Bei Arbeitsüberlastung keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Beschluss über sofortige Beschwerde


Datum

23. 11. 1995


Aktenzeichen

V ZB 20/95


Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Bekl. hat gegen das ihm am 8. 8. 1994 zugestellte Urteil des LG vom 23. 6. 1994 mit Schriftsatz seiner Prozeßbevollmächtigten vom 6. 9. 1994 Berufung eingelegt. Der Schriftsatz war an das LG Berlin gerichtet. Er ist am 6. 9. 1994 bei einer gemeinsamen Briefannahme der Justizbehörden bei dem AG Charlottenburg eingegangen und über das LG (12. 9. 1994) und die gemeinsame Briefannahme Justizbehörden Mitte (13. 9. 1994) am 15. 9. 1994 zum KG gelangt. Nach einem in der mündlichen Verhandlung vom 29. 6. 1995 erteilten Hinweis - zuvor war die verspätete Berufungseinlegung nicht aufgefallen - hat der Bekl. mit einem am 6. 7. 1995 eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er - unter Versicherung seines Prozeßbevollmächtigten an Eides statt - vorgetragen: Sein Prozeßbevollmächtigter habe der Büroangestellten J die ausdrückliche Weisung erteilt, die Berufungsschrift an das KG zu adressieren. Daß dies unterblieben sei, habe sein Anwalt bei Unterzeichnung des Schriftsatzes nicht bemerkt und infolge eines Erschöpfungszustands auch nicht erkennen können. Am 17. 3. 1994 sei der langjährige Bürovorsteher der Kanzlei, am 24. 6. 1994 völlig überraschend einer der vier Sozien und am 24. 7. 1994 der Schwiegervater des Anwalts verstorben. Die Gewinnung eines neuen Bürovorstehers habe man als aussichtslos eingeschätzt und daher eine eigene Kraft eingearbeitet, was erhebliche Mehrarbeit mit sich gebracht habe. Nach dem Tode des Sozius habe man erst Mitte August 1994 einen jüngeren Assessor gefunden, der in der Einarbeitungszeit allerdings keine Entlastung gewesen sei. Durch den Tod des Schwiegervaters habe sich der Anwalt zudem um den Fortbestand von dessen Bauunternehmen und um die Regulierung des Nachlasses kümmern müssen. Alles dies habe zu einer Überlastung geführt, die die Besorgnis einer gesundheitlichen Schädigung begründet habe. Als der Anwalt gegen Abend des 6. 9. 1994 die Berufungsschrift unterzeichnet habe, habe er sich am Ende seiner Kräfte gefühlt und den Fehler nicht mehr bemerken können.

Mit Beschluß vom 14. 7. 1995 hat das KG den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung des Bekl. verworfen. Gegen diesen ihm am 28. 7. 1995 zugestellten Beschluß richtet sich die am 10. 8. 1995 eingegangene sofortige Beschwerde, mit der er seinen bisherigen Vortrag wiederholt, im Hinblick auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses jedoch nunmehr vorträgt, der Prozeßbevollmächtigte habe seine Tätigkeit als Anwalt durch Fragen, die im Zusammenhang mit dem Geschäft des verstorbenen Schwiegervaters gestanden hätten, zu keinem Zeitpunkt vernachlässigt und sich voll der Praxis zur Verfügung gestellt. Die sofortige Beschwerde des Bekl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II.

... Das BerGer. hat die Berufung des Bekl. zu Recht verworfen, weil sie nicht rechtzeitig eingelegt worden ist und weil die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist nicht in Betracht kommt.

1. Die am 15. 9. 1994 an das BerGer. gelangte Berufung war verspätet. Die Berufungsfrist war nämlich mit Ablauf des 8. 9. 1994, einen Monat nach der am 8. 8. 1994 erfolgten Zustellung des erstinstanzlichen Urteils, verstrichen (§ 516 ZPO). Daß die Berufung vor Ablauf dieser Frist, am 6. 9. 1994, zunächst bei einer gemeinsamen Briefannahme der Justizbehörden bei dem AG Charlottenburg eingegangen war, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Berufungsschrift war nämlich nicht an das zuständige KG, sondern an das LG Berlin gerichtet. Durch die Einrichtung einer gemeinsamen Briefeinlaufstelle wird aber nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH nichts daran geändert, daß jedes der angeschlossenen Gerichte für sich Empfänger dort eingehender Schriftstücke ist. Mit dem Eingang bei einer solchen Stelle ist daher ein Schriftsatz nur bei dem Gericht eingereicht, an das es gerichtet ist (BGH, BGHRZPOO § 518 Abs. 1Berufungsgericht 1; NJW 1990, 990; NJW-RR 1993, 254).

2. Auch die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist hält einer rechtlichen Prüfung stand. Nach § 233 ZPO setzt die Wiedereinsetzung voraus, daß die Partei ohne ihr Verschulden gehindert war, die Frist einzuhalten. Dabei steht ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleich (§ 85II ZPO). Hier ist die Fristversäumung dem Prozeßbevollmächtigten des Bekl. anzulasten.

a) Die fehlerhafte Adressierung der Berufungsschrift ist nicht deswegen dem Verantwortungsbereich des Anwalts entzogen, weil er - wie der Bekl. vorgetragen hat - eine Büroangestellte ausdrücklich angewiesen hat, das Schreiben an das zuständige KG zu richten. Ein Rechtsanwalt darf nämlich die Anfertigung einer Rechtsmittelschrift nicht eigenverantwortlich seinem - auch gut ausgewählten und geschulten - Büropersonal überlassen. Vielmehr muß der Unterzeichnung stets eine eigene anwaltliche Überprüfung auf Vollständigkeit und richtige Adressierung vorausgehen. Er trägt die persönliche Verantwortung dafür, daß eine Rechtsmittelschrift bei dem richtigen Gericht eingeht (st. Rspr. des BGH, s. etwa BGHR ZPO § 233 Rechtsmittelschrift 2; ZPORZPOO § 233Rechtsmittelschrift 5; NJW 1990, 990).

b) Es entlastet den Prozeßbevollmächtigten des Bekl. auch nicht, daß seine Fähigkeit zu konzentrierter Arbeit infolge der durch die Todesfälle bedingten Arbeitsüberlastung und die Sorge um den Lebensunterhalt der Schwiegermutter im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Berufungsschriftsatzes sehr eingeschränkt war. Allerdings ist es anerkannt, daß eine krankheitsbedingte Fristversäumung des Anwalts unter besonderen Voraussetzungen, insbesondere bei einer plötzlich auftretenden Erkrankung, für die der Anwalt keine Vorsorge treffen konnte, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen kann (vgl. BGH, LM § 233 (Fe) ZPO Nr. 5 = MDR 1967, 585; VersR 1987, 785). Mit dieser Konstellation ist der vorliegende Fall jedoch nicht vergleichbar. Die Arbeitsüberlastung und die damit einhergehende körperliche Überanstrengung war kein Umstand, der sich plötzlich und für den Prozeßbevollmächtigten des Bekl. unvorhersehbar ereignet hätte. Vielmehr hatte sich diese Situation seit Juli 1994 entwickelt und war - wie der Bekl. hat vortragen lassen - ab Mitte August 1994 immer kritischer geworden. Auch dem Prozeßbevollmächtigten des Bekl. war in dieser Zeit nicht entgangen, daß dies auf seine physische Konstitution nicht ohne Auswirkungen geblieben war. Dies ergibt sich daraus, daß er mit einem befreundeten Arzt gesprochen hatte, der von ihm einen “ungewöhnlich abgespannten krankhaften Eindruck" gewonnen und ihm dringend geraten hatte, “so schnell wie nur irgend möglich Abhilfe zu schaffen und auszuspannen, weil sonst die Gefahr eines völligen Zusammenbruchs bestehe”. Angesichts dessen durfte der Anwalt nicht darauf vertrauen, daß er der Belastung auch weiterhin würde standhalten können, ohne Fehler zu begehen. Vielmehr mußte er Sorge dafür tragen, daß seine körperliche Verfassung nicht nachteilige Auswirkungen auf die Vertretung der Mandanten haben würde, etwa durch Bestellung eines Vertreters (§ 53 BRAO), um die eigene Schaffenskraft, wie von dem Arzt empfohlen, schnellstmöglich wieder herzustellen, oder durch anderweite Verteilung der Geschäfte innerhalb der Kanzlei. Der Bekl. hat nämlich nichts dazu vorgetragen, daß die Sozien ebenfalls so belastet gewesen seien, daß die Notwendigkeit einer pflichtgemäßen Erledigung der Geschäfte weitere Umschichtungen nicht zugelassen hätte.

Darüber hinaus hat der Prozeßbevollmächtigte aber auch am Tage der Unterzeichnung des Berufungsschriftsatzes selbst - so ist von dem Bekl. vorgetragen worden - gefühlt, daß er “am Ende” seiner “Kräfte” war. Wenn er eine derartige Schwächung bemerkte, so liegt auch darin ein Verschulden, daß er gleichwohl den fristwahrenden Schriftsatz unterzeichnete, ohne die Konzentration aufbringen zu können, ihn auf die richtige Adressierung hin zu überprüfen. Es bestand nämlich keine Notwendigkeit, den Schriftsatz noch am selben Tage zu unterschreiben. Die Berufungsfrist lief noch zwei Tage länger, bis zum 8. 9. 1994. Der Schriftsatz hätte also, ohne daß eine Versäumung zu besorgen gewesen wäre, auch noch am nächsten Morgen bei wiederhergestellter Konzentrationsfähigkeit unterzeichnet und ausgefertigt werden können.

Rechtsgebiete

Verfahrens- und Zwangsvollstreckungsrecht