Sozialauswahl bei mehreren Betriebsteilen
Gericht
LAG Sachsen-Anhalt
Art der Entscheidung
Berufungsurteil
Datum
11. 01. 2000
Aktenzeichen
8 Sa 449/99
Betriebsteile, die wegen ihrer räumlich weiten Entfernung vom Hauptbetrieb nach § 4 S. 1 Nr. 1 BetrVG als selbständige Betriebe gelten und für die ein eigener Betriebsrat besteht, bilden im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes einen einheitlichen Betrieb mit dem Hauptbetrieb, wenn dort sämtliche Leitungsbefugnisse in personeller und sozialer Hinsicht liegen. In diesem Fall ist die Sozialauswahl auf die Arbeitnehmer beider Betriebsstätten zu erstrecken.
Zur Reichweite einer Versetzungsklausel.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung und die Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsstreits. Die Bekl. betreibt ein Bewachungsunternehmen und unterhält eine Niederlassung in G. Außerdem führt sie unter anderem in dem 80 km entfernt gelegenen Objekt Asylbewerberheim A. die Bewachung durch. Die personelle und organisatorische Leitung für beide Standorte hat ihren Sitz in der Niederlassung G. An beiden Standorten sind jeweils Betriebsräte errichtet worden. Der Kl. war seit dem 1. 7. 1992 auf Grund des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 29. 6. 1992 als „Separat-Wachmann im Objekt Asylbewerberheim A“ bei der Bekl. beschäftigt. In Nr. 1 S. 2 des Arbeitsvertrags heißt es:
Nr. 1 ... Versetzungen in ein anderes Objekt oder auf einen anderen Dienstposten richten sich im Rahmen des Zumutbaren nach den betrieblichen Erfordernissen.
Mit Wirkung zum 31. 12. 1998 wurde der Bewachungsvertrag für das Objekt Asylbewerberheim A. gegenüber der Bekl. gekündigt. Diese entschloss sich zur Kündigung der in A. beschäftigten Arbeitnehmer. Der hierzu angehörte Betriebsrat widersprach mit Schreiben vom 13. 11. 1998. Mit Schreiben vom 16. 11. 1998, dem Kl. am 17. 11. 1998 zugegangen, kündigte die Bekl. das Arbeitsverhältnis zum 31. 12. 1998. Mit seiner am 4. 12. 1998 beim ArbG eingegangenen Klage hat der Kl. insbesondere geltend gemacht, dass die Bekl. über den Standort A. hinaus eine soziale Auswahl auch unter den Arbeitnehmern am Standort G. hätte durchführen müssen.
Das ArbG hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Bekl. hatte Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
Entgegen der Auffassung des ArbG hat die Kündigung der Bekl. vom 17. 11. 1998 das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien mit dem 31. 12. 1998 beendet. Auch ein Anspruch auf Weiterbeschäftigung besteht demgemäß nicht. Das Urteil des ArbG war daher abzuändern und die Klage abzuweisen.
1. Die Kündigung der Bekl. vom 16. 11. 1998 ist wirksam.
a) Die Kündigung ist sozial gerechtfertigt und deshalb nicht gem. § 1 KSchG unwirksam.
aa) Die Kündigung ist nach § 1 II KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, die einer Weiterbeschäftigung des Kl. entgegenstehen. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Bekl. den Standort A. schließen musste, weil ihr der Auftrag gekündigt worden ist. Damit steht fest, dass die entsprechende Beschäftigungsmöglichkeit für die Wachleute in A. entfallen und ein Personalüberhang entstanden ist. Da eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit auf freien Arbeitsplätzen nicht ersichtlich ist, liegt ein dauerhafter Personalüberhang vor, der wegen der Kostenbelastung des Arbeitgebers und des Austauschcharakters des Arbeitsverhältnisses nach ständiger Rechtsprechung des BAG als dringendes betriebliches Erfordernis eine Kündigung bedingt.
bb) Die Kündigung ist auch nicht wegen fehlerhafter Sozialauswahl unwirksam (§ 1 III KSchG). Entgegen der Auffassung des Kl. und des ArbG waren bei der Kündigung des Kl. die Wachleute der Niederlassung der Bekl. in G. nicht in die Sozialauswahl mit einzubeziehen. Zwar bildete die Niederlassung G. zusammen mit dem Standort A. einen einheitlichen Betrieb. Die Einbeziehung der Wachleute in G. in die soziale Auswahl scheitert aber daran, dass der Kl. nach seinem Arbeitsvertrag nicht zur Übernahme ihrer Tätigkeit verpflichtet und deshalb mit ihnen nicht vergleichbar war.
(1) Die soziale Auswahl erstreckt sich nach allgemeiner Meinung auf den Betrieb. Einzubeziehen sind alle vergleichbaren Arbeitnehmer des Beschäftigungsbetriebs ohne Rücksicht auf die Größe des Betriebs und darauf, ob die Arbeitsplätze räumlich nah beieinander liegen. Arbeitnehmer anderer Betriebe eines Unternehmens oder Konzerns sind nicht einzubeziehen, es sei denn, dass sie um freie Arbeitsplätze in einem dieser Betriebe konkurrieren, was hier nicht der Fall ist (vgl. BAG, AP Nr. 16 zu § 1 BetrVG1972; Etzel, in: KR, 5. Aufl., § 1 KSchG Rdnrn. 625ff., 630). Grundsätzlich ist der Betrieb im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes identisch mit dem Betrieb im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes. Abweichend vom Betriebsverfassungsgesetz ist für den Betriebsbegriff i.S. des § 23 KSchG jedoch entscheidend die organisatorische Einheit, mit der der Unternehmer allein oder in Gemeinschaft mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe von sachlichen oder immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke verfolgt. Maßgeblich für die Bestimmung der organisatorischen Einheit ist insbesondere die einheitliche Leitung. Besteht eine solche einheitliche Leitung, kommt es für den Betrieb im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes nicht mehr darauf an, ob die Betriebsteile räumlich nahe beieinander oder weit entfernt liegen. Soweit im Falle der räumlich weiten Entfernung vom Hauptbetrieb ein Betriebsteil gem. § 4 S. 1 Nr. 1 BetrVG als selbständiger Betrieb gilt, ist dies für den Betrieb im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes unmaßgeblich.
Danach bildeten die Betriebsstätten in A. und G. einen einheitlichen Betrieb im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes, auch wenn ihr Betriebszweck parallel ausgerichtet war und nicht der eine Teil dem anderen Teil zuarbeitete. Denn die einheitlich organisatorische Leitung lag in jeder Hinsicht bei der Niederlassung in G. Am Standort A. stand den Wachleuten lediglich ein Vorarbeiter vor.
(2) Nach ständiger Rechtsprechung des BAG bestimmt sich der Kreis der in die Sozialauswahl einzubeziehenden vergleichbaren Arbeitnehmer in erster Linie nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, also zunächst nach der ausgeübten Tätigkeit. Es ist daher zu prüfen, ob der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsplatz weggefallen ist, die Funktion der anderen Arbeitnehmer wahrnehmen kann. Der Vergleich der Arbeitnehmer vollzieht sich hierbei nur auf derselben Ebene der Betriebshierarchie und setzt voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer einseitig auf den anderen Arbeitsplatz versetzen kann. Zur Bestimmung der Vergleichbarkeit ist damit auf die Grundsätze zur Abgrenzung zwischen Direktionsrecht und Änderungskündigung zurückzugreifen (BAG, AP Nr. 16 zu § 1 BetrVG1972 [II 3b, bb] m.w.Nachw.).
Die Bekl. konnte dem Kl. nicht dauerhaft eine Wachdiensttätigkeit in ihrem Standort G. zuweisen. Eine solche Weisung wäre von ihrem durch Versetzungsklausel erweiterten Direktionsrecht nicht mehr gedeckt gewesen.Gem. Nr. 1 S. 2 des Arbeitsvertrags war die Bekl. berechtigt, den Kl. „im Rahmen des Zumutbaren nach den betrieblichen Erfordernissen“ in ein anderes Objekt oder auf einen anderen Dienstposten zu versetzen. Maßgeblich für die Reichweite des Direktionsrechts ist, ob die Bekl. nach dieser Vereinbarung berechtigt war, den Kl. einseitig, notfalls auch gegen seinen Willen, nach G. zu versetzen. Denn nur in diesem Fall wäre der Kl. mit den Wachleuten in G. ohne Änderung seines Arbeitsvertrags vergleichbar. Es kommt daher entgegen der Auffassung des ArbG nicht auf das Einverständnis des Kl. mit einer Versetzung im konkreten Fall an. Die Versetzungsklausel ist auch nicht, wie das ArbG annimmt, dahin zu verstehen, dass sie die vertraglich geschuldete Tätigkeit auf alle denkbaren Tätigkeiten an allen denkbaren Orten erstreckt und dem Arbeitnehmer lediglich bei unzumutbarer Tätigkeit ein Leistungsverweigerungsrecht einräumt. Vielmehr ist das Versetzungsrecht des Arbeitgebers von vornherein darauf beschränkt, was dem Arbeitnehmer zumutbar ist. Allenfalls könnte umgekehrt in Frage gestellt werden, ob die betrieblichen Erfordernisse, nach denen sich Versetzungen in ein anderes Objekt richten sollen, nicht allein vom Arbeitgeber zu definieren sind. Anhaltspunkte dafür, dass eine Versetzung des Kl. nach G. aus Sicht der Bekl. erforderlich wäre, bestehen nicht.
Die Zuweisung dauerhafter Wachdiensttätigkeit in der Niederlassung in G. würde die Grenze des Zumutbaren sprengen. Als Wachmann hat der Kl. regelmäßig wöchentliche Dienste von 60 Stunden zu absolvieren. Hinzu kämen nach unstreitigem Vorbringen der Parteien zumindest täglich drei Stunden (Pkw) bzw. vier Stunden (öffentliche Verkehrsmittel) Fahrzeit. Dem Kl. verbliebe eine tägliche Freizeit von acht bis neun Stunden maximal, die ihm für seine privaten Bedürfnisse wie Schlafen, Essen und Sonstiges zur Verfügung stünde. Bei einem Bruttostundenlohn von 8,91 DM erreichen auch die anfallenden Fahrtkosten eine unzumutbare Höhe. Soweit der Kl. geltend macht, auch in der Vergangenheit mehrfach an anderen Standorten eingesetzt worden zu sein, handelte es sich, wie er in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem BerGer. unstreitig stellte, nur um kurzfristige Einsätze von wenigen Tagen. Schließlich ist auch ein Umzug für den Kl. nicht zumutbar gewesen, zumal auch in der Niederlassung in G. eine dauerhafte Weiterbeschäftigung keineswegs gesichert war (im Verlaufe des Rechtsstreits wurde auch sie geschlossen). Hätte die Bekl. den Kl. verpflichten wollen, an jedwedem Einsatzort bei betrieblichen Erfordernissen dauerhaft tätig zu sein, hätte sie eine deutlich weitergehende Versetzungsklausel vereinbaren müssen.
b) Die Anhörung des Betriebsobmanns ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Bekl. hat vorgetragen, dass sie den Betriebsobmann mündlich über die beabsichtigten Kündigungen angehört habe und ihm insbesondere die Kündigung des Bewachungsauftrags und die daraus folgende Schließung des Standorts mitgeteilt habe. Die Tatsache der mündlichen Anhörung des Betriebsratsvorsitzenden ist zwischen den Parteien unstreitig, zumal die schriftliche Stellungnahme des Betriebsrats vom 13. 11. 1998 vorliegt. Entgegen der Auffassung des Kl. war die Bekl. nicht gehalten, dem Kl. die Sozialdaten sämtlicher vergleichbarer Arbeitnehmer mitzuteilen. Denn sie beabsichtigte, alle am Standort A. beschäftigten Arbeitnehmer zu entlassen und eine Sozialauswahl nicht durchzuführen. Auf die Sozialdaten der Arbeitnehmer kam es daher nicht an. Die Rüge des Betriebsrats, nicht schriftlich informiert worden zu sein, ist unerheblich. Hierzu ist der Arbeitgeber nach der maßgeblichen Vorschrift des § 102 BetrVG nicht verpflichtet.
2. Der Kl. kann keine Weiterbeschäftigung verlangen. Die Kündigung ist, wie dargelegt, wirksam. Bis zur Rechtskraft dieser Entscheidung kann der Kl. auch nach dem so genannten allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch keine Weiterbeschäftigung verlangen. Hierzu bedürfte es nach dem Beschluss des Großen Senats vom 27. 2. 1985 (AP Nr. 14 zu § 611 BGB) besonderer Gründe, die der Kl. nicht dargetan hat. Ein Weiterbeschäftigungsanspruch aus § 102 V BetrVG steht dem Kl. nicht zu. Der Betriebsrat hat einen wirksamen Widerspruch im Sinne der Vorschrift nicht erhoben, insbesondere mit der Anführung von „Formfehlern“ nicht auf einen der Widerspruchsgründe des §102 III BetrVG Bezug genommen.
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