Schweiz: Parteigutachten als bloße Tatsachenbehauptungen

Gericht

Schweizerisches Bundespatentgericht


Art der Entscheidung

Verfügung


Datum

03. 05. 2012


Aktenzeichen

O2012_022


Entscheidungsgründe

Rechtsbegehren der Klägerin (act. 2_1)

Es sei festzustellen, dass der schweizerische Teil des europäischen Patents EP 0000 nichtig ist;

Unter Kosten-und Entschädigungsfolgen zulasten der Beklagten, unter Mitberücksichtigung einer angemessenen Entschädigung für den durch die Klägerin beigezogenen Patentanwalt.


Rechtsbegehren der Beklagten

a) gemäss Klageantwort (act. 2_11)

Die Klage sei abzuweisen.

Unter Kosten- und Entschädigungsfolge.

b) gemäss Duplik (act. 2_30)

1. Die Klage sei abzuweisen.

2. Eventualiter bzw. subeventualiter bzw. sub-subeventualiter bzw. subsubsubeventualiter:

Es sei Vormerk zu nehmen, dass die Beklagte die Patentansprüche 1 und 2 des schweizerischen Teils des EP 0000 wie folgt einschränkt (…);

und es sei die Klage abzuweisen.

Unter Kosten- und Entschädigungsfolge.


Der Präsident zieht in Erwägung,


Vorgeschichte und Prozessablauf

1.
Die Klägerin ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patents EP 0000 (act. 2_1_2; act. 2_1_6; Streitpatent). Sie ist eine Konkurrentin der Beklagten und beabsichtigt, in der Schweiz ein Medikament zu vertreiben (…). Am 18. Juli 2008 reichte sie beim Handelsgericht des Kantons Zürich eine Klage ein, mit der sie die Feststellung der Nichtigkeit des schweizerischen Teils von EP 0000 beantragt (act. 2_1). Die Klägerin weist unter anderem darauf hin, dass Mitbewerberinnen – soweit bekannt – in Deutschland, England, Frankreich, Italien und Spanien entsprechende Nichtigkeitsverfahren eingeleitet hätten.

2.
[Hinweise auf Verfahren betreffend den deutschen Teil des Streitpatents]

3.
[Hinweise auf Verfahren betreffend den englischen Teil des Streitpatents]

4.
Mit Klageantwort vom 7. November 2008 verlangt die Beklagte die kostenfällige Abweisung der Klage (act. 2_11). Am 29. April 2009 erstattete die Klägerin die Replik (act. 2_16), und am 14. September 2009 reichte die Beklagte die Duplik ein, wobei sie neue Eventual- bzw. Subeventualanträge stellte (act. 2_30). Mit Eingabe vom 6. November 2009 nahm die Klägerin zu den als Eventualbegehen gestellten Rechtsbegehren 2 - 5 und zu den Noven in der Duplik Stellung (act. 2_34). Die Beklagte nahm dazu mit einer Eingabe vom 5. Januar 2010 Stellung (act. 2_35). Am 16. März 2010 reichte die Beklagte eine Noveneingabe ein (…). Die Klägerin reichte am 11. Juni 2010 eine Stellungnahme zur Noveneingabe der Beklagten (act. 2_36) ein … (act. 2_40).

5.
[Hinweise auf Verfahren betreffend den französischen Teil des Streitpatents] (…) Die Klägerin reichte am 7. Januar 2011 eine Eingabe ein (act. 2_45). Ebenfalls am 7. Januar 2011 reichte die Beklagte eine Stellungnahme ein … (act. 2_46; act. 2_46_1).

6.
Mit Beschluss vom 17. Januar 2012 überwies das Handelsgericht des Kantons Zürich das Verfahren dem Bundespatentgericht zur Beurteilung (act. 1).

7.
Mit Noveneingabe vom 18. Januar 2012 (act. 3) reichte die Beklagte ein Gutachten des vom Deutschen Bundesgerichtshof bestellten gerichtlichen Sachverständigen Professor Dr. A. vom 27. Juli 2011 (act. 2_1) und ein Gutachten der vom Tribunale di Roma bestellten gerichtlichen Sachverständigen Dr. B. vom 20. Dezember 2011 (act. 3_2) ein. Die Klägerin hielt zur Noveneingabe fest, die zusammen rund 300 Seiten starken ausländischen Gerichtsgutachten seien als Privatgutachten zu qualifizieren. Nachdem sich die Beklagte auf weniger als 2 1/2 Seiten mit den neu eingereichten Dokumenten befasse, seien die in den rund 300 Seiten enthaltenen technischen Überlegungen der Gutachter nicht zu Parteivorbringen geworden. Die nunmehr als Noven eingereichten Dokumente seien ungelesen zu den Akten zu nehmen (act. 5). Die Beklagte beantragte mit Schreiben vom 7. Februar 2012, die mit act. 3 neu eingereichten Beweismittel seien zuzulassen, nachdem die Gutachten sehr wohl Beweismittel seien, nämlich Urkunden im Sinne des Zivilprozessrechts (act. 6).


Prozessuales

8.
Das Bundespatentgericht ist gemäss Art. 41 PatGG für die Beurteilung der per 1. Januar 2012 bei den kantonalen Gerichten anhängigen Verfahren, welche nach Art. 26 PatGG in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, zuständig, sofern die Hauptverhandlung noch nicht durchgeführt wurde. Die Überweisungsverfügung des Handelsgerichts des Kantons Zürich ist von den Parteien nicht angefochten worden. Das Bundespatentgericht ist sachlich zuständig.

9.
Gemäss Art. 27 PatGG richtet sich das Verfahren vor dem Bundespatentgericht nach der schweizerische Zivilprozessordnung ZPO (SR 272), soweit das PatG oder das PatGG nichts anderes bestimmt. Übergangsrechtlich hält Art. 10 Abs. 2 der Richtlinien zum Verfahren vor dem Bundespatentgericht vom 28. November 2011 (www.bpatger.ch) fest, dass die übernommenen Verfahren nach der ZPO weitergeführt werden. Nachdem das Verfahren grossenteils nach der zürcherischen Zivilprozessordnung geführt worden ist, stellen sich übergangsrechtliche Fragen.

9.1 Die Übergangsbestimmung von Art. 41 PatGG regelt ausschliesslich die Übernahme hängiger Verfahren durch das Bundespatentgericht, nicht aber die dabei anzuwendende Verfahrensordnung. Es fehlt somit im PatGG eine Regelung, ob auf die von kantonalen Gerichten übernommenen Fälle die ZPO oder allenfalls das kantonale Verfahrensrecht anzuwenden ist. Im Bundespatentgerichtsgesetz besteht eine Regelung in Bezug auf das anwendbare Verfahrensrecht einzig in Art. 27 PatGG. Diese Bestimmung unterscheidet einerseits zwischen dem spezifisch im PatGG und PatG geregelten Verfahrensrecht und den allgemeinen Regeln gemäss der ZPO. Diese Unterscheidung ist auch übergangsrechtlich zu beachten.

9.2 Nachdem in Art. 27 PatGG die unmittelbare Anwendung der verfahrensrechtlichen Bestimmungen der ZPO angeordnet wird, stellt sich die Frage, ob dieser Verweis auch die Übergangsbestimmungen von Art. 404 ff. ZPO umfasst. Bei Verfahren, die nach Inkrafttreten der ZPO, d.h. nach dem 1. Januar 2011, bei den kantonalen Gerichten anhängig gemacht und an das Bundespatentgericht überwiesen worden sind, stellt sich die Frage des anwendbaren Verfahrensrechts nicht, da auf diese Prozesse vor den kantonalen Gerichten wie vor dem Bundespatentgericht die ZPO anwendbar ist.

Für die Verfahren, die bei Inkrafttreten der ZPO am 1. Januar 2011 rechtshängig waren, bestimmt Art. 404 Abs. 1 ZPO, dass das bisherige Verfahrensrecht, das heisst die entsprechende kantonale Zivilprozessordnung, bis zum Abschluss vor der betroffenen Instanz gilt. Die oberen kantonalen Gerichte und das Bundespatentgericht stehen im Instanzenzug auf derselben Stufe, und es kann gegen deren Entscheide in gleicher Weise ausschliesslich die Beschwerde an das Bundesgericht erhoben werden. Liegt aber bei den an das Bundespatentgericht überwiesenen Fällen kein "Abschluss vor der betroffenen Instanz" gemäss Art. 404 Abs. 1 ZPO vor, kann damit nach Ansicht eines Teils der Lehre kein Wechsel des anwendbaren Prozessrechts begründet werden (Florent Thouvenin, Bundespatentgericht: Verfahrensfragen am Übergang in eine neue Ära, sic! 2011, 479 ff., 489).

9.3 Art. 27 PatGG regelt keine übergangsrechtlichen Fragen, und auch die Botschaften zu PatGG und ZPO äussern sich nicht bzw. nicht einlässlich dazu (Thouvenin, sic! 2011, 489; Botschaft PatGG, BBl 2008, 455 ff., 495). In der Botschaft PatGG (BBl 2008, 463 und 483) wird lediglich in allgemeiner Weise festgehalten, dass auf das Verfahren vor dem Bundespatentgericht grundsätzlich die Zivilprozessordnung Anwendung finde, wobei mit speziellen Bestimmungen im PatGG den Besonderheiten des Patentprozesses Rechnung getragen werde. Von einem Teil der Lehre wird – wie erwähnt – die Auffassung vertreten, dass das bisherige kantonale Verfahrensrecht auch auf Patentprozesse vor dem Bundespatentgericht anwendbar ist, sofern diese im Zeitpunkt des Inkrafttretens der ZPO bereits rechtshängig waren (Thouvenin, sic! 2011, 489, 491; Werner Stieger, Die Zuständigkeit der Schweizer Gerichte für Prozesse über und im Zusammenhang mit Patenten ab 2011, sic! 2010, 21; Ders., Prozessieren über Immaterialgüterrechte in der Schweiz: Ein Quantensprung steht bevor, GRUR Int 2010, 587). Die erwähnten Autoren begründen dabei ihre Ansicht insbesondere damit, dass mangels konkreter Anordnung im PatGG die übergangsrechtliche Frage des anwendbaren Prozessrechts nur nach der ZPO beantwortet werden könne. Die in Art. 404 Abs. 1 ZPO vorgesehene Lösung gelte für alle Zivilprozesse. Andernfalls würde eine übergangsrechtliche Sonderordnung geschaffen, für die sich keine rechtliche Grundlage, insbesondere im PatGG und PatG, sowie keinerlei Anhaltspunkte in den Materialien finden würden. Als weitere Überlegung bringen die Autoren vor, angesichts der zeitlichen Nähe des Inkrafttretens von ZPO und PatGG habe sich diese übergangsrechtlichen Frage in geradezu offensichtlicher Weise gestellt. Dass der Gesetzgeber vor diesem Hintergrund keine spezifische Regel für Patentprozesse geschaffen hat, könne nur dahingehend verstanden werden, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Art. 404 Abs. 1 ZPO auch für diese Prozesse gelten solle. Eine andere Auslegung würde der Änderung der Spielregeln während laufendem Spiel gleichkommen.

9.4 Für die Anwendung der schweizerischen ZPO mit Inkrafttreten des PatGG spricht nun aber der Wortlaut von Art. 27 PatGG selber, wonach sich das Verfahren vor dem Bundespatentgericht nach der Zivilprozessordnung richtet. Dabei kommt Art. 404 Abs. 1 ZPO dann nicht zur Anwendung, wenn ein kantonales Gericht und ein Gericht des Bundes nicht als dieselbe Instanz zu betrachten sind. Sie sind zwar beide erstinstanzliche Gerichte, aber das macht sie nicht zur selben Instanz. So kann es etwa das Bundespatentgericht ablehnen, einen von einem kantonalen Gericht überwiesenen Prozess zu übernehmen. Dies ist nur möglich, wenn zwei verschiedene Instanzen im Spiel sind; zudem ist die Beschwerde an das Bundesgericht gegen den Entscheid des kantonalen Gerichts wie auch gegen denjenigen des Bundespatentgerichts möglich.

Aber auch wenn man Art. 404 Abs. 1 ZPO für anwendbar betrachten würde, mithin davon ausgehen würde, das kantonale Gericht und das Bundespatentgericht seien dieselbe Instanz, und deshalb zum Schluss käme, entsprechend der ZPO müsse das Bundespatentgericht das kantonale Prozessrecht anwenden, so würde dies nichts ändern: Art. 27 PatGG würde als das neuere Recht und als lex specialis der ZPO vorgehen (vgl. auch Alexander Brunner, DIKE-Kommentar-ZPO, Art. 5 RZ 9). Wenn aber bei gewissen Prozessen vor Bundespatentgericht nicht die schweizerische ZPO, sondern eine der 26 kantonalen Zivilprozessordnungen anzuwenden wäre, würde sich die weitere Frage stellen, ob neben der kantonalen Zivilprozessordnung die speziellen Verfahrensbestimmungen des PatGG anzuwenden wären oder nicht. Bei einer ausschliesslichen Anwendung der kantonalen ZPO kann es sich ergeben, dass entscheidende Fragen im Verfahren vor dem Bundespatentgericht nicht geregelt sind. Werden aber neben der kantonalen ZPO im Verfahren vor dem Bundespatentgericht die prozessualen Bestimmungen des PatGG angewendet, können sich Widersprüche und Ungereimtheiten zwischen den verschiedenen Verfahrensbestimmungen, die nicht aufeinander abgestimmt sind, ergeben. Die Gefahr solcher Widersprüche kann mit der sofortigen Anwendung der schweizerischen ZPO vermieden werden, da das PatGG als lex specialis nur dort prozessuale Bestimmungen enthält, wo den Besonderheiten des Patentprozesses Rechnung zu tragen ist (Botschaft PatGG, BBl 2008, 483).

9.5 In allgemeiner Weise bezwecken die Verfahrensbestimmungen des PatGG (wie auch die Schaffung eines Bundespatentgerichts) gleich wie diejenigen der schweizerischen ZPO (statt vieler Thomas Sutter-Somm, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Zürich 2012, RZ 41), das Verfahren in Zivilsachen für die ganze Schweiz einheitlich zu regeln und dadurch die horizontale Rechtszersplitterung zu beseitigen (Botschaft PatGG, BBl 2008, S. 484 zweitletzter Absatz, S. 497 Ziff. 3.3.4; vgl. Stieger, GRUR Int 2010, 575 f.). Dies ist ein entscheidender Hinweis dafür, dass das Bundespatentgericht auch übergangsrechtlich nicht 26 verschiedene kantonale Prozessordnungen, sondern die einheitliche schweizerische Zivilprozessordnung anwenden soll.

9.6 Übergangsrechtlich gilt vorrangig der Grundsatz der sofortigen Anwendbarkeit neuen Verfahrensrechts. Dies bedeutet, dass neues Prozessrecht auf bereits rechtshängige Verfahren sofort und uneingeschränkt anwendbar ist. Das Bundesgericht geht von diesem Grundsatz aus, soweit die Übergangsbestimmungen nichts anderes vorschreiben (BGE 115 II 97; 122 III 324; Basler Kommentar [BSK] ZPOFrei/ Willisegger, Art. 404 RZ 2; Kurzkommentar [KUKO] ZPO-Domej, Art. 404 RZ 1). Art. 404 Abs. 1 ZPO statuiert entsprechend dem Prinzip der Nichtrückwirkung die Weitergeltung des bisherigen Verfahrensrechts, beschränkt diese aber bis zum Abschluss vor der betroffenen Instanz. Die Parteien sollen nicht während des laufenden Verfahrens vor ein und derselben Instanz mit neuem Prozessrecht konfrontiert werden. Sie werden damit in ihrem Vertrauen auf das Weitergelten des bisherigen Rechts (allerdings nur vor der betroffenen Instanz) geschützt (BSK ZPOFrei/ Willisegger, Art. 404 RZ 6; Ivo Schwander, DIKE-Kommentar-ZPO, Art. 404 RZ 20).

Aber auch wenn die kantonalen Zivilprozessordnungen im Verfahren vor dem Bundespatentgericht noch anwendbar wären, würde die Anwendbarkeit des kantonalen Rechts durch die prozessrechtlichen Bestimmungen des PatGG eingeschränkt. Für diese gilt der allgemeine Grundsatz des intertemporalen Zivilprozessrechts, wonach neues Prozessrecht auf rechthängige Verfahren sofort und uneingeschränkt anwendbar ist (Thouvenin, sic! 2011, 490). Die prozessrechtlichen Normen des PatGG sind von Anfang an (und allenfalls in Derogation des kantonalen Prozessrechts) auf alle Verfahren vor Bundespatentgericht anwendbar, unabhängig davon, ob es sich um übernommene oder bei diesen direkt eingeleitete Verfahren handelt. Sofort anwendbar sind somit insbesondere die Bestimmungen über den Ausstand (Art. 28 PatGG), die Vertretung durch Patentanwälte (Art. 29 PatGG), die Kostenfolgen (Art. 30 ff. PatGG) und die Verfahrenssprache (Art. 36 PatGG). Auch dieser Umstand stellt einen Hinweis dafür dar, dass für alle Verfahren vor dem Bundespatentgericht neben den sofort anwendbaren Bestimmungen des PatGG auch die ZPO anzuwenden ist, um damit die Einheitlichkeit der Verfahren und die Gleichbehandlung der Parteien in verschiedenen Prozessen zu gewährleisten.

9.7 Für die Anwendung des kantonalen anstelle des neuen Prozessrechts in einem Verfahren vor gleicher Instanz spricht – wie erwähnt – auch, dass damit innere Widersprüche vermieden werden können, wenn zum Beispiel das neue Verfahrensrecht eine andere Reihenfolge der einzelnen Verfahrensschritte vorsieht oder das Verfahren schriftlich statt mündlich ausgestaltet wird. Eingewendet wird in diesem Zusammenhang aber, die Parteien sollten sich darauf verlassen können, dass die Spielregeln nicht während des Spiels geändert würden (Schwander, DIKE-Kommentar- ZPO, Art. 404 RZ 20; Stieger, sic! 2010, 21). Diesem Einwand ist dadurch Rechnung zu tragen, dass bei der sofortigen Anwendung von PatGG und ZPO die wesentlichen Parteirechte gewahrt werden müssen. Das neue Recht darf also die Position einer Partei im bisher geführten Verfahren nicht verschlechtern. Durfte sich zum Beispiel eine Verfahrenspartei aufgrund des kantonalen Prozessrecht darauf verlassen, dass sie ein bestimmtes Verfahrensrecht – zum Beispiel das Vorbringen neuer Tatsachen, die Einreichung neuer Beweismittel oder Anträge – noch später ausüben kann, darf ihr die bisherige Passivität nicht schaden (Schwander, DIKE-Kommentar-ZPO, Art. 404 RZ 21). Diesen Grundsatz bringt auch Art. 10 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinien BPatGer zum Ausdruck, wonach die Parteien Gelegenheit erhalten, nachzubringen, was sie gemäss dem kantonalen Prozessrecht noch nicht vorbringen mussten oder konnten.

9.8 Damit sind auf das vorliegende Verfahren die ZPO und die prozessrechtlichen Bestimmungen des PatGG anwendbar.

10.
Die Beklagte reichte nach Abschluss des doppelten Schriftenwechsels in einer Noveneingabe aus Parallelprozessen im Ausland Gerichtsgutachten von Professor Dr. A. und Dr. B. ein (act. 3; act. 3_1; act. 3_2). Die Klägerin wandte ein, die Gutachten stellten keine Gutachten im Sinne der ZPO und damit auch keine Beweismittel dar. Wie Privatgutachten seien sie als blosse Parteivorbringen zu qualifizieren, wobei die in den rund 300 Seiten enthaltenen technischen Überlegungen der Gutachter nicht zu Parteivorbringen geworden seien (act. 5; bestritten in act. 6).

10.1 Gemäss Art. 183 Abs. 1 ZPO kann das Gericht auf Antrag einer Partei oder von Amtes wegen bei einer oder mehreren sachverständigen Personen ein Gutachten einholen. Das gerichtliche Gutachten (Gericht als Auftraggeber) ist in der ZPO einlässlich geregelt, wogegen das Privatgutachten im Gesetz nicht erwähnt wird (Dominik Gasser/Brigitte Rickli, Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, Zürich/St. Gallen 2010, Art. 181 RZ 1). In Art. 168 Abs. 1 ZPO sind die zulässigen Beweismittel abschliessend (numerus clausus) aufgezählt; Privatgutachten gehören nicht dazu. Damit ist aber insofern kein Nachteil verbunden, als der Urkundenbegriff gemäss Art. 177 ZPO weit gefasst ist (Gasser/Rickli, Art. 168 RZ 1; Weibel/Nägeli, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Kommentar, Art. 168 RZ 4 und 7; BSK ZPO-Hafner, Art. 168 RZ 1). Der Vorentwurf behandelte Privatgutachten (auch Parteigutachten genannt) als Form des Beweises durch Gutachten (Art. 182 VE-ZPO). Der Gesetzgeber übernahm diesen Vorschlag nicht (Gasser/Rickli, Art. 183 RZ 1; BSK ZPO-Hafner, Art. 168 RZ 4; Weibel, in: Sutter- Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Kommentar, Art. 177 RZ 3). Das Privatgutachten ist somit kein Beweismittel, sondern (einlässlich substantiierte) Parteibehauptung; als solche ist sie zuzulassen (BGE 132 III 83 E. 3.4; Gasser/Rickli, Art. 183 RZ 1; BSK ZPO-Hafner, Art. 168 RZ 4; BSK ZPO-Dolge, Artikel 183 RZ 17; Weibel, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/ Leuenberger, ZPO Kommentar, Art. 177 RZ 4; Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl., vor § 171 ff. ZPO/ZH RZ 4). Das Privatgutachten ist ein Gutachten einer Fachperson, das eine Partei in Auftrag gegeben hat. Wenn sein Inhalt von der Gegenpartei anerkannt wird, kann sich ein gerichtliches Gutachten erübrigen. Ein Privatgutachten kann auch dazu dienen, erhebliche Zweifel an einem Gerichtsgutachten zu wecken und Anlass zu einem Obergutachten zu geben. Jedenfalls hat sich das Gericht in der Urteilsbegründung mit einem Parteigutachten auseinanderzusetzen (BSK ZPO-Dolge, Art. 183 RZ 17; Weibel, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Kommentar, Art. 177 RZ 4; Leuenberger/Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Bern 2010, RZ 9.123; vgl. Heinrich, PatG/EPÜ, Art. 76 RZ 76; Lucas David, Der Rechtsschutz im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, 3. Aufl., Basel 2011, SIWR I/2, RZ 519, mit der Bemerkung, es sei zu hoffen, aber auch zu erwarten, dass das Bundespatentgericht den Parteigutachten einen höheren Stellenwert beimisst als die ordentlichen Gerichte, die solche Gutachten mit dem Hinweis auf unbelegte Parteibehauptungen schon kaum zur Kenntnis nehmen wollten). Im zürcherischen Zivilprozess unterstehen Privatgutachten den gleichen Beschränkungen hinsichtlich des Novenrechts wie andere Tatsachenbehauptungen der Parteien (Frank/Sträuli/Messmer, vor § 171 ff. ZPO/ZH RZ 4). Gemäss der Lehre sind sie auch unter der neuen ZPO in formeller Hinsicht gleich wie alle anderen Tatsachenbehauptungen zu behandeln und damit spätestens bis zu den ersten Parteivorträgen an der Hauptverhandlung (bzw. nach Massgabe des Novenrechts; Art. 229 ZPO) vorzubringen (Weibel, in: Sutter- Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Kommentar, Art. 177 RZ 5). Bei Privatgutachten, die als Parteivorbringen behandelt werden, muss ihr Inhalt grundsätzlich zum Inhalt der Rechtsschriften gemacht werden (Heinrich, PatG/EPÜ, Art. 76 RZ 76).

Bei den von der Beklagten eingereichten Gutachten (act. 3_1; act. 3_2) handelt es sich nicht um Privatgutachten, nachdem diese nicht von der Beklagten (bzw. der Klägerin) in Auftrag gegeben worden sind. Das Argument der Klägerin, diese Gutachten seien, weil es sich um Privatgutachten handle, kein Beweismittel im Sinne der ZPO (act. 5), geht deshalb am Sachverhalt vorbei.

10.2 Ein Gerichtsgutachten liegt vor, wenn das von den Parteien angerufene Gericht eine sachverständige Person instruiert und ihr die abzuklärenden Fragen stellt (Art. 185 Abs. 1 ZPO). Das Expertenmandat ist ein prozessrechtlicher Auftrag sui generis mit werkvertraglichen Elementen. Der Experte hat (teilweise) gerichtlichen Status (Art. 185 Abs. 2 ZPO), und er unterliegt der Ausstandspflicht gemäss Art. 47 ZPO (Gasser/Rickli, Art. 183 RZ 6; Weibel, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Kommentar, Art. 183 RZ 15 und RZ 20, Art. 185 RZ 3; BGer vom 30.08.2011, 4A_286/2011; vgl. Heinrich, PatG/EPÜ, Art. 76 RZ 63 und RZ 76).

Die von der Beklagten eingereichten Gutachten wurden weder vom Bundespatentgericht noch vom Handelsgericht des Kantons Zürich in Auftrag gegeben. Es handelt sich somit nicht um Gerichtsgutachten im Sinne von Art. 183 ff. ZPO bzw. § 171 ff. ZPO/ZH (vgl. Frank/Sträuli/Messmer, RZ 16zu § 171, RZ 2 zu § 172 ZPO/ZH).

10.3 Angesichts des weit gefassten Urkundenbegriffs (Gasser/Rickli, Art. 177 RZ 1; Weibel, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Kommentar, Art. 177 RZ 8 ff.) ist davon auszugehen, dass es sich bei den von der Beklagten eingereichten Gerichtsgutachten aus anderen Prozessen um Urkunden im Sinne von Art. 177 ZPO handelt. Im zürcherischen Zivilprozess können grundsätzlich Beweiserhebungen in andern Prozessen (z.B. Gutachten) in einem späteren Rechtsstreit verwendet werden. Dies ist etwa möglich bei Grundsatzgutachten, die eine Tatsache gerichtsnotorisch machen. In der Regel kann aber ohne Zustimmung der Parteien auf Beweiserhebungen in anderen Verfahren, an denen sie nicht beteiligt waren, nicht abgestellt werden, oder zumindest muss ihnen das Recht auf Ergänzungsfragen gewahrt werden (Frank/Sträuli/Messmer, RZ 13 f. zu § 140 ZPO/ZH). Gutachten aus anderen Gerichtsverfahren sind wie Privatgutachten in formeller Hinsicht gleich, d.h. als Parteibehauptungen), zu behandeln. Sie unterstehen den gleichen Beschränkungen hinsichtlich des Novenrechts (Frank/Sträuli/Messmer, vor § 171 ff. ZPO/ ZH RZ 4). Nach Abschluss des doppelten Schriftenwechsels sind neue Tatsachenbehauptungen und Bestreitungen grundsätzlich ausgeschlossen (§ 114 ZPO/ZH) und nur noch unter den Voraussetzungen von § 115 ZPO/ZH zulässig. Die Ausnahmen von § 115 ZPO/ZH sind eng auszulegen; im Zweifel darf auf ein Novum nicht mehr eingetreten werden (Frank/Sträuli/Messmer, RZ 1 zu § 115 ZPO/ZH).

10.4 In gleicher Weise wie bei Tatsachenbehauptungen hat eine Partei auch bei Privatgutachten oder Gutachten aus anderen Verfahren ihre darauf gestützten Ansprüche möglichst konkret, d.h. substantiiert zu behaupten. Behauptungen (auch wenn sie in Form eines Gutachtens aus einem anderen Verfahren vorgebracht werden) sind in dem Sinne "zu verknüpfen", dass ohne weiteres und ohne unzumutbaren Aufwand ersichtlich ist, mit welchen Urkunden bzw. Beweisanträgen welche Tatsachen bewiesen werden sollen (BGE 115 II 1; 105 II 143; Leuenberger/ Uffer-Tobler, Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen, Bern 1999, RZ 7 zu Art. 161 ZPO/SG; Frank/Sträuli/ Messmer, RZ 3 ff. zu § 113 ZPO/ZH). Die gleichen Grundsätze betreffend Behauptungslast und Substantiierung gelten auch bei Anwendung der neuen ZPO (Leuenberger/Uffer-Tobler, a.a.O., RZ 11.68; Leuenberger, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Kommentar, Art. 221 RZ 43 ff.; BSK ZPO-Frei/Willisegger, Art. 221 RZ 15). Auch bei einer Tatsachenbehauptung durch Gutachten sind die anspruchsbegründenden Tatsachen so konkret wie möglich zu behaupten (Leuenberger, in: Sutter- Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Kommentar Art. 221 RZ 46). Tatsachen, die sich lediglich aus einer Beilage (z.B. Urkunde, Gutachten) zu einer Rechtsschrift ergeben, nicht aber von einer Partei in den Rechtsschriften hinreichend detailliert behauptet worden sind, sind vom Richter nicht zu beachten (BSK ZPO-Frei/Willisegger, Art. 221 RZ 16). Gleiches gilt für Parteigutachten oder Gutachten aus anderen Verfahren. Werden diese eingereicht, so kann in den Rechtsschriften nicht einfach pauschal auf sie verwiesen werden, sondern es "muss ihr Inhalt in der einen oder anderen Form zum Inhalt der Rechtsschriften (Art. 221-225 ZPO) gemacht werden (nicht nur als Beilage zur Rechtsschrift)" (Heinrich, PatG/EPÜ, Art. 76 RZ 76). Diese Grundsätze gelten im Übrigen auch m Einspruchsverfahren vor dem EPA, indem die Tatsachen, die den Einspruch stützen, konkret angegeben werden müssen: Bei einer Druckschrift müssen die Passagen des Standes der Technik, auf die Bezug genommen wird, konkret angegeben werden, mithin darf es nicht der Einspruchsabteilung überlassen werden, in den zitierten Dokumenten von Amtes wegen nach Passagen zu recherchieren, die relevant sein könnten (Günzel in Singer/Stauder, Europäisches Patentübereinkommen, 5. Aufl., Köln 2010, Art. 99 RZ 85 mit Hinweisen).

10.5 In der Noveneingabe (act. 3) gibt die Beklagte lediglich die wenige Zeilen umfassenden Schlussfolgerungen der beiden Gerichtsgutachten aus anderen Verfahren wieder. Unbestrittenermassen gibt die Beklagte diese Schlussfolgerungen zutreffend wieder. Damit stützt sich ihre Behauptung auf die beiden Gutachten und ist entsprechend als Novum zulässig. Nachgewiesen wird damit aber nur, dass in den fraglichen Gutachten diese Schlussfolgerungen gezogen wurden, nicht aber, dass diese zutreffend sind. Dies wird denn auch von der Klägerin bestritten.

Die restlichen Ausführungen in den Gerichtsgutachten, die von der Beklagten in der Noveneingabe nicht behauptet worden sind, sind als Noven nicht zuzulassen. Mithin müssen die Gerichtsgutachten unberücksichtigt bleiben, soweit die Beklagte in der Noveneingabe nicht unter Hinweis auf die konkreten Textstellen entsprechende Behauptungen vorgebracht hat. Wie erwähnt, geht es nicht an, einen Sachverhaltskomplex (d.h. vorliegend die Schlussfolgerung von Gerichtsgutachten) zu schildern und sich zum Beweis am Schluss dieser Behauptungen pauschal auf einen Stoss Akten zu berufen (Leuenberger, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuen- berger, ZPO Kommentar Art. 221 RZ 51). Die Noveneingabe act. 3 mit den beiden Gerichtsgutachten ist somit nur insoweit als Novum zulassen, als in act. 3 konkrete Behauptungen mit Bezug auf die beiden Gerichtsgutachten aufgestellt worden sind. Die Gerichtsgutachten werden entsprechend als Beweismittel dafür zugelassen, dass sie die in act. 3 behaupteten Schlussfolgerungen enthalten. Im Übrigen sind die beiden Gerichtsgutachten unbeachtlich.


Kosten- und Entschädigungsfolgen

11.
Die Gerichts-und Parteikosten werden dem Endentscheid vorbehalten (Art. 104 Abs. 1 ZPO).


Das Präsident verfügt:

1.
Die Noveneingabe (act. 3) mit den beiden eingereichten Gutachten aus anderen Verfahren wird im Sinne der Erwägungen zugelassen.

2.
Die Gerichts- und Parteikosten werden dem Endentscheid vorbehalten.


Diese Verfügung geht an:

– die Klägerin (mit Gerichtsurkunde)
– die Beklagte (mit Gerichtsurkunde)


St. Gallen, 3. Mai 2012


Im Namen des Bundespatentgerichts

Präsident
Dr. iur. Dieter Brändle

Gerichtsschreiber
lic. iur. Jakob Zellweger

Rechtsgebiete

Patentrecht; Verfahrens- und Zwangsvollstreckungsrecht