Arbeitsvertragliche Inbezugnahme von Tarifverträgen - Auslegung einer Verweisungsklausel

Gericht

BAG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

18. 06. 1997


Aktenzeichen

4 AZR 699/95


Leitsatz des Gerichts

Sind im Arbeitsvertrag die bei der Arbeitgeberin für eine Gruppe von Arbeitnehmern jeweils gültigen Tarifverträge in Bezug genommen, so gelten für die Zeit einer von einer konzernbezogenen Versetzungsklausel gedeckten "Abstellung" zu einer anderen Konzerngesellschaft auch die - schlechteren - Bedingungen eines von der Arbeitgeberin und der Konzerngesellschaft mit einer Gewerkschaft über den Einsatz von Angehörigen dieser Arbeitnehmergruppe bei der Konzerngesellschaft abgeschlossenen Tarifvertrages.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien streiten darum, ob für die Zeit der Abstellung des Kl. an die L-GmbH vom 25. 8. 1993 bis 31. 3. 1997 ausschließlich der Manteltarifvertrag Nr. 4 für das Cockpitpersonal (im folgenden: MTV Nr. 4) maßgeblich war oder darüber hinaus auch der "Tarifvertrag für den Einsatz von Cockpitpersonal der D bei der LCA" vom 27. 5. 1993 (im folgenden: Frachtertarifvertrag) in seiner jeweiligen Fassung Anwendung fand. Der MTV Nr. 4 vom 1. 12. 1992 wurde zwischen der Arbeitsrechtlichen Vereinigung Hamburg e.V. (AVH) einerseits und der DAG und der ÖTV andererseits abgeschlossen. Die Bekl. ist Mitglied der AVH, der Kl. ist nicht Mitglied einer Gewerkschaft. Der Frachtertarifvertrag vom 27. 5. 1993 ist ursprünglich abgeschlossen worden zwischen der AVH sowie der L-GmbH (LCA) auf der einen Seite und der DAG auf der anderen Seite. Der Kl. war ab dem 16. 12. 1978 bei der Bekl. als Flugingenieur im Liniendienst tätig und auf dem Flugzeugmuster B 727 eingesetzt. Im Arbeitsvertrag vom 13. 12. 1978 heißt es u.a.:

"4. Die Rechte und Pflichten des Mitarbeiters ergeben sich aus den jeweils gültigen Tarifverträgen für das Bordpersonal, den Betriebsvereinbarungen und Dienstvorschriften der DLH.

5. DLH ist berechtigt, den Mitarbeiter an einem anderen als unter Ziffer 2 genannten Ort und/oder bei einer anderen Konzerngesellschaft zu beschäftigen."

Im Zusammenhang mit der Ausmusterung dieses Flugzeugtyps trafen die Bekl. und die Gruppenvertretung der Flugingenieure am 3. 11. 1992 eine Vereinbarung über einen Interessenausgleich, nach der den Flugingenieuren, die von den Konsequenzen der Ausmusterung betroffen waren, eine Schulung zum Cruise-Relief-Pilot angeboten werden sollte. Unter Ziff. 2 der Vereinbarung heißt es u.a.:

2. Schulung zum Cruise-Pilot. Flugingenieuren der Jahrgänge 1948 und jünger wird die Schulung zum Cruise-Pilot gemäß der Sonderregelung für Schnellstreckenflüge im Rahmen des MTV 4 Bord angeboten werden.

Flugingenieure, die bereits eine Umschulung zum Flugzeugführer bei DLH/CFG ohne erfolgreichen Abschluß begonnen haben, finden hierbei keine Berücksichtigung.

DLH behält sich vor, ggf. auch Flugingenieuren älterer Jahrgänge das Angebot zur Schulung zum Cruise-Pilot zu machen.

3. Umbesetzung auf B 747-200. Flugingenieure, die die Bedingungen der Ziffer 2 nicht erfüllen, werden auf B 747-200 umbesetzt.

Die Bekl. bot dem Kl. mit Schreiben vom 6. 1. 1993 eine Umschulung zum Cruise-Relief-Copilot an. Dem Schreiben war ein "Umschulungsangebot" beigefügt, in dem es unter Ziff. 3 heißt: "Bei Abbruch der Ausbildung erfolgt eine Rückkehr auf ein FE-Muster. Sollte nach Abbruch der Umschulung ein Einsatz auf dem bisherigen Flugzeugmuster aus betrieblichen Gründen nicht möglich sein, wird das zukünftige Flugzeugmuster unter Wahrung der tariflichen Mitbestimmung der Personalvertretung bestimmt." Der Kl. nahm dieses Umschulungsangebot mit Schreiben vom 8. 1. 1993 an, brach die Ausbildung jedoch am 24. 5. 1993 ab. Da ein Einsatz des Kl. auf dem bisherigen Flugzeugmuster aufgrund der Ausmusterung nicht möglich war, wurde für ihn unter Wahrung der tariflichen Mitbestimmung der Personalvertretung das Muster DC 8 als zukünftiges Flugzeugmuster bestimmt. Dieser Flugzeugtyp kommt bei der Bekl. nicht zum Einsatz, jedoch bei der LCA. Mit Schreiben vom 23. 7. 1993 teilte die Bekl. dem Kl. mit, daß er für die Zeit ab dem 25. 8. 1993 "im Rahmen des Interessenausgleichs Flugingenieure von FRA NC/FE zu FRA ZL 38 (LCA) abgestellt" werde. In dem Schreiben heißt es weiter: "Es gelten die Bedingungen des Frachtertarifvertrages. Diese Abstellung wird aufgrund Ihrer Umschulung auf DC 8-73 F erforderlich. Ihr zuständiger Personaldienst ist weiterhin FRA PN 3."

Der Kl. trat die Ausbildung an. Mit Schreiben vom 4. 9. 1993 bat er die Bekl. um Übersendung des Frachtertarifvertrages und erklärte, angesichts einer noch nicht ausgesprochenen Änderungskündigung habe er "die Abstellung nur unter dem Vorbehalt einer gerichtlichen Klärung angetreten ...". Auf eine weitere Aufforderung des Kl. vom 27. 9. 1993 erwiderte die Bekl. mit Schreiben vom 12. 10. 1993, der MTV Nr. 4 gelte nur insoweit, als er nicht durch den Frachtertarifvertrag Einschränkungen erfahre. In dem Schreiben heißt es darüber hinaus u.a.: "Protokollnotizen über den Einsatz bei GCS enthält der MTV 4 nicht mehr; der bisherige Tarifvertrag zum Einsatz von Flugingenieuren bei GCS wird durch den Frachtertarifvertrag abgelöst bzw. ersetzt. Durch den Einsatz bei LCA bleibt der Bestand Ihres Arbeitsverhältnisses mit der D-AG unberührt, es handelt sich lediglich um eine tarifvertraglich vorgesehene Einsatzmöglichkeit im Rahmen der Fracht-Operation innerhalb des L-Konzerns."

Die Protokollnotiz Nr. 20 zu MTV Nr. 4 vom 8. 12. 1992 lautet: "Im Rahmen von Abstellungen zu anderen Unternehmen kann im Einvernehmen mit dem betroffenen Cockpitmitarbeiter im Arbeitsvertrag von Regelungen dieses Tarifvertrages abgewichen werden."

Die Bekl. bestätigte dem Kl. den erfolgreichen Abschluß der Umschulung auf DC 8-73 F mit Schreiben vom 24. 11. 1993 und teilte ihm zugleich mit, daß er ab dem 19. 11. 1993 bei der LCA als Flugingenieur eingesetzt werde, was auch geschah. Mit Schreiben vom 25. 4. 1994 wiederholte sie diese Bestätigung und erklärte, daß der Kl. ab dem 19. 11. 1993 vorübergehend ausschließlich bei der LCA als Flugingenieur auf DC 8-73 F eingesetzt werde.

In der mündlichen Verhandlung vor dem LAG vom 5. 7. 1995 erklärte der Kl. zu Protokoll, es bestehe kein Streit über den Einsatz bei der LCA, sondern nur darum, welche Bedingungen für den Einsatz gelten. Der Kl. hat die Ansicht vertreten, angesichts der sich für ihn aus dem Frachtertarifvertrag ergebenden Verschlechterungen hätte die Bekl. diesen nicht ohne eine Änderungskündigung anwenden dürfen. Schon wegen seiner ordentlichen Unkündbarkeit sei eine solche Änderung seiner Arbeitsbedingungen nicht mehr möglich. Ohne sein Einverständnis habe eine Änderung auch deshalb nicht erfolgen dürfen, weil nach Ziff. 20 der Protokollnotiz zu MTV Nr. 4 von Regelungen dieses Tarifvertrages bei Abstellungen zu anderen Unternehmen nur im Einvernehmen mit dem Cockpitmitarbeiter abgewichen werden könne. Ein Einvernehmen liege aber gerade nicht vor. Der Frachtertarifvertrag gewähre ihm vier arbeitsfreie Tage nicht, Nachteile entstünden ihm auch wegen anderer Arbeitszeitberechnung. Außerdem sei er nicht mehr zur Mitarbeitervertretung bei der Bekl. wählbar.

Der Kl. hat sinngemäß beantragt festzustellen, daß auf das Arbeitsverhältnis des Kl. auch für die Zeit seiner Abstellung an die L-GmbH ab 25. 8. 1993 ausschließlich der MTV Nr. 4 Anwendung findet.

Das ArbG hat der Sache nach der Klage stattgegeben. Das LAG hat das Urteil des ArbG abgeändert und die Klage abgewiesen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Bekl. den Tarifvertrag über den Einsatz von Cockpitpersonal der DLH bei LCA vom 27. 5. 1993, den Tarifvertrag Nr. 2 über den Einsatz von Cockpitpersonal der DLH bei LCA vom 14. 10. 1993 sowie den Tarifvertrag Nr. 3 über den Einsatz von Cockpitpersonal der DLH bei LCA vom 22. 10. 1994 zwischen der AVH sowie der LCA und der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr - Hauptvorstand - (ÖTV) vorgelegt mit dem vom Kl. unbestritten gebliebenen Bemerken, die ÖTV habe - gestern - den Frachtertarifvertrag mit unterzeichnet. Die Revision des Kl. blieb erfolglos.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II. Das LAG ist zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, daß aufgrund der Verweisungsklausel in Ziff. 4 des Arbeitsvertrages auf das Arbeitsverhältnis der Parteien "nicht ausschließlich der MTV Nr. 4 Anwendung ... findet ..., sondern für die Zeit der Tätigkeit des Kl. bei der LCA auch der Frachtertarifvertrag, der die Bestimmungen des MTV Nr. 4 teilweise ersetzt und ergänzt".

Bei der Verweisungsklausel im Arbeitsvertrag vom 13. 12. 1978 handelt es sich um eine typische Vertragsklausel, die Gegenstand eines vorformulierten Arbeitsvertrages ist. Diese kann vom RevGer. selbständig und unbeschränkt ausgelegt werden (BAG in st. Rspr., z.B. NZA 1992, 793 = AP Nr. 1 zu § 19 BErzGG, m. w. Nachw.).

1. Nach der Verweisungsklausel sind die jeweiligen Tarifverträge für das Bordpersonal, die Betriebsvereinbarungen und die Dienstvorschriften der "D-Aktiengesellschaft, ..., im folgenden DLH genannt" (vgl. Einleitung Arbeitsvertrag vom 13. 12. 1978) in Bezug genommen, nicht aber die von anderen Gesellschaften wie die der LCA.

Der "Frachtertarifvertrag", also der Tarifvertrag über den Einsatz von Cockpitpersonal der DLH bei LCA vom 27. 5. 1993, gültig ab demselben Tag, ist auch ein Tarifvertrag für das Bordpersonal i.S. der Ziff. 4 des Arbeitsvertrages. Denn dieser Tarifvertrag ist nicht nur von der LCA mit der DAG, sondern auch von der Arbeitsrechtlichen Vereinigung Hamburg e.V. (AVH) abgeschlossen worden, deren Mitglied die Bekl. ist.

Damit ist der Frachtertarifvertrag von der Verweisungsklausel erfaßt.

Der Arbeitsvertrag steht diesem Ergebnis nicht deswegen entgegen, weil das Recht der Bekl., den Kl. bei einer anderen Konzerngesellschaft zu beschäftigen, erst in Ziff. 5 angesprochen ist, während die Verweisung auf die jeweils gültigen Tarifverträge für das Bordpersonal sich vorher in Ziff. 4 des Arbeitsvertrages befindet und über die Arbeitsbedingungen bei einer "Abstellung" nichts gesagt ist. Denn gibt es Tarifverträge für das Bordpersonal auch für den Fall der Abstellung, so sind diese in Bezug genommen, auch wenn sie gegenüber den Tarifverträgen, die während der tatsächlichen Tätigkeit bei der Bekl. selbst gelten, schlechtere Arbeitsbedingungen enthalten.

Auf die Protokollnotiz Nr. 20 des Manteltarifvertrages Nr. 4 für das Cockpitpersonal, gültig ab 1. 12. 1992, kann sich der Kl. mit Erfolg nicht berufen.

Es handelt sich um eine tarifliche Öffnung für andere - auch verschlechternde - arbeitsvertragliche Abmachungen. Das heißt also zunächst, tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien, also auf Arbeitnehmerseite Mitglieder der Gewerkschaft ÖTV, können auf die Mindestniveaugarantie des Manteltarifvertrages Nr. 4 verzichten, "im Einvernehmen", also sich auf abweichende, auf schlechtere Arbeitsbedingungen verständigen. Ein solcher Verzicht der Mitglieder der Gewerkschaft ÖTV ist nicht mehr erforderlich, nachdem die ÖTV den Frachtertarifvertrag auch unterzeichnet hat. Dabei kann offenbleiben, ob die ÖTV den Frachtertarifvertrag rückwirkend abgeschlossen hat.

Bezogen auf einen Arbeitnehmer, wie den Kl., für den der Manteltarifvertrag Nr. 4 "nur" kraft arbeitsvertraglicher Verweisung gilt, stellt sich die Situation ohnehin anders dar: Grundsätzlich gilt zwar der Manteltarifvertrag Nr. 4. Da es aber den Frachtertarifvertrag gibt, der für die Bekl. kraft Tarifbindung "gültig" ist, ist auch dieser im Hinblick auf die Verweisungsklausel in Bezug genommen und gilt für den Kl. für die Zeit seiner "Abstellung" zur LCA. Es gilt für den Kl. nichts anderes, als wäre er Mitglied der DAG: Mitglieder der DAG unterliegen kraft Tarifbindung dem - schlechteren - Frachtertarifvertrag, der als der speziellere dem Manteltarifvertrag Nr. 4 vorgeht.

Sonach gilt für den Kl. für die Zeit seiner "Abstellung" zur LCA auch der Frachtertarifvertrag.

2. Dem steht Ziff. 5 des Arbeitsvertrages nicht entgegen.

Es handelt sich um eine der üblichen konzernbezogenen Versetzungsklauseln, die rechtlichen Bedenken im allgemeinen nicht begegnen. Auch für den vorliegenden Fall ist insoweit nichts ersichtlich. Im übrigen war der Kl. mit der Dienstleistung bei LCA einverstanden. Er will lediglich die Behandlung allein nach dem MTV Nr. 4. In Anbetracht der Verweisungsklausel kann der Kl. nicht auf der einen Seite mit seinem Einsatz bei LCA einverstanden sein und auf der anderen Seite mit Erfolg nur den MTV Nr. 4 für sich beanspruchen.

3. Auch der Hinweis des Kl. auf Arbeitnehmerüberlassung vermag nicht zur alleinigen Anwendung des MTV Nr. 4 für die Zeit der "Abstellung" des Kl. an die LCA führen. Läge bei der "Abstellung" an die LCA eine unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung i.S. des AÜG vor, wofür hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte nicht vorgetragen und nicht ersichtlich sind, wären die Rechtsfolgen des § 10 AÜG ausgelöst und die Klage schon deswegen abzuweisen, weil der Kl. nicht mehr Arbeitnehmer der Bekl., sondern der LCA wäre.

Vorinstanzen

LAG Köln, 8 Sa 409/95, 05.07.1995

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht