Rechtswidrige Freistellungserklärung für genehmigungspflichtige Anlage

Gericht

BVerwG


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

07. 08. 2012


Aktenzeichen

7 C 7. 11


Leitsatz des Gerichts

Dem Nachbarn einer genehmigungsbedürftigen Anlage steht kein subjektives Recht zu, kraft dessen er sich gegen eine dem Anlagenbetreiber rechtswidrig erteilte Freistellungserklärung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG wenden kann.

Tenor

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 14. Oktober 2010 wird aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 5. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Entscheidungsgründe


Gründe:

I.

Der Kläger begehrt die Aufhebung einer der Beigeladenen erteilten Freistellungserklärung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BlmSchG. Er ist Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks S. in S. Die Beigeladene betreibt auf dem östlich angrenzenden landwirtschaftlichen Betriebsgelände eine Rinderhaltungsanlage in mehreren Ställen. Diese war von Rechtsvorgängern der Beigeladenen in der Zeit von 1957 bis 1988 errichtet und betrieben worden. Ob die Anlage vor dem 1. Juni 1990 nach "DDR-Recht" bauaufsichtlich genehmigt worden ist, ist zwischen den Beteiligten streitig und im Berufungsverfahren nicht weiter aufgeklärt worden. Der Abstand zwischen dem Grundstück des Klägers und dem zur Wohnbebauung nächstgelegenen Stall Nr. 7 der Rinderhaltungsanlage beträgt nach Aktenlage weniger als 100 m.

Mit Schreiben vom 22. September 2005 zeigte die Beigeladene dem Beklagten nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BImSchG eine Änderung der Rinderhaltungsanlage an, die unter anderem eine Umrüstung des Stalles Nr. 7 als Liegeboxenstall für die Haltung von 110 Jungrindern sowie Änderungen des Haltungs- und Lüftungssystems vorsah.

Durch den verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 14. Oktober 2005 stellte der Beklagte fest, dass die geplanten Änderungen keine im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes genehmigungsbedürftigen Änderungen seien. Zur Begründung heißt es dazu im Wesentlichen, aufgrund der mit der Änderungsanzeige vorgelegten Geruchsimmissionsprognose des Ingenieurbüros Dr.-Ing. Wilfried E. erhöhe sich die relative Geruchsstundenhäufigkeit an den Häusern Siedlung 1 bis 8 gegenüber einem Bestand von 1 200 Rindern zwar um 0, 01. Das sei nach der Geruchsimmissions-Richtlinie jedoch irrelevant. Die Anlage werde nach dem Stand der Technik betrieben. Vorsorge- und Schutzpflichten seien erfüllt. Eine Genehmigung nach § 16 BImSchG sei daher nicht erforderlich.

Die dagegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht als unbegründet ab. Auf die Berufung des Klägers änderte das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts und hob den Freistellungsbescheid des Beklagten auf. Der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten als Nachbar. Die angezeigten Veränderungen der Anlage seien wesentlich im Sinne von § 16 Abs. 1 Satz 1 BlmSchG. Die Immissionsprognose komme nur deswegen zur Anwendung der Irrelevanzregelung der Geruchsimmissions-Richtlinie, weil sie fehlerhaft von einem geschützten Bestand von 1 200 Rindern ausgegangen sei.

Mit ihrer vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügt die Beigeladene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Klage gegen den Freistellungsbescheid sei bereits unzulässig, denn dieser könne Rechte Dritter nicht verletzen. Die Freistellungserklärung treffe allein eine Aussage zur formellen Legalität des Änderungsvorhabens. Dadurch könne kein materielles Abwehrrecht eines Dritten beeinträchtigt werden. Anderes ergebe sich nicht daraus, dass die Freistellung einer Stilllegungsanordnung nach § 20 Abs. 2 BImSchG entgegenstehe. Bei einer Verletzung materieller Rechte Dritter könne bauaufsichtsrechtlich eingeschritten werden. Der Kläger habe auch kein subjektives Recht auf Durchführung des gegebenenfalls objektiv gebotenen Genehmigungsverfahrens nach § 19 BImSchG. Darüber hinaus rügt die Beigeladene eine Verletzung von §§ 67a, 67 BImSchG und Verfahrensfehler.

Die Beigeladene beantragt, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 14. Oktober 2010 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 5. Dezember 2007 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil. § 15 BImSchG sei jedenfalls dann zugunsten des Nachbarn drittschützend, wenn die ohne Genehmigung zugelassene Änderung durch unzumutbare Beeinträchtigungen materielle Nachbarrechte verletze. Eine Rechtsbetroffenheit könne sich nicht nur aus dem Tenor eines Bescheides, sondern auch aus seinen unmittelbaren Folgen ergeben. Die angefochtene Mitteilung gebe die Änderung frei und lasse den geänderten Anlagenbetrieb unter Verletzung drittschützender Vorschriften des materiellen Rechts unmittelbar zu. Eine Differenzierung zwischen dem Verfahren nach § 10 BImSchG und dem vereinfachten Verfahren nach § 19 BImSchG finde im Wortlaut der §§ 15, 16 BlmSchG keine Stütze. Bei zutreffender Betrachtung stelle sich allein die beim Rechtsschutzbedürfnis zu verortende Frage, ob ein Antrag auf nachträgliches Einschreiten ein einfacherer und vorrangiger Weg sei. Das sei nicht der Fall. Ein Einschreiten nach § 17 BImSchG oder der Landesbauordnung stehe im Ermessen der Behörde. Dabei sei auch das durch die Freistellung begründete Vertrauen zu berücksichtigen. Die gerügten Verstöße gegen §§ 67, 67a BImSchG und die geltend gemachten Verfahrensmängel lägen nicht vor.

Der Beklagte unterstützt das Vorbringen der Beigeladenen, stellt aber keinen eigenen Antrag.

II.

Der Senat kann im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Revision der Beigeladenen ist begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts unter Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO) stattgegeben und den streitgegenständlichen Freistellungsbescheid vom 14. Oktober 2005 aufgehoben. Die dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts zugrunde liegende Annahme, der Nachbar einer genehmigungsbedürftigen Anlage könne im Wege einer Anfechtungsklage gegen eine Freistellungserklärung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG vorgehen, verstößt gegen die §§ 15, 16 BImSchG.

Es kann dahinstehen, ob der Freistellungsbescheid vom 14. Oktober 2005 rechtmäßig ergangen ist oder die dafür nach § 16 Abs. 1 BImSchG erforderlichen Voraussetzungen nicht vorlagen. Der Freistellungsbescheid verletzt den Kläger jedenfalls nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Eine (mögliche) Verletzung des Klägers in eigenen Rechten lässt sich aus § 15 BImSchG weder unmittelbar noch mit Blick auf § 20 Abs. 2 BImSchG herleiten (1). Der Nachbarschutz wird in den Fällen des § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG namentlich über die §§ 17, 20 Abs. 1 BImSchG ausreichend gewährleistet (2).

1. Wie der Senat bereits mit Urteil vom 28. Oktober 2010 (BVerwG 7 C 2. 10 - Buchholz 406. 25 § 15 BImSchG Nr. 8 Rn. 21 f.) entschieden hat, ist eine Freistellungserklärung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG ein Verwaltungsakt, der bestandskraftfähig ist und dem Bindungswirkung zukommt. Der Regelungsinhalt der Freistellungserklärung beschränkt sich aber auf eine Aussage zur formellen Legalität des Änderungsvorhabens. Sie stellt mit Bindungswirkung ausschließlich fest, dass die geplante Änderung der Anlage keiner förmlichen immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedarf. Die von ihr erzeugte verbindliche Rechtswirkung nach außen besteht (und erschöpft sich) darin, dass die Änderung formell rechtmäßig ist und daher weder Stilllegungsanordnungen nach § 20 Abs. 2 BImSchG ergehen noch an die formelle Illegalität anknüpfende Bußgeld- oder Straftatbestände eingreifen können (Urteil vom 28. Oktober 2010 a. a. O. Rn. 22). Dies folgt aus dem Sinn und Zweck des Anzeigeverfahrens nach den §§ 15, 16 BImSchG, das Verfahren bei unwesentlichen Änderungen einer Anlage zu beschleunigen und den Betreiber - anders als bei der früheren nachträglichen Anzeige von Änderungen - mittels präventiver Kontrolle vor dem Vorwurf der formellen Illegalität zu schützen (Urteil vom 28. Oktober 2010 a. a. O. Rn. 24).

Die vom Gesetzgeber beabsichtigte Verfahrensbeschleunigung und die Ausgestaltung des Anzeigeverfahrens nach den §§ 15, 16 BImSchG als präventives Kontrollverfahren mit kurz bemessenen Fristen und dadurch zwangsläufig beschränkter Prüfungstiefe schließen es aus, den §§ 15, 16 BImSchG selbst drittschützende Wirkung beizumessen. Dem entspricht, dass der Gesetzgeber eine Beteiligung von Nachbarn am Anzeigeverfahren nicht vorgesehen hat. Abweichendes folgt auch nicht daraus, dass sich die Prüfung, ob eine Änderung im Sinne von § 16 Abs. 1 BImSchG "wesentlich" ist, materiell auch auf die in § 1 BImSchG genannten Schutzgüter und darauf erstreckt, ob die Erfüllung der sich aus § 6 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG ergebenden Anforderungen sichergestellt ist. Die materiellrechtliche Prüfung im Anzeigeverfahren ist nur eingeschränkt und nimmt an dem Bindungswirkung vermittelnden Regelungsinhalt der Freistellungserklärung nicht teil (Urteil vom 28. Oktober 2010 a. a. O. Rn. 25/26).

Besteht der Sinn und Zweck des § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG gerade darin, den Anlagenbetreiber vor Maßnahmen zu schützen, die an die formelle Illegalität anknüpfen, folgt daraus zugleich, dass entgegen einer im Schrifttum verbreiteten Auffassung (vgl. etwa Storost, in: Ule/Laubinger/Repkewitz, BImSchG, Stand April 2012, § 15 Rn. C 76; Guckelberger, in: Kotulla, BImSchG, Stand Juni 2011, § 15 Rn. 77) ein Recht des Nachbarn zur Abwehr einer vermeintlich rechtswidrigen Freistellungserklärung auch nicht mit Blick auf § 20 Abs. 2 BImSchG anzunehmen ist. Nach dieser Vorschrift soll die zuständige Behörde anordnen, dass eine Anlage, die ohne die erforderliche Genehmigung errichtet, betrieben oder wesentlich geändert wird, stillzulegen oder zu beseitigen ist (Satz 1). Sie hat die Beseitigung anzuordnen, wenn die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft nicht auf andere Weise ausreichend geschützt werden kann (Satz 2). Dass die formelle Illegalität allein nach Satz 1 nicht nur ausreicht, derart weitgehende behördliche Maßnahmen zu ergreifen, sondern im Regelfall sogar dazu zwingt, erklärt sich aus der Zielrichtung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigungspflicht. Diese besteht nach § 4 Abs. 1 Satz 1 BImSchG für die Errichtung und den Betrieb von Anlagen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit oder ihres Betriebs in besonderem Maße geeignet sind, schädliche Umwelteinwirkungen hervorzurufen oder in anderer Weise die Allgemeinheit oder Nachbarschaft zu gefährden, erheblich zu benachteiligen oder erheblich zu belästigen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen verdeutlichen den Zweck des Genehmigungserfordernisses. Ebenso wie bereits unter der Geltung des § 16 GewO soll sichergestellt werden, dass Anlagen mit einem besonderen Gefährdungspotenzial nur nach vorheriger staatlicher Prüfung errichtet und betrieben oder wesentlich geändert werden dürfen. Im Hinblick darauf dient das - von Ausnahmen abgesehen - aufwendige Genehmigungsverfahren (§§ 10, 19 BImSchG) der Ermittlung und Klärung konkreter Gefahrenquellen sowie der Kontrolle der Mittel zu ihrer Beherrschung. Solange es nicht durchgeführt worden ist, lässt sich regelmäßig nicht absehen, ob sich die vom Gesetz- und Verordnungsgeber angenommene potentielle Gefährlichkeit der Anlage realisieren kann. Aus diesem Grunde schreibt § 20 Abs. 2 Satz 1 BImSchG für den Regelfall die Stilllegung der Anlage vor (Urteil vom 28. Januar 1992 - BVerwG 7 C 22. 91 - BVerwGE 89, 357 [361] = Buchholz 406. 25 § 20 BImSchG Nr. 2 S. 14 [17]).

Es kann dahinstehen, unter welchen Voraussetzungen § 20 Abs. 2 BImSchG drittschützende Wirkung hat. Denn jedenfalls greift die vorstehend beschriebene ratio legis des § 20 Abs. 2 BImSchG in den Fällen des § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG nach dem Regelungskonzept der §§ 15, 16 BImSchG nicht ein. Die zuständige Behörde hat in diesen Fällen schon eine präventive Kontrollfunktion - wenn auch mit beschränkter Prüfungstiefe - wahrgenommen. Allein diese Tatsache rechtfertigt es - ungeachtet des Vorliegens der rechtlichen Voraussetzungen für eine Freistellungserklärung -, dass § 20 Abs. 2 BImSchG keine Anwendung findet. Hinzu kommt, dass das Anzeigeverfahren nach den §§ 15, 16 BImSchG wegen der fehlenden materiellrechtlichen Bindungswirkung regelmäßig nur in einfach gelagerten Fällen Bedeutung erlangen wird. Will der Anlagenbetreiber die aus der beschränkten Regelungswirkung einer Freistellungserklärung folgenden Konsequenzen der Eigenverantwortung für die Übereinstimmung des Änderungsvorhabens mit dem materiellen Recht nicht tragen und ist er auf größere Rechtssicherheit aus, muss und wird er im wohlverstandenen Eigeninteresse von der Option des § 16 Abs. 4 BImSchG Gebrauch machen und ein (vereinfachtes) Genehmigungsverfahren beantragen. Zudem wird die Genehmigungsbehörde, der ein Änderungsvorhaben angezeigt wird, mit Blick auf die kurz bemessene Prüfungsfrist in Zweifelsfällen keine Freistellungserklärung erteilen.

2. Zu einem anderen Verständnis des Regelungskonzepts der §§ 15, 16 BImSchG zwingt auch nicht die Notwendigkeit, den berechtigten Belangen der Nachbarn Rechnung zu tragen. § 17 Abs. 1 und § 20 Abs. 1 BImSchG gewährleisten einen hinreichenden Schutz materieller Nachbarrechte.

Nach § 17 Abs. 1 Satz 2 BImSchG soll die Behörde nachträgliche Anordnungen unter anderem dann treffen, wenn nach einer gemäß § 15 Abs. 1 BImSchG angezeigten Änderung festgestellt wird, dass die Nachbarschaft nicht ausreichend vor schädlichen Umwelteinwirkungen oder sonstigen Gefahren, erheblichen Nachteilen oder erheblichen Belästigungen geschützt ist. Da die Vorschrift, wie schon in ihrem Wortlaut zum Ausdruck kommt, dem Nachbarn Drittschutz vermittelt, hat dieser im Regelfall einen Anspruch auf Einschreiten, sofern seine Rechte von Beeinträchtigungen der vorgenannten Art betroffen sind (Jarass, BImSchG, 8. Aufl. 2010, § 17 Rn. 68). Mangels materieller Rechtswirkungen der Freistellung sind solche Beeinträchtigungen in der Prüfung des Nachbaranspruchs uneingeschränkt zu berücksichtigen. Anordnungen nach § 17 Abs. 1 BImSchG dürfen zwar nicht dazu führen, dass der Weiterbetrieb der Anlage als Ganzer unmöglich wird (vgl. OVG Münster, Urteil vom 9. Juli 1987 - 21 A 1556/86 - NVwZ 1988, 173; Storost, a. a. O. § 17 Rn. D 3); Regelungen, die inhaltlich einer völligen Betriebsuntersagung gleichkommen, lassen sich schon begrifflich nicht als nachträgliche Anordnungen im Sinne des § 17 Abs. 1 BImSchG verstehen (Jarass, a. a. O. Rn. 21). Mit dieser Einschränkung können aber Anforderungen sowohl an die Beschaffenheit der Anlage als auch an den Betriebsablauf und an die Einhaltung von Emissions- und Immissionsgrenzen gestellt werden. Darüber hinaus sind im Falle einer Freistellungserklärung sogar Teilstilllegungen zulässig, sofern sie sich auf die änderungsbetroffenen Anlagenteile beschränken. Denn die Freistellungserklärung begründet wegen ihrer rein formellrechtlichen Wirkung keinen einer Änderungsgenehmigung vergleichbaren Vertrauenstatbestand, der auch insoweit einer Stilllegung entgegenstehen könnte. Kommt der Anlagenbetreiber nachträglichen Anordnungen nicht nach, kann die zuständige Behörde zudem unter den Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 BImSchG den Betrieb der Anlage ganz oder teilweise bis zur Erfüllung der nachträglichen Anordnungen untersagen. Demgemäß lässt sich über die §§ 17 Abs. 1, 20 Abs. 1 BImSchG ein effektiver Schutz der materiellen Nachbarrechte sicherstellen, auch ohne dass der Nachbar auf die Befugnis zur Anfechtung der Freistellungserklärung angewiesen wäre.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Freistellungserklärung etwaige nach anderen Fachgesetzen bestehende Genehmigungserfordernisse unberührt lässt, weil ihr keine Konzentrationswirkung zukommt. Das hat zur Folge, dass etwa nach Maßgabe des Landesrechts ein Baugenehmigungsverfahren durchzuführen sein kann, an welchem der Dritte als Nachbar gegebenenfalls beteiligt werden muss (vgl. § 70 Abs. 1 Musterbauordnung 2002; § 69 Abs. 1 und 2 BauO-LSA); hat der Nachbar dem Vorhaben nicht zugestimmt, ist ihm zudem die Baugenehmigung zuzustellen (§ 70 Abs. 4 Musterbauordnung 2002; § 69 Abs. 4 Satz 1 BauO-LSA). Der Dritte hat in diesen Fällen eine zusätzliche Möglichkeit, seine materiellen Rechte ausreichend geltend zu machen. Dies gilt umso mehr, als der Schutz vor Immissionen im Bauplanungsrecht über das Rücksichtnahmegebot kein anderer ist und nicht geringer ausfällt als der Schutz vor Immissionen nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz (vgl. Urteile vom 30. September 1983 - BVerwG 4 C 74. 78 - BVerwGE 68, 58 = Buchholz 406. 25 § 5 BImSchG Nr. 7 S. 23 [25] und vom 30. September 1983 - BVerwG 4 C 18. 80 - Buchholz 406. 25 § 5 BImSchG Nr. 8 S. 26 [28]; Beschluss vom 22. Februar 1988 - BVerwG 7 B 28. 88 - Buchholz 406. 25 § 5 BImSchG Nr. 11 S. 1 [2]). Zudem bleiben auch bei einer Freistellungserklärung etwaige nach anderen Fachgesetzen (z. B. den Bauordnungen der Länder) bestehende Eingriffsbefugnisse der hierfür zuständigen Behörden und damit gegebenenfalls korrespondierende Ansprüche auf Einschreiten gegen das geänderte Vorhaben unberührt.

Letztlich stehen dem Dritten auch zivilrechtliche Abwehransprüche, wie etwa solche aus §§ 858, 862, 869, 1004 (gegebenenfalls i. V. m. §§ 906 ff. BGB) und § 823 Abs. 1 BGB zur Seite (vgl. Jarass, a. a. O. § 14 Rn. 10), da im Falle einer Freistellung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG wiederum § 14 BImSchG keine Anwendung findet.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, im Hinblick auf die Kosten der Beigeladenen im Berufungsverfahren aus § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe: Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 19. 2 und Nr. 2. 2 des Streitwertkatalogs 2004 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327).

Vorinstanzen

OVG des Landes Sachsen-Anhalt

Normen

BImSchG §§ 15, 16, 17, 20