Abgrenzung zwischen Arbeitnehmereigenschaft und Selbständigkeit - Scheinselbständigkeit

Gericht

ArbG Nürnberg


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

31. 07. 1996


Aktenzeichen

2 Ca 4546/95


Leitsatz des Gerichts

Wer in eigener Person ohne Mitarbeiter und im wesentlichen ohne eigenes Kapital und ohne eigene Organisation tätig wird, ist Arbeitnehmer. Wer hingegen mit eigenem Kapitaleinsatz einen eigenen Apparat ggf. auch unter Einsatz von eigenen Mitarbeitern aufbaut und bei dem dem Risiko der nur erfolgsbezogenen Vergütung auch eine entsprechende unternehmerische Chance gegenübersteht, ist Selbständig. Nur das für sich Risiko der erfolgsbezogenen Vergütung - ohne unternehmerische Chance - macht den Arbeitnehmer nicht zum Selbständigen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien streiten um den Arbeitnehmerstatus der Kl. Die Kl. ist seit 1. 3. 1994 für die Bekl. als Versicherungsvermittlerin im Außendienst tätig. Dieser Tätigkeit liegt der Vertrag zwischen den Parteien vom 4. 3. 1994 zugrunde. Dieser sieht zum Status der Kl. vor: "Sie sind als selbständiger Versicherungsvermittler gem. §§ 84 I, 92 HGB für uns tätig. Der Geschäftsverkehr in allen Sparten wickelt sich ab über die Organisation für Verbandsgruppenversicherungen, Filialdirektion Nürnberg Süd. Ihre Aufgaben ergeben sich aus Nr. I 1 der allgemeinen Vertragsbestimmungen. Sie sind ständig damit betraut, Versicherungen und Bausparverträge zu vermitteln. Zu Ihren vertraglichen Aufgaben gehört es auch, alle mit dem vermittelten Auftrag zusammenhängenden Arbeiten auszuführen und aufgabenbezogenen Weisungen nachzukommen. Voraussetzung für ein erfolgreiches Tätigwerden ist die Teilnahme an Schulungen, in denen Sie mit den Tarifen und Bedingungen sowie mit anderen erforderlichen Fachkenntnissen vertraut gemacht werden." Die in Bezug genommenen, von der Bekl. vorformulierten allgemeinen Vertragsbedingungen sehen unter anderem vor: "Sofern die X (Bekl.) einer Tätigkeit für ein anderes Unternehmen vorher nicht ausdrücklich zugestimmt hat, dürfen Sie Versicherungs- und Sparverträge aller Art (allgemeines Sparen, Wertpapier- und Bausparen) nur für die X und über diese für die mit ihr durch Organisationsverträge verbundenen Gesellschaften vermitteln. Über Geschäftsmöglichkeiten und Sparten, die nicht in den Einheitswert-Tafeln enthalten sind, gibt Ihnen Ihre Geschäftsstelle Auskunft. In allen anderen Branchen können Sie eine Erwerbstätigkeit für beliebige Unternehmen ausüben ... Es ist Ihnen nicht gestattet, systematisch Kunden der X anzusprechen mit dem Ziel einer Änderung, Anrechnung oder Aufhebung eines bestehenden Vertrages, es sei denn, Sie erhalten einen entsprechenden Arbeitsauftrag ... Die Ihnen übergebene Geschäftsausrüstung ist Eigentum der X. Bitte bewahren Sie sie sorgfältig und behandeln Sie sie Betriebsfremden gegenüber vertraulich. Bei Beendigung Ihrer Tätigkeit muß die Geschäftsausrüstung einschließlich Ausweis ohne Verzug an die X zurückgegeben werden. Ein Zurückbehaltungsrecht steht Ihnen nicht zu, es sei denn es wird wegen fälliger Ansprüche auf Provision oder Ersatz von Aufwendungen geltend gemacht ... Ihnen übergebenes Adressenmaterial ist ebenfalls Eigentum der X. Es darf nur für den bestimmungsgemäßen Zweck verwendet werden. Jede Weitergabe an Dritte ist ausdrücklich untersagt. Ebenfalls nicht gestattet ist die Vervielfältigung. Bei Beendigung des Vertragsverhältnisses muß das gesamte Adressenmaterial an die X zurückgegeben werden ... Wenn Sie geschäftliche Anzeigen, Bekanntmachungen oder Angebote herausgeben oder Drucksachen anfertigen lassen wollen, so bedarf das unserer vorherigen Zustimmung. Bitte bedenken Sie, daß Sie aus Unwissenheit gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen können, oder daß bestimmte Veröffentlichungen vielleicht nicht im Interesse der X liegen könnten. Unsere vorherige Zustimmung ist übrigens auch erforderlich, wenn die Kosten nicht zu Lasten der X gehen ... Um jegliche Mißverständnisse zu vermeiden, müssen Sie sich bei jedem Kundenbesuch sofort als Vertreter der X zu erkennen geben, indem Sie Ihren Ausweis vorlegen. Dies ist auch dann unabdingbar, wenn Sie den Besuch auf Empfehlung einer mit der X zusammenarbeitenden Vereinigung durchführen." Mit Beklagtenschreiben vom 21. 6. 1995 wurden die allgemeinen Vertragsbedingungen um den Absatz ergänzt: "Dem Vermittler ist es nicht gestattet, "versicherungsfremde Geschäfte" zu vermitteln. "Versicherungsfremde Geschäfte" sind alle Geschäfte, die die X nicht betreiben darf. Für Sie gilt, daß Sie nur Produkte oder Dienstleistungen vermitteln dürfen, die die X ausdrücklich für den Vertrieb freigegeben hat." Nach dem Vertrag vom 4. 3. 1994 erhält die Kl. ausschließlich erfolgsbezogene Vergütung in Form von Abschlußprovisionen. Sie hat keinen - auch nur eingeschränkten - Gebiets- oder Kundenschutz. Sie erhält keine Bestandspflegeprovisionen. Die tatsächliche Arbeit der Kl. sieht so aus: Sie erhält von der Bekl. Adreßmaterial. Dieses Adreßmaterial hat die Bekl. erlangt, indem sie beispielsweise mit dem VDK, dem Gaststättenverband oder anderen Verbänden Gruppenversicherungsverträge abschließt, aus denen einerseits die Verbände im Falle der Mitgliedschaft verbilligte Versicherungstarife für die Mitgliederwerbung in Aussicht stellen können, aus denen andererseits die Verbände der Bekl. ihr gesamtes Mitgliederadreßmaterial zur Verfügung stellen, egal ob das Mitglied über den Gruppenversicherungsvertrag versichert ist, versichert werden will oder nicht. Mit dem Angebot des Gruppenversicherungsvertrages als "Türöffner" arbeitet die Kl. dann das ihr zur Verfügung gestellte Adreßmaterial ab, das heißt nach eigener Zeiteinteilung und in Absprache mit den Mitgliedern des Verbandes sucht sie diese auf, versucht dort den Versicherungsbedarf insgesamt des Verbandsmitgliedes und seiner Familienangehörigen und gegebenenfalls weiterer Verwandter zu ermitteln und versucht schließlich, Versicherungen auch über die Gruppenversicherung hinaus zu vermitteln. Dabei kann sie sich zur Terminsabsprache der Telefonanlage der örtlichen Büroorganisation der Bekl. bedienen. Auf Aufforderung hin erhält sie auch von der örtlichen Büroorganisation der Bekl. Versicherungsverläufe zu den Verbandsmitgliedern ausgedruckt, soweit die Verbandsmitglieder die eine oder andere im Konzern angebotene Versicherungsleistung oder Finanzdienstleistung bereits in Anspruch nehmen. Über den Erfolg ihrer Besuche bei den Verbandsmitgliedern ist die Kl. berichtspflichtig. Dazu wird ihr ein Formular der Bekl. - überschrieben mit "Besuchsauftrag" - zur Verfügung gestellt. Die Kl. führt ihre Tätigkeit ohne eigenes Personal und ohne eigenen Kapitaleinsatz aus, abgesehen vom Einsatz ihres Privat-Kfz, um zu den potentiellen Kunden zu gelangen. Sobald die Kl. mit dem bei ihr vorhandenen Adreßmaterial nach eigener Beurteilung so weit ist, fordert sie bei der Bekl. neues an. Dabei muß sie nicht notwendig das bisherige Adreßmaterial bereits vollständig abgearbeitet haben. Die Kl. hat keinen Einfluß auf die Auswahl der Versicherungsprodukte, die sie vertreiben soll. Diese werden ihr abschließend durch die Bekl. vorgegeben. Die Kl. hat auch keinen Einfluß auf die Preise für die von ihr zu vertreibenden Versicherungsprodukte. Die Prämien gibt ihr ebenfalls die Bekl. vor. Die Bekl. hat der Kl. die berufsbegleitende Fortbildung Versicherungsfachmann/Versicherungsfachfrau gem. den Richtlinien des Berufsbildungswerkes der deutschen Versicherungswirtschaft angeboten. An diesem Ausbildungsprogramm nimmt die Kl. teil. Ebenso nimmt die Kl. teil an regelmäßigen Jour-Fix-Besprechungen, die die örtliche Organisation der Bekl. regelmäßig abhält. Die Bekl. hat für die Kl. eine Unfallversicherung abgeschlossen. Für die Renten- und Krankenversicherung ist die Kl. selbst zuständig. Im Krankheitsfalle erhält sie kein Entgelt. Anzeige- oder Nachweispflichten i.S. des Entgeltfortzahlungsgesetzes für den Fall der Krankheit der Kl. sind zwischen den Parteien nicht vereinbart. Auch über die zeitliche Lage und Dauer ihres Urlaubes bestimmt die Kl. ohne Abstimmungs- oder Benachrichtigungspflicht gegenüber der Bekl. Auch insoweit erhält sie kein Urlaubsentgelt. Die Kl. ist der Auffassung, daß sie zur Bekl. in einem Arbeitsverhältnis steht.

Die Klage hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II. Die Kl. ist Arbeitnehmerin der Bekl. Zum Arbeitnehmerstatus judiziert das BAG in ständiger Rechtsprechung: Arbeitnehmer und freier Mitarbeiter unterscheiden sich durch den Grad der persönlichen Abhängigkeit, in der sich der zur Dienstleistung Verpflichtete befindet. Eine wirtschaftliche Abhängigkeit ist weder erforderlich noch ausreichend. Arbeitnehmer ist derjenige Mitarbeiter, der seine Dienstleistung im Rahmen einer von Dritten bestimmten Arbeitsorganisation erbringt. Insoweit enthält § 84 I 2 HGB ein typisches Abgrenzungsmerkmal. Nach dieser Bestimmung ist selbständig, wer im wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Unselbständig und deshalb persönlich abhängig ist dagegen der Mitarbeiter, dem dies nicht möglich ist. Zwar gilt diese Regelung unmittelbar nur für die Abgrenzung des selbständigen Handelsvertreters vom abhängig beschäftigten kaufmännischen Angestellten. Über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus enthält diese Bestimmung jedoch eine allgemeine gesetzliche Wertung, die bei der Abgrenzung des Dienstvertrages vom Arbeitsvertrag zu beachten ist, zumal sie die einzige Norm ist, die Kriterien dafür enthält. Die Eingliederung in die fremde Arbeitsorganisation zeigt sich insbesondere daran, daß der Beschäftigte einem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen. Die fachliche Weisungsgebundenheit ist allerdings für Dienste höherer Art häufig nicht typisch; die Art der Tätigkeit kann es mit sich bringen, daß dem Mitarbeiter ein hohes Maß an Gestaltungsfreiheit, Eigeninitiative und fachlicher Selbständigkeit verbleibt.

Für die Abgrenzung von Bedeutung sind demnach in erster Linie die Umstände, unter denen die Dienstleistung zu erbringen ist und nicht die Modalitäten der Bezahlung oder die steuer- und sozialversicherungsrechtliche Behandlung oder etwa die Führung von Personalakten. Die Arbeitnehmereigenschaft kann nicht mit der Begründung verneint werden, es handele sich um eine nebenberufliche Tätigkeit. Andererseits spricht nicht schon für ein Arbeitsverhältnis, daß es sich um ein auf Dauer angelegtes Rechtsverhältnis handelt. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Abstrakte, für alle Arbeitsverhältnisse geltende Kriterien lassen sich nicht aufstellen. Manche Tätigkeiten können sowohl im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als auch im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses erbracht werden. Umgekehrt gibt es Tätigkeiten, die regelmäßig nur im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses ausgeübt werden können. Das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses kann also auch aus Art oder Organisation der Tätigkeit folgen (vgl. in den letzten Jahren BAG, NZA 1995, 622 (623)). Für die Frage des selbständigen bzw. angestellten Versicherungsvertreters hat das BAG bereits entschieden, daß der in § 84 I HGB enthaltenen Hervorhebung der im wesentlichen freien Bestimmung der Arbeitszeit für Versicherungsvertreter im Außendienst nichts Entscheidendes entnommen werden kann, da hier typischerweise feste Dienstzeiten nicht vorliegen. Es kommt vielmehr auf die Weisungsfreiheit im übrigen an, die in diesem Bereich den Arbeitnehmer vom Selbständigen unterscheidet. Weitere relevante Kriterien in diesem Bereich sind die Freiheit im Einsatz der Arbeitskraft, das eigene Unternehmen und das eigene Unternehmerrisiko (BAGE 18, 87 = NJW 1966, 902 L = AP Nr. 2 zu § 92 HGB).

Bedeutung gewinnt also hier die Frage, ob der Betreffende in eigener Person ohne Mitarbeiter und im wesentlichen ohne eigenes Kapital und im wesentlichen ohne eigene Organisation tätig wird. Dies spricht für die Arbeitnehmereigenschaft. Dem steht der Selbständige gegenüber, der mit eigenem Kapitaleinsatz einen eigenen Apparat gegebenenfalls auch unter Einsatz von eigenen Mitarbeitern aufbaut und bei dem dem Risiko der nur erfolgsbezogenen Vergütung auch eine entsprechende unternehmerische Chance gegenübersteht (LAG Niedersachsen, LAGE § 611 BGB Arbeitnehmerbegriff Nr. 24; bestätigt mit der starken Gewichtung des Merkmals Unternehmerrisiko/Unternehmerchance innerhalb der Gesamtschau der tatsächlichen Durchführung des Vertragsverhältnisses mit Beschluß des BAG, Urt. v. 1. 9. 1992 - 2 AZN 40/92; LAGE § 611 BGB Arbeitnehmerbegriff Nr. 24a, mit dem die Nichtzulassungsbeschwerde der Versicherung verworfen wurde. LAG Niedersachsen, Beschl. v. 16. 2. 1995 - 3 Ta 202/93; LAG Köln, LAGE § 611 BGB Arbeitnehmerbegriff Nr. 29). Dem erkennenden Gericht ist es dabei wichtig, daß dem unternehmerischen Risiko auch eine unternehmerische Chance gegenübersteht. Allein das Risiko der nur erfolgsbezogenen Vergütung macht den Arbeitnehmer nicht zum Selbständigen. In der Terminologie des BSG: Es ist zu berücksichtigen, daß die Zuweisung von Risiken an den Arbeitenden nur dann für Selbständigkeit spricht, wenn damit größere Freiheiten und größere Verdienstmöglichkeiten verbunden sind, die nicht bereits in der Sache angelegt sind, weil allein die Zuweisung zusätzlicher Risiken einen abhängig Beschäftigten noch nicht zum Selbständigen macht (BSG, NZA 1991, 907).

Das Gericht sieht sich hier unabhängig von der Frage, ob der neuen, von Wank entwickelten Theorie zur Abgrenzung von Arbeitnehmern und Selbständigen (vgl. Wank, DB 1992, 90 oder ausführlich auch Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, 1987) zu folgen ist, in Einklang mit der Rechtsprechung des BAG. Zur Frage der Selbständigkeit eines als Versicherungsvermittlers arbeitenden Versicherungsvertreters gem. § 92 HGB i.V. mit § 84 I HGB hat das BAG schon 1966 als Abgrenzungskriterien, die in Erwägung zu ziehen und in ihrer Gesamtheit zu würdigen sind, in die Prüfung einbezogen die Weisungsfreiheit, die Freiheit im Einsatz der Arbeitskraft, das eigene Unternehmen und das eigene Unternehmerrisiko (BAGE 18, 87 = NJW 1966, 902 L = AP Nr. 2 zu § 92 HGB). Auf den Erfolg entsprechender legislatorischer Bemühungen (Entwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes des Freistaates Sachsen, § 1 III: Arbeitnehmer ist, wer seine Arbeit im Rahmen einer fremdbestimmten Organisation nach Weisungen oder vertraglichen Vorgaben verrichtet. Personen, die frei gewählt unternehmerisch tätig werden, sind keine Arbeitnehmer; vgl. ferner die Erläuterungen dazu, BR-Dr 293/95, S. 15 (86)) muß deshalb nicht gewartet werden. Dieses Kriterium wird auch geprüft in einer Entscheidung aus dem Jahre 1980, in der es das BAG als Indiz für eigenes Unternehmertum und Selbständigkeit gesehen hatte, daß der Kl. als Kantinenpächter frei war, "durch Auswahl und Umfang seines Warensortiments, die Preisgestaltung, bei den Waren außerhalb des Grundsortiments, durch Werbung, aktive Darbietung der Waren und sonstige unternehmerische Maßnahmen den Verkaufserlös zu beeinflussen" und damit seine unternehmerische Chance wahrzunehmen (BAGE 34, 111 = AP Nr. 37 zu § 611 BGB Abhängigkeit).

Vor diesem Hintergrund ergibt sich: Die Kl. ist in der Bestimmung ihrer Arbeitszeit frei. Was ihre tägliche Arbeit betrifft, so kann sie das ihr zur Verfügung gestellte Adreßmaterial zu frei von ihr gewählten Zeiten abarbeiten. Die Bekl. gibt ihr keine Terminlisten, Besuchsrouten oder ähnliches vor. Eine entscheidende Bedeutung kommt dem aber bei Außendienstmitarbeitern nicht zu, da auch der angestellte Außendienstmitarbeiter in der Regel seine Arbeitszeit nach den Kundenwünschen, nicht nach den Arbeitgeberwünschen einrichten muß und diesen sachlichen Vorgaben üblicherweise auch in den Arbeitsverträgen angestellter Außendienstmitarbeiter Rechnung getragen wird (vgl. im übrigen BAGE 18, 87 = NJW 1966, 902 L = AP Nr. 2 zu § 92 HGB, zur Relevanz dieses Kriteriums in diesem Zusammenhang). Die Kl. ist auch im übrigen in der Bestimmung ihrer Arbeitszeit frei. Sie unterliegt nach den vertraglichen Vereinbarungen keinen Anzeigen- und Nachweispflichten im Falle der Erkrankung. Gleiches gilt, wen sie in Urlaub gehen will. Auch besteht hier weder eine Abstimmungs- noch eine Benachrichtigungspflicht. Soweit die Bekl. in einer Geschäftsanweisung für ihr Führungspersonal ihre Leistungsverweigerungsrechte in diesem Zusammenhang darstellt und rät, auf die selbständigen Außendienstmitarbeiter dahingehend einzuwirken, daß sie längere Erkrankungs- und Urlaubszeiträume mitteilen, rechtfertigt dies noch keine andere Beurteilung.

Die Kl. ist auch nicht in einem Maße weisungsgebunden, daß von einer abhängigen Beschäftigung ausgegangen werden müßte. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein kompliziertes Produkt wie eine Lebensversicherung oder Krankenversicherung für den Versicherungsnehmer wie die Versicherungsgesellschaft erhebliche finanzielle Risiken birgt und deshalb zur Absicherung der Bekl. ein erhebliches Maß an Direktiven für die fachliche Arbeit des selbständigen wie unselbständigen Mitarbeiters möglich sein muß, um diese Risiken im Griff zu behalten. Dazu zählt auch, daß die Kl. keine Verträge abschließen darf, nur vorformulierte Versicherungsantragsvordrucke verwenden darf, bestimmte Zusicherungen und Aussagen bei der Kundenwerbung zu unterlassen hat. Es liegt auch in der Natur der Sache, daß die Bekl. der Kl. in Schulungen das notwendige "Handwerkszeug", also das know-how für erfolgreiche Verkaufsgespräche und eine sachgerechte Information der Kunden vermittelt. Auch dies spricht nicht notwendig für die abhängige Beschäftigung der Kl. Die Kl. ist auch vordergründig nicht in die Organisation der Bekl. in technischer Hinsicht eingebunden. Telefon- und EDV-Anlage der Bekl. stehen ihr zur Verfügung. Es steht ihr aber frei, ihre Kundenkontakte vom häuslichen Telefon aus anzubahnen ebenso wie sie auf ihr Privat-Kfz angewiesen ist, um ihre potentiellen Kunden zu erreichen. Ihre Abhängigkeit von der technischen Organisation der Bekl. beschränkt sich auf die Inanspruchnahme der EDV-Anlage, um Versicherungsverläufe zu erlangen für anzusprechende Kunden, die bereits Verträge bei der Bekl. oder einer ihr verbundenen Organisation haben. Nichts Entscheidendes läßt sich auch der Teilnahme der Kl. an den Betriebsratswahlen bei der Bekl. entnehmen. Insoweit ist die Kl. dem Vorbringen der Bekl. auch nicht entgegengetreten, daß eine Wahlanfechtung schon deswegen unterblieb, weil die Teilnahme der Kl. an den Wahlen ohne Einfluß auf das Wahlergebnis blieb.

Für die Arbeitnehmereigenschaft der Kl. sprechen aber verschiedene andere Aspekte. Dazu zählt es unter anderem, daß die Bekl. der Kl. die Qualifizierung zur Versicherungsfachfrau nahegelegt hat und diese Qualifizierung auch finanziell unterstützt. Es ist ein typisches Phänomen der Arbeitswelt, daß der Arbeitgeber seine Mitarbeiter nach seinen Vorstellungen und seinen Nutzungsmöglichkeiten zur Qualifizierung anhält. Für das Schuldrecht im übrigen, insbesondere das Dienstleistungsrecht ist es dagegen untypisch, daß der Dienstgeber dem Dienstnehmer erst die Qualifikation vermittelt, die der Dienstnehmer braucht, um vollwertig für den Dienstgeber tätig werden zu können. Gleiches gilt für das Verhältnis des Bestellers zum Unternehmer beim Werkvertrag.

Die Kl. trägt auch keine unternehmerische Freiheit, sondern nur unternehmerisches Risiko, sie arbeitet nicht im Rahmen eines eigenen Unternehmens. Nach den vertraglichen Vereinbarungen beschränkt sich ihre unternehmerische Freiheit darauf, daß zur Verfügung gestellte Adreßmaterial abzuarbeiten oder nicht. Dem vollen Risiko der ausschließlich erfolgsbezogenen Vergütung ohne Einkommenssicherung für die Fälle von Krankheit oder Urlaub korrespondiert keine entsprechende unternehmerische Freiheit, unter Einsatz ihrer Person oder eigener, gegebenenfalls geliehener Kapitalmittel ein eigenes Unternehmen aufzubauen, das heißt eine eigene Organisation mit eigener Betriebsstätte zu bilden und - gegebenenfalls arbeitsteilig mit weiteren eigenen Mitarbeitern - ein eigenes unternehmerisches Ziel zu verwirklichen. Sie wird vielmehr als das, was sich wenig vornehm als "Drücker" bezeichnen läßt, von der Bekl. eingesetzt zu deren unternehmerischem Ziel, das mit den Gruppenversicherungsverträgen gewonnene Adreßmaterial mit dem Angebot des Gruppenversicherungsvertrages als Türöffner auszunutzen und das gewonnene Kundenpotential abzuschöpfen. Soweit die Bekl. in diesem Zusammenhang auf die Option der Kl. hinweist, auch unabhängig vom Adreßmaterial Versicherungskunden für die Bekl. zu gewinnen, ist für das Gericht nicht recht nachvollziehbar, wo die Bekl. hier die Chance der Kl. für unternehmerische Betätigung sieht. Dies ergibt sich für das Gericht schon daraus, daß die Bekl. selbst über Gruppenversicherungsverträge und dabei eingeräumte Rabatte sich Zugang zu potentiellen Kunden "erkaufen" muß, um überhaupt noch in wirtschaftlich vertretbarer Weise mit Außendienstmitarbeitern um Kunden werben zu können.

Die Kl. ist nicht in der Lage, unter Einsatz eigenen Kapitals eine eigene Organisation mit eigenen Mitarbeitern aufzubauen, mithin ein eigenes Unternehmen, und damit eine unternehmerische Chance am Markt wahrzunehmen. So hat die Bekl. der Kl. zwar nicht ausdrücklich einen Mitarbeitereinsatz untersagt. Dies ergibt sich aber aus der Zusammenschau verschiedener Bestimmungen der allgemeinen Vertragsbedingungen. So ist es der Kl. untersagt, ohne vorherige Zustimmung eine Tätigkeit für ein anderes Unternehmen der Versicherungsbranche aufzunehmen. Auf diese Zustimmung hat sie auch keinen Anspruch. Ihr bliebt also nur der Vertrieb von Dienstleistungen, will sie nicht, wie ihr die allgemeinen Vertragsbedingungen immerhin freistellen, parallel zur Versicherungsvertretertätigkeit auch in anderen Branchen arbeiten. Diese Vertragsgestaltung entspricht wiederum dem Arbeitsrecht, das dem Arbeitnehmer jede Konkurrenztätigkeit im bestehenden Beschäftigungsverhältnis versagt, ihm aber grundsätzlich nicht ein Ausnutzen seiner eigenen Arbeitskraft im Rahmen einer weiteren Beschäftigung verbietet, soweit es sich dabei nicht um Konkurrenztätigkeit handelt. Die Bekl. regiert aber sogar in branchenfremde Betätigungen hinein und untersagt diese. Dies ist der Inhalt der Vertragsergänzung mit Schreiben vom 21. 6. 1995, die es der Kl. versagt, generell "versicherungsfremde Geschäfte" zu vermitteln. Der Kl. ist es mithin untersagt, während ihrer "Arbeitszeit" gegenüber den angesprochenen Kunden auch andere Produkte als die von der Bekl. bzw. dieser verbundenen Organisationen zu vertreiben. Auch dies rückt die Kl. in die Nähe des abhängig Beschäftigten, der während seiner vertraglich geschuldeten Arbeit auch keiner Nebentätigkeit nachgehen darf, auch wenn es sich nicht um Konkurrenztätigkeit handelt.

Beim Vertrieb von Produkten darf die Kl. auch nicht systematisch Kunden der Bekl. ansprechen mit dem Ziel der Änderung, Anrechnung oder Aufhebung eines bestehenden Vertrages, es sei denn, sie hätte einen entsprechenden Auftrag. Auch insoweit ist ihre Tätigkeit der Organisation der Bekl. nützig, also fremdnützig, nicht eigennützig. Schließlich darf sie die ihr zur Abarbeitung übergebenen Adressen nicht weitergeben an Dritte, wobei Dritter auch ein Arbeitnehmer der Kl. wäre. Über diese Klausel der allgemeinen Vertragsbestimmungen wird die Kl. daran gehindert, eigene Mitarbeiter einzusetzen. In gleicher Weise wird sie durch die Bestimmungen der allgemeinen Vertragsbedingungen der Bekl. daran gehindert, werbend für sich oder ihr Unternehmen am Markt tätig zu werden und so eine unternehmerische Perspektive zu entwickeln. Nach den einschlägigen Bestimmungen darf die Kl. nur in Absprache mit der Bekl. für sich werben, wobei diese Werbung auch jederzeit ihre Eigenschaft als Versicherungsvertreterin zum Ausdruck bringen muß. Sie ist dadurch gehindert, eigene Unternehmens- und Vertriebsideen am Markt zu präsentieren und umzusetzen. Jede von ihr entfaltete Werbetätigkeit steht unter Zustimmungsvorbehalt, ohne daß sie einen Anspruch auf Zustimmung durch die Bekl. hätte.

In gleicher Weise ist sie gehindert, die Palette ihres Angebotes an Versicherungsleistungen selbst zusammenzustellen sowie den Preis für einzelne Produkte dieser Palette selbst zu bestimmen. Die allgemeinen Vertragsbedingungen geben ihr in Verbindung mit weiteren Weisungen der Bekl. insoweit die von ihr zu vertreibenden Produkte der Bekl. abschließend vor. Die allgemeinen Vertragsbedingungen geben ihr auch abschließend die Versicherungstarife für die verschiedenen Kunden oder Kundengruppen vor. Auch insoweit besteht für die Kl. über Produktauswahl und Produktpreis keine Chance zur unternehmerischen Betätigung. Im Ergebnis darf die Kl. über das ihr zur Verfügung gestellte Adreßmaterial hinaus innerhalb des Versicherungswesens nur tun, was die Bekl. schon selbst nicht für ertragreich hält und deshalb wohl auch nicht durchführt: Unselektierte Adressen anlaufen ohne Lockangebot im Gepäck zur Gewinnung neuer Kunden. Dabei darf sie auch nicht den Anschein einer irgendwie gearteten Objektivität erwecken, sondern muß sich "sofort" beim Kundenbesuch als Vertreter zu erkennen geben. Die unternehmerische Perspektive der Kl. ist es also, selbst "Drücker" zu organisieren und zum Vertrieb von Produkten der Bekl. durch die Straßen zu schicken, mithin eine Art des Vertriebes von Versicherungsprodukten, die die auf Gewinnerzielung achtende Bekl. selbst wohl schon aufgegeben hat. Eine entsprechende unternehmerische Betätigung der Kl. zieht die Bekl. wohl auch selbst nicht ernsthaft in Erwägung.

Hier liegt auch nach Auffassung des Gerichts der entscheidende Schwachpunkt in der Argumentation des von der Bekl. in Vorlage gebrachten Urteiles des LG Saarlouis vom 14. 5. 1996 (3 (1) Sa 257/95) in einem gleichgelagerten Fall, in dem das dortige Gericht keinen Versuch unternimmt, die "Freiheiten" des Handelsvertretervertrages auf ihr materielles Substrat hin zu untersuchen und nur lapidar feststellt, der (dortige) Kl. könne sich selbst weitere Adressen besorgen.

Die Grundrechte sind im neueren Grundrechtsverständnis nicht nur Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates, sondern in der Rechtsprechung des BVerfG fortentwickelt worden zu Schutzpflichten des Staates zum Erhalt dieser Rechte (vgl. in jüngster Zeit BVerfG, NJW 1993, 1751). Im Bereich der Sozialhilfe gibt deshalb das Grundrecht der Menschenwürde, Art. 1 GG, keinen individuellen und unmittelbaren Anspruch auf Hilfe gegen den Staat. Art. 1 GG verpflichtet aber den Staat zur Schaffung einer gerechten Sozialordnung, die auch den Schwachen ein Leben in Würde ermöglicht, wie immer dieses Leben in Würde dann in praxi auch aussehen mag. Diese gerechte Sozialordnung kann nicht ohne Blick auf die soziale Realität und deren ständige Veränderungen hergestellt und gewahrt werden. In gleicher Weise gilt dies für das Arbeitsrecht. Auch hier kann die Frage, ob ein Bürger als Unternehmer oder als abhängig Beschäftigter tätig ist, nicht nur nach den Freiheiten, die das Vertragswerk nach seinen Buchstaben bereithält, beurteilt werden ohne Nachfrage, ob diese Freiheiten auch reelle Handlungsmöglichkeiten erfassen. Um es kurz zu machen: Dies findet sich auch in dem gedanklichen Ausgangspunkt des BAG zur hier streitigen Abgrenzung des Selbständigen vom Arbeitnehmer: "Eine besondere Rolle spielt der Inhalt des Vertrages. Dabei kommt allerdings im Grundsatz der Benennung des Vermittlers, der Bezeichnung des Vertragsverhältnisses und dem reinen Wortlaut des Vertrages keine entscheidende Bedeutung zu, weil der wirkliche Gehalt der Tätigkeit maßgebend und deshalb in der Regel vor allem auf die tatsächliche Ausgestaltung und Durchführung des Vertrages abzustellen ist." (BAGE 18, 87 = NJW 1966, 902 L = AP Nr. 2 zu § 92 HGB). Dazu zählt aber auch die Frage der reellen unternehmerischen Chance am Markt, die dem Mitarbeiter nach den Buchstaben des Vertrages vertraglich eingeräumt ist.

Diese Umstände - berufsbegleitende Qualifizierung, faktisch Tätigwerden nur in eigener Person ohne Kapital und Organisation und ohne unternehmerische Chance, außerhalb der Vorgaben der Bekl. innerhalb der Versicherungsbranche, auf die es nur ankommen kann, eine gewinnträchtige Erwerbstätigkeit zu entfalten - gewinnen in der Gesamtabwägung das Übergewicht und veranlassen das Gericht, die Kl. als Arbeitnehmerin zu sehen.

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht