Arbeitslosengeld trotz Verzichts auf Weiterbeschäftigungsanspruch

Gericht

SG Berlin


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

19. 11. 1999


Aktenzeichen

S 55 AL 165/99


Leitsatz des Gerichts

Arbeitslosengeldanspruch besteht auch, wenn auf einen gerichtlich festgestellten Weiterbeschäftigungsanspruch wegen Spannungen am Arbeitsplatz und einer Verschlechterung des Arbeitsklimas verzichtet wird.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. begehrt die Gewährung von Arbeitslosengeld.

Der 1940 geborene Kl. wurde seit 1970 als wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität Berlin im Institut für Physik beschäftigt. Auf Grund eines Änderungsvertrages vom 9. 12. 1993 wurde das Beschäftigungsverhältnis bis zum 31. 12. 1996 befristet. Nach Ablauf dieser Frist arbeitete der Kl. in der Hoffnung der Verlängerung des Arbeitsverhältnisses zunächst ohne Gehalt weiter.

Zeitgleich erhob er Klage beim Arbeitsgericht Berlin mit dem Begehren festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis unbefristet fortbesteht. Dem Begehren des Kl. wurde stattgegeben. Weiter wurde die Bekl. verurteilt, den Kl. bis zum rechtskräftigen Abschluss des vorliegenden Rechtsstreits zu den bisherigen arbeitsvertraglichen Bedingungen als wissenschaftlicher Oberassistent weiter zu beschäftigen.

Im Rahmen der auf Grund dieses Weiterbeschäftigungsanspruches ausgeübten Beschäftigung kam es zunehmend zu Spannungen und zu einer Verschlechterung des Arbeitsklimas. Auf Grund dieser beruflichen Situation traten bei dem Kl. psychosomatische Gesundheitsstörungen und hieraus resultierende Arbeitsunfähigkeitszeiten in erheblichem Umfang ein.

Nachdem der Kl. nach dem Ende einer Arbeitsunfähigkeit sich im Hinblick auf die Arbeitsplatzsituation am 8. 5. 1998 arbeitslos meldete und Arbeitslosengeld beantragte, teilte die Bekl. der Humboldt-Universität Berlin mit Schreiben vom 13. 5. 1998 mit, dass eine Anspruchsübergang nach § 143 III SGB III i.V. mit § 115 SGB X erfolgt sei. Die Humboldt-Universität teilte hierauf am 15. 6. 1998 der Bekl. mit, dass das Beschäftigungsverhältnis mit dem Kl. bis zum 8. 5. 1998 fortbestanden habe. Zum 9. 5. 1998 habe er auf die Geltendmachung seines Weiterbeschäftigungsanspruchs bis zum rechtskräftigen Abschluss des arbeitsgerichtlichen Verfahrens verzichtet. Mit rechtskräftigem Urteil wies das Landesarbeitsgericht Berlin die Klage schließlich unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils ab.

Mit Bescheid vom 21. 10. 1998 lehnte die Bekl. die Gewährung von Arbeitslosengeld ab, da der Kl. durch die Nichtinanspruchnahme des Weiterbeschäftigungsanspruches von der naheliegenden Möglichkeit der Beendigung der Beschäftigungslosigkeit keine Gebrauch gemacht habe. Er habe sich dem Direktionsrecht des Arbeitgebers entzogen und damit im Annahmeverzug befunden, ohne hierfür einen wichtigen Grund zu haben.

Hiergegen erhob der Kl. erfolglos Widerspruch. Die Klage hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der angegriffene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kl. in seinen Rechten. Ihm steht ein Anspruch auf Arbeitslosengeld auf seinen Antrag vom 8. 5. 1998 dem Grunde nach zu.

Nach § 117 SGB III haben Anspruch auf Arbeitslosengeld Arbeitnehmer, die arbeitslos sind, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Arbeitslos ist ein Arbeitnehmer, der vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit) und eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung sucht (Beschäftigungssuche) (§ 118 I SGB III). Eine Beschäftigung sucht schließlich, wer alle Möglichkeiten nutzt und nutzen will, um eine Beschäftigungslosigkeit zu beenden und den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung steht (Verfügbarkeit) (§ 119 I SGB III).

Nach diesen Regelungen steht dem Kl. ein Anspruch auf Arbeitslosengeld dem Grunde nach zu.

Dieser Anspruch scheitert insbesondere nicht an einer fehlenden Arbeitslosigkeit i.S.v. §§ 117 I Nr. 1, 118 I Nr. 1 und 119 I Nr. 1 SGB III. Denn nach dem 8. 5. 1998 stand der Kl. vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis und suchte eine Beschäftigung.

Diesbezüglich ist zunächst festzustellen, dass der Kl. nicht verpflichtet war, den mit Urteil des Arbeitsgericht Berlin zuerkannten Weiterbeschäftigungsanspruch durchzusetzen. Im Rahmen des Weiterbeschäftigungsanspruches, der von der Rechtsprechung entwickelt wurde, besteht lediglich eine einseitige Pflicht des Arbeitgebers zur Beschäftigung des Arbeitnehmers. Demgegenüber ist es dem Arbeitnehmer freigestellt, ob er diesen Anspruch wahrnimmt. Denn der Weiterbeschäftigungsanspruch bewirkt lediglich einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des arbeitsgerichtlichen Verfahrens. Er bewirkt nicht einen rechtlichen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses. Dem Arbeitnehmer ist insbesondere deshalb freigestellt, den Weiterbeschäftigungsanspruch durchzusetzen, weil im Falle einer rechtskräftigen Klageablehnung eine Abwicklung nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen vorzunehmen ist. Den Arbeitnehmer trifft damit das Risiko, im Falle des Unterliegens erhaltene Gehaltszahlungen, die über der üblichen Vergütung liegen oder erhaltene Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zurückzuzahlen. Nach diesen Grundsätzen stand es dem Kl. frei, den erstrittenen Weiterbeschäftigungsanspruch durchzusetzen. Entsprechend kann ihm im Rahmen von § 119 I Nr. 1 SGB III nicht vorgehalten werden, nicht alle Möglichkeiten zu nutzen, seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden, wenn er den Weiterbeschäftigungsanspruch nicht durchsetzt. Denn auch im Rahmen von § 119 I Nr. 1 SGB III trifft den Kl. lediglich eine Verpflichtung, alle zumutbaren Möglichkeiten zu nutzen. Der Kl. hat die Möglichkeit genutzt, seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden, indem er von dem Arbeitsgericht Feststellungsklage gegen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erhoben hat. Demgegenüber ist es ihm im Hinblick auf die oben dargelegten Grundsätze nicht zumutbar, eine Verpflichtung zur Durchsetzung des Weiterbeschäftigungsanspruches aufzulegen. Wie bereits dargestellt, handelt es sich hierbei nicht um eine Pflicht, sondern um einen Anspruch des Kl.

Im Übrigen geht die Bekl. in ihrer Annahme fehl, im Rahmen von § 119 I Nr. 1 SGB III käme es nicht auf die Gründe der fehlenden Nutzung einer Möglichkeit an. Wie sich aus § 121 I SGB III ergibt, ist im Rahmen von § 119 I Nr. 1 SGB III darauf abzustellen, dass alle Möglichkeiten genutzt werden, eine zumutbare Beschäftigung zu erlangen. Eine zumutbare Beschäftigung i.S.v. §§ 119, 121 SGB III ist jedoch dann nicht vorhanden, wenn der Kl. auf Kosten seiner Gesundheit arbeitet. Entsprechend der Bescheinigungen des behandelnden Arztes des Kl. vom 26. 2. 1998 und vom 9. 3. 1998 übte der Kl. jedoch eine die Gesundheit beeinträchtigende Beschäftigung aus. Auf Grund der beruflichen Situation stellten sich beim Kl. psychosomatische Erkrankungen ein. Der Kl. litt insbesondere an einem depressiven Syndrom, einer Leistungsinsuffizienz und einer Stenokardie (Angina pectoris). Auf Grund dieser gesundheitlichen Leiden war dem Kl. eine weitere Tätigkeit auf dem ihm zugewiesenen Arbeitsplatz nicht zumutbar. Auch im Hinblick auf die gesundheitlichen Leiden kann damit nicht davon ausgegangen werden, dass der Kl. nicht alle Möglichkeiten nutzte, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden.

Unterstellt, der Kl. haben nicht alle Möglichkeiten genutzt, eine Beschäftigungslosigkeit zu beenden, so wäre er zudem auf die Verpflichtung nach § 119 I Nr. 1 SGB III ausdrücklich von der Bekl. hinzuweisen gewesen (§ 119 V 1 SGB III). Dass ein solcher Hinweis seitens der Bekl. rechtzeitig erfolgte, ist nicht ersichtlich. Erstmalig mit dem Bescheid vom 21. 10. 1998 teilte die Bekl. dem Kl. seine Verpflichtung nach § 119 I Nr. 1 SGB III mit. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch bereits rechtskräftig durch das Urteil des Landesarbeitsgerichts festgestellt, dass ein Arbeitsverhältnis nicht mehr besteht. Ein Hinweis der Bekl. nach § 119 V 1 SGB III musste damit hinsichtlich des streitigen Beschäftigungsverhältnisses ins Leere gehen.

Würde der Ansicht der Bekl. gefolgt, der Kl. habe nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Verhinderung des Eintritts bzw. Fortbestehens einer Beschäftigungslosigkeit genutzt, so wäre dieser Sachverhalt zudem nach § 144 SGB III zu beurteilen. Es könnte nicht auf die Möglichkeit eine Beschäftigungslosigkeit zu beenden i.S.v. § 119 I Nr. 1 SGB III abgestellt werden, sondern der Tatbestand wäre nach § 114 I Nr. 1 SGB III als lex spezialis zu beurteilen. Denn nach Ansicht der Bekl. stand der Kl. zum maßgeblichen Zeitpunkt in einem Beschäftigungsverhältnis und nutzte nicht alle Möglichkeiten, dieses zu erhalten. Unterstellt, diese Einschätzung wäre zutreffend, so wäre dem Kl. gegebenenfalls arbeitsvertragswidriges Verhalten durch Fernbleiben von der Arbeit vorzuwerden, was zur Lösung des Beschäftigungsverhältnisses führte. Im Rahmen von § 144 SGB III hätte der Kl. jedoch die Möglichkeit, sein Verhalten zu rechtfertigen, indem er einen wichtigen Grund hierfür nachweist. Diese Rechtfertigungsmöglichkeit kann dem Kl. nicht entzogen werden, indem man eine fehlende Arbeitsbereitschaft als Nichtnutzung aller Möglichkeiten, die Beschäftigungslosigkeit zu beenden i.S.v. § 119 I Nr. 1 SGB III definiert. Würde § 119 I Nr. 1 SGB III so ausgelegt, würde der Regelungsbereich des § 144 SGB III ausgehöhlt und dem Versicherten der Schutz durch die Exkulpationsmöglichkeit nach § 144 I SGB III entzogen.

Rechtsgebiete

Sozialrecht