Gesetzlicher Zinsanspruch - Bruttoentgeltforderung

Gericht

BAG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

11. 08. 1998


Aktenzeichen

9 AZR 122/95


Leitsatz des Gerichts

  1. Der 9. Senat möchte die Auffassung vertreten, daß der Arbeitnehmer als Gläubiger der Entgeltforderung die gesetzlichen Verzugs- und Prozeßzinsen im Sinne von §§ 288, 291 BGB vom Bruttobetrag der Forderung beanspruchen kann. Er weicht damit von der Rechtsprechung des 4. Senats ab (z.B. in den Urteilen BAGE 42, 244, 258 = AP Nr. 2 zu § 21 TVALII; BAG, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse). Er weicht damit auch von der Rechtsprechung des 2., 5. und 10. Senats ab, die sich dem 4. Senat angeschlossen haben (Urt. v. 19. 9. 1991 - 2 AZR 619/90; Urt. v. 29. 5. 1991 - 5 AZR 288/90; Urt. v. 2. 12. 1992 - 10 AZR 261/91, alle unveröff.).

  2. Der 9. Senat fragt nach § 45 III 1 ArbGG an, ob der 2., der 4., der 5. und der 10. Senat an ihrer Rechtsauffassung festhalten.

Tatbestand

Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. war vom 1. 10. 1987 bis zum 31. 12. 1989 bei der Bekl. als Reisevertreter angestellt. Anfang Oktober 1989 forderte er die Bekl. schriftlich auf, bis zum 15. 10. 1989 restliche Provisionen und eine Sonderzuwendung für 1988 zu zahlen. Seine auf Zahlung von 45095,92 DM brutto nebst 4% Zinsen seit dem 16. 10. 1989 gerichtete Klage hatte teilweise Erfolg. Das LAG hat die Bekl. verurteilt, an den Kl. 4586,72 DM brutto, 11841,98 DM brutto und 5538,43 DM brutto nebst 4% Zinsen aus dem sich jeweils ergebenden Nettobetrag seit 16. 10. 1989 zu zahlen und im übrigen die Klage abgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Auf die Beschwerde des Kl. hat der 9. Senat die Revision durch Beschluß (BAGE 78, 373 = NZA 1995, 445 = NJW 1995, 1573) insoweit zugelassen, als das LAG den vom Kl. geltend gemachten Zinsanspruch vom Bruttobetrag unter Ermäßigung auf den sich aus dem Bruttobetrag ergebenden Nettobetrag abgewiesen hat. Der Kl. hat die zugelassene Revision eingelegt. Der Kl. beantragt nunmehr, die Bekl. zu verurteilen, 4% Zinsen aus 21966,93 DM brutto seit dem 16. 10. 1989, abzüglich zuerkannter 4% Zinsen aus dem sich aus 21966,93 DM brutto ergebenden Nettobetrag seit dem 16. 10. 1989 zu zahlen.

Der Senat hat wie aus Leitsatz 2 ersichtlich bei den anderen Senaten angefragt.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der 9. Senat möchte der Revision des Kl. stattgegeben.

I. Der Senat ist der Auffassung, daß der Kl. die gesetzlichen Verzugszinsen nach § 288 I 1 BGB aus dem zuerkannten Bruttobetrag beanspruchen kann; der Zinsanspruch des Gläubigers einer Bruttoforderung ist nicht auf den Nettobetrag zu mindern, der sich nach Abzug von Abgaben und Beiträgen ergibt (ebenso z.B. LAG München, NZA 1990, 66; LAG Hamburg, LAGE Nr. 1 zu § 288 BGB; LAG Nürnberg, LAGE Nr. 2 zu § 288 BGB = BB 1995, 206; LAG Schleswig-Holstein, LAGE Nr. 3 zu § 288 BGB = AiB 1996, 505; LAG Köln, LAGE Nr. 9 zu § 11 ArbGG 1979; LAG Köln, Urt. v. 1. 8. 1996 - 10 Sa 13/96 unveröff.; im Schrifttum z.B. Dörner, in: GK-ArbGG, § 46 Rdnr. 44; Hauck, ArbGG, § 46 Rdnr. 23; Lepke, AR-Blattei SD Zinsen, Rdnrn. 25ff.; Thode, in: MünchKomm, 3. Aufl., § 288 Rdnr. 4; Palandt/Heinrichs, BGB, 57. Aufl., § 288 BGB Rdnr. 1; Schaub, ArbeitsR-Hdb., 8. Aufl., § 71 I 4c; Soergel/Wiedemann, BGB, 12. Aufl., § 288 Rdnr. 12; Staudinger/Löwisch, BGB, 12. Aufl., § 288 Rdnr. 4; a.A. z.B. Germelmann, in: Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 2. Aufl., § 46 Rdnr. 44 mit unzutreffender Verweisung auf Lepke; Ide, DB 1968, 803; Jauernig/Vollkommer, BGB, 7. Aufl., § 291 Anm. 3; Kania, Nichtarbeitsrechtliche Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, S. 83f.).

In dieser Rechtsfrage weicht der Senat von der Rechtsprechung anderer Senate des BAG ab. Nach der Rechtsprechung des 4. Senats (BAGE 42, 244 [255]; BAG, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse) ist Arbeitsentgelt während des Verzugs und vom Eintritt der Rechtshändigkeit an nach §§ 288 I 1, 291 BGB nur nach dem aus dem Bruttoentgelt für den Arbeitnehmer zu errechnenden Nettobetrag zu verzinsen. Dem haben sich der 2., der 5. und der 10. Senat angeschlossen (Urt. v. 19. 9. 1991 - 2 AZR 619/90; Urt. v. 29. 5. 1991 - 5 AZR 288/90; Urt. v. 2. 12. 1992 - 10 AZR 261/91; anders ohne ausdrückliche Aufgabe dieser Auffassung Urt. v. 20. 10. 1993 - 5 AZR 674/92, alle unveröff.).

Die Rechtsfrage ist klärungsfähig und klärungsbedürftig. Sie ist sowohl für die angeführten Entscheidungen als auch für das anstehende Revisionsurteil tragend. Es ist daher das Verfahren nach § 45 ArbGG einzuleiten.

II. Für die Auffassung des Senats sind folgende Erwägungen ausschlaggebend:

1. In § 288 I 1 BGB ist bestimmt, daß jede Geldschuld während des Verzugs des Schuldners mit 4% für das Jahr zu verzinsen ist. Dieser Zinsanspruch ist ein gesetzlich bestimmter, pauschalierter Schadensersatzanspruch. Er ist akzessorisch zum geschuldeten Entgeltanspruch. Ist der Arbeitgeber mit der Zahlung des Arbeitsentgelts in Verzug, schuldet er dem Arbeitnehmer die Zinsen aus dem geschuldeten Bruttoentgelt (so auch BAG, AP Nr. 20 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte; BAGE 33, 140 [146, 148]).

a) Die Verpflichtung des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer das Bruttoentgelt zu zahlen, wird durch Abführungspflichten des Arbeitgebers nicht gemindert. Der Schuldnerverzug des Arbeitgebers umfaßt die einzubehaltenden und abzuführenden Entgeltbestandteile.

Schuldner der Lohnsteuer ist zwar nach § 38 II 1 EStG der Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber ist aber nach § 38 III 1 EStG verpflichtet, bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn für Rechnung des Arbeitnehmers die Lohnsteuer einzubehalten und nach § 41a I EStG an das Finanzamt abzuführen. Die Art der Steuererhebung läßt den Zahlungsanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber unberührt. Gleiches gilt für den vom Arbeitnehmer zu tragenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags. Diesen kann der Arbeitgeber zwar nach § 28g SGB IV vom Arbeitnehmer beanspruchen, muß ihn aber vom Bruttoentgelt einbehalten und an den Sozialversicherungsträger entrichten.

Mit den Vorschriften über die Einbehaltung und Abführung der Entgeltbestandteile ist damit lediglich die Zahlungsweise des Arbeitgebers geregelt. Das geschuldete Entgelt ist insoweit nicht an den Arbeitnehmer, sondern an Dritte auszuzahlen (vgl. BAG, AP Nr. 1 zu § 46 BPersVG; BAGE 48, 229; BGH, AP Nr. 13 zu § 611 BGB Lohnanspruch). Der Arbeitgeber hat kein „Gegenrecht„, das sowohl den Schuldnerverzug als auch die Zinspflicht nach § 291 i.V. mit § 288 BGB ausschließt (so aber LAG Sachsen, Urt. v. 22. 1. 1997 - 2 Sa 992/96 - Revision unter dem Az. 9 AZR 244/97 eingelegt; daran anschließend LAG Köln, Urt. v. 30. 4. 1998 - 6 Sa 1736/97 - Revision unter dem Az. 9 AZR 602/98 eingelegt).

Erst wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung entrichtet und die vom Arbeitnehmer zu tragenden Steuern abgeführt hat, erlischt in diesem Umfang die Hauptforderung des Arbeitnehmers und damit auch der akzessorische Zinsanspruch (§ 362 BGB). Dies kann der Arbeitgeber im Rechtsstreit einwenden. Solange der Arbeitgeber nicht abgeführt hat, ist er zur Bruttozahlung verpflichtet und hat folglich auch die Bruttoschuld unverkürzt zu verzinsen.

b) Nach Auffassung des 4. Senats in dem Urteil vom 20. 4. 1983 (BAGE 42, 244 [258]) schuldet der Arbeitgeber wegen der Akzessorietät des Zinsanspruchs Zinsen nur aus der dem Arbeitnehmer zustehenden Hauptschuld. Hauptschuld sei der Geldbetrag, der im Einzelfall vom Schuldner an den Gläubiger zu zahlen ist und damit nur der dem Arbeitnehmer entsprechend dem Bruttobetrag zufließende Nettobetrag.

Das trifft nach Auffassung des Senats nicht zu. Der Zinsanspruch ist zwar im Entstehen und im Erlöschen von der Hauptschuld abhängig. Hauptschuld ist aber nicht der um die Abzüge geminderte Nettobetrag, sondern das vom Arbeitgeber arbeitsvertraglich geschuldete (Brutto-)Entgelt. Seiner Leistungspflicht hat der Arbeitgeber erst genügt, wenn dieses Entgelt zur Auszahlung an den Arbeitnehmer, das Finanzamt und den Sozialversicherungsträger gelangt ist.

c) Ein Rechtssatz, dem zu entnehmen wäre, daß Zinsen nur vom Nettobetrag geschuldet werden, ist nicht ersichtlich. Er ergibt sich insbesondere nicht aus § 288 I 1 oder aus § 291 S. 1 BGB.

Der 4. Senat hat in seinem Urteil vom 13. 2. 1985 (AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse) seine Auffassung, Prozeßzinsen könnten nur aus dem der Bruttovergütung entsprechenden Nettobetrag verlangt werden, damit begründet, Prozeß- und Verzugszinsen sollten dem Gläubiger einen Ausgleich dafür gewähren, daß der Schuldner seiner Zahlungsverpflichtung nicht rechtzeitig nachkomme. Dann könne der Zinsanspruch nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung nur an dem Geldbetrag anknüpfen, der durch Vollstreckung dem Gläubiger tatsächlich zufließen könne.

Die Frage nach der Höhe eines möglichen Schadens stellt sich im Zusammenhang mit den gesetzlichen Zinsen nicht. Verzugszinsen werden als pauschalierter Schadensersatz geschuldet. Es ist ein „unwiderleglich angenommener Mindestsatz, der dem Gläubiger sogar wegen einer an sich unverzinslichen Forderung zusteht„ (BGH, NJW 1953, 337; vgl. auch schon RGZ 92, 283). Ob dem Gläubiger tatsächlich ein Schaden durch die Vorenthaltung des ihm geschuldeten Betrags entsteht oder entstehen kann, ist für den gesetzlichen Zinsanspruch unerheblich (vgl. BGH, DB 1983, 2033 zur Verzinsung des Kostenvorschusses). Nur der nach § 288 II BGB geltend gemachte „weitere„ Schaden ist darzulegen und ggfs. zu beweisen.

Die Pflicht des Arbeitgebers, Zinsen auf die Abzüge zu zahlen, „bereichert„ den Arbeitnehmer auch nicht grundlos. Die Belastung des säumigen Schuldners mit den Mindestzinsen dient nicht nur dem unmittelbaren Ausgleich der Vermögensinteressen, sondern soll auch präventiv den Schuldner zur termingerechten Erfüllung anhalten. Er soll mit den ihm nicht zustehenden Geldmitteln nicht spekulieren können (BGH, NJW 1985, 2325).

d) Prozeßzinsen nach § 291 S. 1 BGB werden nach der Rechtsprechung des BGH, des BSG und des BVerwG als Risikozuschlag beurteilt, weil es der Schuldner überhaupt zum Prozeß hat kommen lassen (BGH, NJW-RR 1987, 386; BSG, NJW 1989, 3237; BVerwGE 7, 95). Die Ermäßigung des Zinsanspruchs widerspricht dieser Zielsetzung.

2. Gegen einen Klageantrag, mit dem die Verzinsung des sich aus dem Bruttoentgelt ergebenden Nettobetrags begehrt wird, bestehen prozessuale Bedenken. Das Bestimmtheitsgebot in § 253 II Nr. 2 ZPO setzt die bezifferte Angabe des zu verzinsenden Geldbetrags voraus. Daran fehlt es, weil sich der Nettobetrag nicht aus der Klage, sondern aufgrund außerhalb des Rechtsstreits vorzunehmenden Ermittlungen von Umständen ergibt, deren Vorliegen ungewiß ist. Entsprechendes trifft für den Urteilsausspruch zu. Weder der Gerichtsvollzieher noch der im Wege der Vollstreckung herangezogene Drittschuldner sind in der Lage, die Höhe der zu vollstreckenden Zinsen zu ermitteln. Dem läßt sich nicht mit der Erwägung begegnen, bei der Vollstreckung sei davon auszugehen, daß die Nettovergütung der Bruttovergütung entspreche, wenn die Zahlung von Lohnsteuer- und Sozialversicherungsbeträgen nicht nachgewiesen werden können (BAG, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse). Dem zu vollstreckenden Urteilsausspruch läßt sich dieser Inhalt nicht entnehmen.

3. Die Auffassung, die Zinspflicht des Arbeitgebers umfasse nicht das Bruttoentgelt, steht überdies mit der Rechtsprechung des 5. Senats zur Zahlung von Ausbildungskosten (BAGE 84, 282) und des 7. Senats zur Rückzahlung von rechtsgrundlos erbrachter Arbeitgeberleistungen (AP Nr. 20 zu § 812 BGB) nicht im Einklang. Danach ist der Arbeitnehmer verpflichtet, nicht nur das erhaltene Nettoentgelt zurückzuzahlen, sondern auch die vom Arbeitgeber für ihn abgeführten Steuern und den vom Arbeitgeber entrichteten Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung zuzüglich der gesetzlichen Zinsen nach § 288 I BGB. Die Leistungen des Arbeitgebers werden dem Arbeitnehmer damit in vollem Umfang zugerechnet, obwohl ihm die abgeführten Beträge nicht unmittelbar zugeflossen sind.

4. Schließlich besteht eine Divergenz zur Rechtsprechung des BGH. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH zu Gehältern von GmbH-Geschäftsführern (vgl. z.B. NJW-RR 1997, 537) sind die gesetzlichen Zinsen immer vom Bruttoentgelt zu zahlen.

III. Zur Vermeidung der Anrufung des Großen Senats fragt der 9. Senat nach § 45 III 1 ArbGG deshalb an, ob der 2., der 4., der 5. und der 10. Senat an ihrer Rechtsauffassung festhalten.

Vorinstanzen

LAG Nürnberg, 6 Sa 371/90, 22.3.1994

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht