omanische Delegation sowie die weiteren Gesprächsteilnehmer Gärtner, Brückner und ... seien noch sitzen geblieben (Glaubhaftmachung: eidesstattliche Versicherungen der Antragstellerin, von Dr. Salam sowie dienstliche Erklärungen von Gärtner und Buß). Das behauptete einstündige 8-Augen-Gespräch habe es nicht gegeben. ... habe hierzu in einem vom NDR-Inforadio am 29. April 2002 gesendeten Interview im Zusammenhang mit der Moderation "Doch dass Heide Simonis schon früh alles gewusst haben müsse, glaubt selbst ... nicht" ausgeführt: "Diese Geschichten, diese Nebentätigkeiten, das kann nicht Aufgabe von Frau Simonis sein, sich darüber über Details der Personalentwicklung oder des Personalwesens zu informieren. Das ist auch nie Gegenstand unserer Gespräche gewesen, Das ist zumindest nachvollziehbar, dass sie darüber so denkt."
Die Antragsgegnerin habe ihre Leser über die Verdachtslage nicht zutreffend informiert, indem sie ihnen ihre Darstellung und die ihrer Entlastungszeugen verschwiegen und das widersprüchliche Darstellungs- und Aussageverhalten Brückners und Dr. Pöhls nicht mitgeteilt habe. So aber behaupte die Antragsgegnerin durch die Darstellung, es gebe übereinstimmende Darstellungen von ... und Brückner, und durch das Verschwiegen der inneren Widersprüche der verschiedenen Versionen und Aussagen, es stehe fest oder liege zumindest greifbar nahe, dass sie, die Antragstellerin, lüge und vor dem Rücktritt stehe. Die Veröffentlichung ihrer Gegendarstellung ändere hieran nichts, da den Lesern die Beweislage im Einzelnen vorenthalten werde, dass sie die Gesprächsrunde bereits vor Brückner, Pöhl und dem Außenminister verlassen habe und der Leser weiter wisse, dass Gegendarstellungen unabhängig vom Wahrheitsgehalt verbreitet werden müssten.
Die Antragstellerin hat die einstweilige Verfügung vom 7. Mai 2002 erwirkt, durch die der Antragsgegnerin unter Androhung der gesetzlich vorgesehenen Ordnungsmittel untersagt worden ist, künftig wörtlich oder sinngemäß zu verbreiten, wie in FOCUS vom 6.5.2002 auf S. 46, 47 geschehen,
"Von der Doppelrolle will Simonis erst am 20. Februar dieses Jahres erfahren .... haben .... . Ganz anders schildern Brückner und ... das Engagement von "Mister Expo". Beide behaupten übereinstimmend, Simonis .... sei(en) schon frühzeitig, und zwar am 2. März 2001 von ... geplanter Tätigkeit für B&B unterrichtet worden."
Gegen diese ihr zwecks Vollziehung zugestellte einstweilige Verfügung richtet sich der Widerspruch der Antragsgegnerin.
Sie behauptet, die angegriffenen, von ihr korrekt zitierten Aussagen entsprächen der Wahrheit. Die Antragstellerin sei bis zum Ende des Treffens mit den omanischen Gästen anwesend gewesen. Nach Abreise der omanischen Delegation habe Brückner bei dem im Anschluss geführten 8-Augen-Gespräch geäußert, wie hilfreich bei der Bearbeitung der Projekte im arabischen Raum Herr Dr. ... sei und dass er ihn abwerben wolle. Die Antragstellerin habe sich daraufhin an den Staatssekretär Gärtner gewandt, sinngemäß mit der Frage: "ist das so in Ordnung?" Herr Gärtner habe die Frage mit Kopfnicken bejaht. Sie, die Antragsgegnerin, sei berechtigt gewesen, der Darstellung der Antragstellerin die Darstellung der Belastungszeugen Brückner und ... gegenüberzustellen. Es sei eine der wichtigsten Aufgaben der Presse, Missstände aufzudecken; dies habe FOCUS im konkreten Fall getan und die sog. "Kieler Affäre" ins Rollen gebracht. FOCUS habe nicht nur zuvor eine ausführliche Stellungnahme der Antragstellerin eingeholt und diese im Rahmen des Lauftextes des Artikels den Lesern zur Kenntnis gegeben, also die beiden konträren Aussagen gegenübergestellt und ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht genügt. Brückner und ... hätten diese Darstellung teilweise gegenüber der Staatsanwaltschaft, teilweise in dem Kieler Untersuchungsausschuss wörtlich wiederholt.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die einstweilige Verfügung aufzuheben und den auf ihren Erlass gerichteten Antrag zurückzuweisen.
Die Antragstellerin beantragt,
die einstweilige Verfügung zu bestätigen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt ihrer Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Die einstweilige Verfügung war aufzuheben und der Antrag auf ihren Erlass zurückzuweisen (§§ 925, 936 ZPO), weil der Antragstellerin der geltend gemachte Anspruch auf Unterlassung der beanstandeten Äußerungen aus §§ 823, analog 1004 Abs. 1 S. 2 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG, §§ 185 ff. StGB gegen die Antragsgegnerin nicht zusteht. Es ist nicht davon auszugehen, dass die angegriffenen Tatsachenbehauptungen falsch sind oder ein falsches Bild abgeben.
Die angegriffene Berichterstattung bewegt sich in den Grenzen einer zulässigen Verdachtsberichterstattung. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen Berichterstattung ist zunächst das Vorliegen eines Mindestbestands an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst "Öffentlichkeitswert" verleihen. Dabei sind die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht umso höher anzusetzen, je schwerer und nachhaltiger das Ansehen des Betroffenen durch die Veröffentlichung beeinträchtigt wird. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten, also durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Unzulässig ist nach diesen Grundsätzen eine auf Sensation ausgehende, bewusst einseitige oder verfälschende Darstellung; vielmehr müssen auch die zur Verteidigung des Beschuldigten vorgetragenen Tatsachen und Argumente berücksichtigt werden. Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist (BGH NJVV 2000, 1036 f. m. w. Nachw.).
Andererseits dürfen die Anforderungen an die pressemäßige Sorgfalt und die Wahrheitspflicht nicht überspannt und insbesondere nicht so bemessen werden, dass darunter die Funktion der Meinungsfreiheit leidet. Dürfte die Presse, falls der Ruf einer Person gefährdet ist, nur solche Informationen verbreiten, deren Wahrheit im Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits mit Sicherheit feststeht, so könnte sie ihre durch Art. 5 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Aufgaben bei der öffentlichen Meinungsbildung nicht durchweg erfüllen, wobei auch zu beachten ist, dass ihre ohnehin begrenzten Mittel zur Ermittlung der Wahrheit durch den Zwang zu aktueller Berichterstattung verkürzt sind. Deshalb verdienen im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit regelmäßig die aktuelle Berichterstattung und mithin das Informationsinteresse jedenfalls dann den Vorrang, wenn die oben dargestellten Sorgfaltsanforderungen eingehalten sind. Stellt sich in einem solchen Fall später die Unwahrheit der Äußerung heraus, so ist diese als im Äußerungszeitpunkt rechtmäßig anzusehen, so dass Unterlassung, Widerruf oder Schadensersatz nicht in Anspruch kommen (BGH NJW 2000, 1036,1037 m. w. Nachw.).
Nach diesen Grundsätzen ist die angegriffene Berichterstattung, deren öffentliches Interesse daran auf der Hand liegt, nicht zu beanstanden. Darin wird zunächst die Stellungnahme der Antragstellerin zu den erhobenen Vorwürfen gebracht und im Anschluss daran die Schilderungen Brückners und ..., die tatsächlich so, wie dargestellt die Antragstellerin belasten. Zwar verschweigt der Ausgangsartikel, dass es auch Zeugenaussagen gibt, die für die Richtigkeit der Behauptung der Antragstellerin streiten und dass die Angaben Brückners und ... vor der Staatsanwaltschaft z. T. nicht mit ihren früheren Äußerungen übereinstimmen. Ohne das Hinzutreten weiterer Umstände kann aber nicht von der Presse verlangt werden, dass sie bei ihrer Berichterstattung jeweils sämtliche Einzelheiten der Darstellung der jeweils Betroffenen gegenüberstellt; einen Anspruch auf vollständige Berichterstattung gibt es nicht. Etwas anderes würde zwar gelten, wenn sich aus mehreren unstreitigen Tatsachen eine bestimmte (ehrverletzende) Schlussfolgerung ziehen lässt, die bei Mitteilung einer verschwiegenen Tatsache weniger nahe liegend erscheint und deshalb durch das Verschweigen dieser Tatsache beim unbefangenen Durchschnittsleser ein falscher Anschein entstehen kann. Dann ist eine bewusst unvollständige Presseberichterstattung rechtlich wie eine unwahre Tatsachenbehauptung zu behandeln (BGH NJW 2000, 656). So liegt es hier aber nicht. Der Ausgangsartikel lässt es völlig offen, wer hier lügt. Aufklärung soll gerade erst vom Untersuchungsausschuss erwartet werden. Dass den Aussagen Brückners und ... eher Glauben zu schenken wäre als den Angaben der Antragstellerin, lässt der Artikel nicht erkennen. Es werden auch keine Einzelheiten zu den Umständen mitgeteilt, unter denen die Antragstellerin schon früher von der Doppelrolle ... unterrichtet worden sein soll, sondern lediglich die sich entgegenstehenden Behauptungen wiedergegeben, so dass keine Verpflichtung bestand, im Rahmen dieser Berichterstattung auf die von der Antragstellerin vorgebrachten Entlastungsmomente einzugehen. Der Artikel erschöpft sich darin, dass gegen die Antragstellerin Vorwürfe erhoben werden, die diese bestreitet. Ein falscher Anschein wird dadurch beim Leser nicht erweckt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 6, 711 ZPO.
Mauck
Gollan
Becker
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