Verspäteter Zubringerflug

Gericht

LG Frankfurt a.M.


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

23. 09. 2010


Aktenzeichen

2-24 S 28/10


Entscheidungsgründe


Gründe

I.

Die Kläger hatten für sich und ihren Sohn bei der Beklagten eine Flugreise von Frankfurt a.M. über Prag nach Toronto und zurück gebucht. Da sich der Abflug in Frankfurt a.M. am 21.12.07 um 1½ Stunden verzögert hatte, erreichten sie in Prag den Anschlussflug nach Toronto nicht mehr. Die Beklagte beförderte sie erst am folgenden Tag. Sie erreichten Toronto mit einer Verspätung von 24 Stunden.

Sie verlangten in 1. Instanz für sich und aus abgetretenem Recht ihres Sohnes eine Ausgleichszahlung gem. EG Verordnung Nr. 261/04 von jeweils 600,-, ferner Schadensersatz von 650,- € und 50,- € Kostenpauschale, weil sie wegen des ihnen erst in der Nacht vom 26.12. auf den 27.12. ausgelieferten Reisegepäcks Ersatzkleidung und Hygieneartikel hätten kaufen müssen.

Die Kläger haben beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 2.500,- € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.3.08 sowie vorgerichtlich entstandene Anwaltskosten in Höhe von 387,82 € zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich darauf berufen, dass der Flug nicht annulliert worden sei und somit kein Anspruch auf eine Geldzahlung bestünde.

Das Amtsgericht hat Ausgleichszahlungen gem. Verordnung (EG) Nr. 261/04 sowie teilweise die vorgerichtlichen Anwaltskosten zugesprochen: Laut Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.09 (Az:: C-402/07 und C-432/07) stünde nicht nur den Fluggästen annullierter Flüge, sondern auch den Fluggästen verspäteter Flüge ein Anspruch auf eine Geldzahlung zu. Entscheidend sei, dass die Flugbeförderung von Frankfurt a.M. nach Toronto nach der Ratio der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs als einheitlicher Flug anzusehen sei. Den Anspruch auf Ersatz von Verzugsschaden hat es abgewiesen, weil dieser Schaden nicht ausreichend vorgetragen und nicht unter Beweis gestellt worden sei.

Die Beklagte hat gegen das am 12.1.10 zugestellte Urteil mit am 12.1.10 beim Landgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und mit am 10.3.10 eingegangenem Schriftsatz begründet.

Sie rügt, das Amtsgericht habe die Verordnung (EG) Nr. 261/04 und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs rechtsfehlerhaft ausgelegt. Beide stellten nicht nur auf eine große Verspätung am Endziel ab. Allein eine Abflugverspätung könne den Anspruch auslösen. Wie der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 30.4.09 (Az.: Xa ZR 78/08) entschieden habe, stehe einem Fluggast, der seinen Flug wegen eines verspäteten Zubringerflugs nicht erreiche, ein solcher Anspruch nicht zu.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung der angefochtenen Entscheidung, die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen die angefochtene Entscheidung.


II.

Die zulässige, insbesondere fristgemäß eingelegte und begründete Berufung hat in der Sache Erfolg.

Den Klägern steht der geltend gemachte Ausgleichsanspruch nicht zu. Die in Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/04 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.2.04 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (FluggastVO) in Verbindung mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.09 hierfür aufgestellten Voraussetzungen liegen nicht vor.

Der Flug war weder annulliert, noch den Klägern die Fortsetzung der Reise verweigert worden, noch war er in einem den Anspruch auslösenden Umfang verspätet. Die Abflugverspätung in Frankfurt a.M. betrug nur 1½ Stunden. Hieraus leiten die Kläger auch keine Rechte ab. Der Abflug des gebuchten Fluges in Prag und die Ankunft in Toronto waren pünktlich. Nicht der Flug, sondern die Fluggäste waren verspätet. Kann der Beförderungsvorgang nicht ausgeführt werden, weil die Fluggäste bis zum Abflug nicht erschienen sind, löst dies die in der FluggastVO geregelte Rechtsfolgen auch dann nicht aus, wenn dies von der Fluggesellschaft zu vertreten ist (BGH Urt. vom 30.4.09 TranspR 2009, 323; BGH Urt. vom 28.5.09 NJW 09, 2743). Gegenteiliges hat der Europäische Gerichtshof nicht bejaht.

Somit sind auch zur Durchsetzung dieses vermeintlichen Anspruchs vor Prozessbeginn aufgewendete Anwaltskosten nicht zu ersetzen. Aus dem Montrealer Abkommen oder sonstige, aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch abgeleitete Ansprüche werden in 2. Instanz weder geltend gemacht, noch sind solche ersichtlich.

Selbst wenn man die beiden Flüge als Einheit betrachtet und nur auf den Abflug in Frankfurt a.M. und die Ankunft in Toronto abstellt, löst allein eine um mehr als 3 Stunden verspätete Ankunft am Endziel den Ausgleichsanspruch nicht aus.

Aus einer Analogie zu Art. 7 der FluggastVO lässt sich der Anspruch nicht herleiten. Ausgleichszahlungen sind in der FluggastVO nur bei Annullierung oder Verweigerung der Beförderung vorgesehen. Verzögert sich der Abflug gegenüber der planmäßigen Abflugzeit, sind den Fluggästen gem. Art. 6 FluggastVO nur Unterstützungsleistungen anzubieten. Da diese unterschiedlichen Rechtsfolgen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen, hat der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 19.11.2009 (Az.: C-402/07 und C-432/07) festgestellt, dass die Fluggäste verspäteter Flüge den in Art. 7 der Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen solcher Flüge einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (Leitsatz 2; Rn Nr. 61). Verspätet im Sinne des Art. 6 FluggastVO sind aber nur Flüge, bei denen sich die Abflugzeit verzögert. Auf verspätete Ankunft stellt der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht ab. Deshalb hat der Europäische Gerichtshof in seiner obengenannten Entscheidung unter Ziffern 31, 32 nochmals ausdrücklich definiert, dass unter verspäteten Flügen nur solche zu verstehen sind, bei denen sich der Abflug verzögert. Soweit der Gerichtshof darauf abstellt, dass ein Anspruch besteht, wenn der Zielort nicht früher als drei Stunden nach der geplanten Ankunftszeit erreicht wird, schafft er keine neue Anspruchsgrundlage, sondern schränkt den bei einer relevanten Abflugverspätung bejahten Ausgleichsanspruch dahingehend ein, dass er entfällt, falls das Endziel gleichwohl mit einem Zeitverlust von unter drei Stunden erreicht wird (EuGH vom 19.11.09 Rn 57). Eine weitergehende Auslegung dahingehend, dass jeder Zeitverlust über drei Stunden entschädigt werden sollte, auch wenn er nicht abflugbedingt ist, verbietet sich: Dann hätte der Europäische Gerichtshof neben den vom Gemeinschaftsgesetzgeber geschaffenen drei Tatbeständen, die Ansprüche des Fluggastes zur Folge haben, als Gesetzgeber einen weiteren Tatbestand, den der Ankunftsverspätung, geschaffen. Da die FluggastVO aber keine umfassende Regelung von Flugverspätungen enthält, sondern nur einen Mindestschutz gewährt - Art. 12 der VO verweist bezüglich weitergehender Ansprüche auf das nationale Recht -, liegt keine (vermeintlich) planwidrige Lücke vor, die durch Schaffung einer weiteren Anspruchsgrundlage geschlossen werden könnte. Eine solche Analogiebildung würde die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung überschreiten und scheidet damit aus. Die Entscheidung des Gerichtshofs bezieht sich nur auf die Rechtfolgen eines verspäteten Abflugs (BGH RRa 2010, 155, Rz 11 zit. nach juris; Staudinger RRa 2010, 93).

Im Übrigen lässt sich aus der Absicht des Europäischen Gerichtshofs, den Verbraucherschutz zu stärken, nicht ableiten, dass er nunmehr eine aus mehreren Segmenten bestehende Flugreise zu einem Flug im Sinne de FluggastVO zusammenfassen will. In seiner Entscheidung vom 19.11.09 definiert er unter Ziffer 30 einen „Flug“ als einen Beförderungsvorgang nach einer vom Luftfahrtunternehmen festgelegten Flugroute und verweist im Übrigen auf seine Entscheidung vom 10.7.08 (Az.: C-173/07). Dort führt er unter Ziffern 32, 40 aus, dass sich eine Reise aus mehreren Flügen, die jeweils einen „Luftbeförderungsvorgang“ darstellen, zusammensetzen kann. Unter „Endziel“ ist der Zielort des letzten Fluges zu verstehen (Ziffer 33).

Einzelne Segmente der Flugreise werden zwar durch den mit dem Luftfahrtunternehmen abgeschlossenen Beförderungsvertrag zu einer Reise verbunden. Von dieser vertraglichen Ebene her lässt sich aber Beginn und Ende des Beförderungsvorgangs im Sinne der FluggastVO nicht herleiten. Der Ausgleichsanspruch ist kein vertraglicher Anspruch. Schuldner der Ausgleichszahlung ist nicht der Vertragspartner des Fluggastes, sondern der faktische Beförderer. Bei mehreren Abschnitten einer Reise können dies verschiedene Fluggesellschaften sein.

Die unterliegende Partei hat die Kosten gem. § 91 Abs. 1 ZPO zu tragen.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Wie der Bundesgerichtshof nach seinem Vorlageschluss vom 17.7.07 (RRa 07, 233) bereits ausgeführt hat (BGH Urt. vom 30.4.09 (TranspR 09, 323 Rz 17)) kann kein Zweifel daran bestehen, dass die FluggastVO so, wie hier ausgelegt, zu verstehen ist und das Vorlageverfahren, das zur Entscheidung vom 19.11.09 geführt hat, einen anders gelagerten Sachverhalt betrifft. Deswegen besteht kein Anlass zu einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof.

Da der Leitsatz 2 der der Entscheidung des Bundesgerichtshofs nachfolgenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.09 aber den Eindruck erwecken kann, dass bei einem um mehr als 3 Stunden verspäteten Erreichen des Endziels ein Ausgleichsanspruch gegeben ist und die Entscheidung des Bundesgerichtshofs dadurch überholt ist, war zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Revision zuzulassen.

Rechtsgebiete

Reiserecht