Sturz vom Apfelbaum ist Arbeitsunfall: Verunglückter muss nicht selbst Besitzer der Obstwiesen sein
Gericht
SG Heilbronn
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
31. 10. 2012
Aktenzeichen
S 6 U 3875/11
Wer eigenständig eine Obstwiese bewirtschaftet und die Früchte darauf zieht, ist Unternehmer eines landwirtschaftlichen Betriebs nach § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB 7.
Die Unternehmereigenschaft erfordert nicht zwingend, dass man Eigentümer eines landwirtschaftlichen Grundstücks ist oder die Beiträge zur Unfallversicherung selbst zahlt.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 7. Juni 2011 und des Widerspruchsbescheids vom 5. Oktober 2011 verpflichtet, das Ereignis vom 6. Oktober 2009 als Arbeitsunfall anzuerkennen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Anerkennung des Ereignisses vom 6. Oktober 2009 als Arbeitsunfall.
Die Mutter des Klägers war zum Unfallzeitpunkt Eigentümerin von rund 60 Ar Grünland, die teilweise mit Obstbäumen bepflanzt sind. Zu den Grundstücken gehört insbesondere die Obstwiese „Bei der Kelter“ in M-L, welches rund 430 Quadratmeter groß ist und mit zehn Bäumen bepflanzt ist.
Am 16. Juli 2010 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er am 6. Oktober 2009 einen Unfall auf dem Baumgrundstück in L. erlitten habe. Er sei vom Baum gefallen und habe sich dabei sein rechtes Fersenbein gebrochen. Zuvor hatte der Kläger im Unfallfragebogen gegenüber der Krankenkasse erklärt: „Beim Apfelpflücken im Garten ist ein Ast abgekracht und ich fiel vom Baum.“ Auf Nachfrage der Beklagten erklärte der Kläger, er habe nach dem Unfall seine Frau mit dem Handy angerufen, die ihn dann gemeinsam mit dem Freund seiner Tochter abgeholt habe. Seine Mutter lebe seit Februar 2006 im Pflegeheim. Er erledige sämtliche anfallende Arbeiten, wie das Ausputzen der Bäume, Mähen und Ernten. In einer Gesprächsnotiz vom 1. April 2011 mit der Ehefrau des Klägers wurde unter anderem festgehalten, der Kläger bewirtschafte die Grundstücke seiner Mutter auf deren Rechnung und Gefahr. Am 20. April 2011 führte der Kläger aus, die im Eigentum seiner Mutter stehenden Grundstücke würden von ihm im Auftrag seiner Mutter bewirtschaftet. Die Äpfel würden zu Apfelsaft verwertet und zum Eigenbedarf verwertet.
Mit Bescheid vom 7. Juni 2011 lehnte die Beklagte eine Entschädigung des Unfalls ab, da es sich nicht um einen entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall gehandelt habe. Die Mutter des Klägers sei nach wie vor Unternehmerin der veranlagten Grundstücke. Das Abernten habe aber dem Haushalt des Klägers gedient, der aber kein landwirtschaftlicher Betrieb sei.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. Oktober 2011 zurückwies. Zur Begründung führte die Beklagte ergänzend zu ihren bisherigen Argumenten im Wesentlichen aus, zum Unfallzeitpunkt habe nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls keine fremdwirtschaftliche Handlungstendenz, d.h. keine auf die Unterstützung des landwirtschaftlichen Unternehmens der Mutter bezogene Handlungstendenz vorgelegen. Der Kläger sei im Rahmen seiner eigenen Haushaltung tätig geworden, die nicht versichert gewesen sei.
Hiergegen richtet sich die Klage. Zur Begründung vertieft der Kläger seinen Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren. Er habe die Äpfel als Entlohnung für die Grundstückspflege erhalten.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 7. Juni 2011 und des Widerspruchsbescheids vom 5. Oktober 2011 zu verpflichten, das Ereignis vom 6. Oktober 2009 als Arbeitsunfall anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung legt sie ergänzend zu den Ausführungen in den angegriffenen Bescheiden dar, der Kläger sei auch kein Wie-Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 SGB VII, da der Kläger aufgrund des Eigeninteresses nicht fremdbestimmt tätig gewesen sei. Die „Entlohnung“ durch die Äpfel begründe keinen Versicherungsschutz, da keine bestimmte Menge zu einer vereinbarten Zeit ausgehändigt worden sei. Dies sei aber nach der Rechtsprechung erforderlich.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat das Gericht den Kläger zu den Umständen des Unfalls und den Grundstücksverhältnissen und seine Ehefrau als Zeugin vernommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogene Akte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Anerkennung des Ereignisses vom 6. Oktober 2009 als Arbeitsunfall.
Nach § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2). Ein Arbeitsunfall setzt danach Folgendes voraus: Eine Verrichtung des Verletzten zur Zeit des Unfalls (genauer: davor) muss den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt haben. Diese Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dieses Unfallereignis muss einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten wesentlich verursacht haben (vgl. BSG vom 27.03.2012 - B 2 U 7/11 R - m. w. N.).
Der Kläger hat sich am 6. Oktober 2009 in Folge des Sturzes vom Apfelbaum einen Fersenbruch und damit einen Gesundheitserstschaden zugezogen. Dieser Unfall ereignete sich im Rahmen der versicherten Tätigkeit. Der Kläger war als Unternehmer eines landwirtschaftlichen Unternehmens nach § 2 Abs. 1 Nr. 5a SGB VII kraft Gesetzes versichert und der Unfall ereignete sich im Rahmen des landwirtschaftlichen Betriebs.
Das Gericht ist nach der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Unfall im Rahmen eines landwirtschaftlichen Unternehmens ereignet hat. Die Obstwiese „Bei der Kelter“ gehört zu einem landwirtschaftlichen Betrieb nach § 123 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII, da der Kläger auf den Grundstücken insbesondere Obstbau betrieben hat und die Grundstücke damit landwirtschaftlich genutzt hat. Aufgrund einer Fläche von insgesamt 60 Ar Grünland liegt auch kein Kleingarten im Sinne des § 123 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII vor. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme besteht kein Zweifel mehr, dass sich der Unfall im Rahmen des landwirtschaftlichen Betriebs auf der Obstwiese „Bei der Kelter“ in M-L ereignet hat. Zwar hat der Kläger zunächst nach dem Unfall angegeben, der Unfall habe sich im Garten ereignet. Er hat aber im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft erklärt, dass er die erhebliche Bürokratie vermeiden wollte, welche die Angabe eines Arbeitsunfalls nach sich zieht. Es erscheint schlüssig, dass er den Arbeitsunfall erst angezeigt hat, nachdem sich eine dauerhafte Einschränkung abgezeichnet hat. Der Kläger hat das Unfallgeschehen im Rahmen der mündlichen Verhandlung detailliert geschildert, ohne sich hierbei in Widersprüche zu verstricken. Seine Angaben decken sich mit dem Vortrag im Rahmen des Verwaltungsverfahrens. Seine als Zeugin vernommene Ehefrau hat die Schilderung des Klägers bestätigt. Es bestanden keinerlei Widersprüche zwischen den beiden Aussagen, weshalb das Gericht eine Vernehmung weiterer Zeugen, beispielsweise des Freundes seiner Tochter, der wie die Ehefrau des Klägers zum Unfallort gefahren ist, entbehrlich ist.
Der Kläger war Unternehmer des landwirtschaftlichen Betriebs. Unternehmer ist nach § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII u.a. derjenige, dem das Ergebnis des Unternehmens unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereicht. Dies war zum Unfallzeitpunkt der Kläger und nicht seine Mutter. Zwar war die Mutter des Klägers die Eigentümerin des Grundstücks und zahlte die Beiträge an die Berufsgenossenschaft. Hierdurch wird sie aber nicht zur Unternehmerin, da der Gesetzeswortlaut nicht auf das Eigentum abstellt, sondern auf das unternehmerische Risiko. Dieses trägt der Kläger. Er bewirtschaftete die Grundstücke. Er hat die Wiese gemäht, die Bäume geschnitten und abgeerntet. Er hat die Ernte für sich selbst verwendet, um hieraus Apfelsaft zu pressen. Er war damit derjenige, der von dem Ergebnis des Unternehmens, nämlich der Apfelernte, profitiert hat. Die Beklagte hat insoweit zutreffend festgestellt, dass die Tätigkeit des Klägers eigenwirtschaftlich motiviert war. Mit Ausnahme der Beitragszahlung hat der Kläger damit die mit der Bewirtschaftung die Hauptlasten der Grundstücke getragen und die Vorteile genossen. Diese Arbeiten erledigte er nicht fremdbestimmt sondern eigenständig, weshalb der Kläger nicht als mitarbeitender Familienangehöriger nach § 2 Abs. 1 Nr. 5b SGB VII oder Wie-Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 SGB VII versichert ist. Diese Alternativen setzen jeweils eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit voraus, die beim Kläger gerade nicht vorliegt. Seine Mutter war seit 2005 im Pflegeheim, weshalb nichts für ein Weisungsverhältnis spricht. Der Kläger war daher Unternehmer und nicht Arbeitnehmer. Eine rein formale Betrachtungsweise, wonach die Unternehmereigenschaft nach § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB 7 Eigentum an den bewirtschafteten Grundstücken oder eine Beitragszahlung erfordert, ist mit dem Wortlaut der Norm nicht in Einklang zu bringen. Eine vom Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung ist auch nicht im Wege einer systematischen Auslegung oder nach Sinn und Zweck der Normen angezeigt. Einerseits besteht für landwirtschaftliche Unternehmen mit Ausnahme von Haus-, Zier- und Kleingärten eine Versicherungspflicht nach § 123 SGB VII auch wenn die Produkte für den Eigenbedarf verwendet werden. Im Gegenzug hat der Gesetzgeber in § 2 Abs. 1 Nr. 5 SGB VII den Kreis der Versicherten entsprechend groß gezogen und unter b) auch die nicht nur vorübergehend mitarbeitenden Familienangehörigen in den Versicherungsschutz einbezogen. Allerdings ist der Kläger dieser Alternative entwachsen, als er nicht mehr im elterlichen Betrieb mitgearbeitet hat, sondern die bestimmende Person des Betriebs wurde, die schließlich nicht für seine Eltern sondern für sich selbst das Grundstück bewirtschaftet hat. Dies kann aber nicht zum Verlust des Versicherungsschutzes führen, da andernfalls eine Lücke im Versicherungsschutz beim Generationenwechsel an landwirtschaftlichen Grundstücken entstünde, die der Systematik des Gesetzes und der Absicht des Gesetzgebers zuwiderlaufen würde. Würde man die Mutter des Klägers weiterhin als Unternehmerin ansehen und den Kläger nicht als mitarbeitenden Familienangehörigen, so bestünde eine Pflichtversicherung ohne dass dieser ein wirksamer Versicherungsschutz gegenüberstünde. Die Mutter des Klägers ist im Pflegeheim und daher der Gefahr eines Arbeitsunfalls im landwirtschaftlichen Betrieb nicht ausgesetzt. Daher ist der Kläger, der die Grundstücke eigenverantwortlich bewirtschaftet und die Früchte daraus zieht, nach § 2 Abs. 1 Nr. 5 Buchst a) SGB 7 kraft Gesetzes versichert.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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