Automatisches Beschäftigungsende nach Erreichen einer Altersgrenze nicht diskriminierend
Gericht
EuGH
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
12. 10. 2010
Aktenzeichen
C‑45/09
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Rosenbladt und der Oellerking Gebäudereinigungsges. mbH (im Folgenden: Oellerking) wegen der Voraussetzungen für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses von Frau Rosenbladt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Der 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 lautet:
„Das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters stellt ein wesentliches Element zur Erreichung der Ziele der beschäftigungspolitischen Leitlinien und zur Förderung der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung dar. Ungleichbehandlungen wegen des Alters können unter bestimmten Umständen jedoch gerechtfertigt sein und erfordern daher besondere Bestimmungen, die je nach der Situation der Mitgliedstaaten unterschiedlich sein können. Es ist daher unbedingt zu unterscheiden zwischen einer Ungleichbehandlung, die insbesondere durch rechtmäßige Ziele im Bereich der Beschäftigungspolitik, des Arbeitsmarktes und der beruflichen Bildung gerechtfertigt ist, und einer Diskriminierung, die zu verbieten ist.“
Der Zweck der Richtlinie 2000/78 besteht nach ihrem Art. 1 in der „Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“.
Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) der Richtlinie 2000/78 sieht vor:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:
i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, oder
ii) der Arbeitgeber oder jede Person oder Organisation, auf die diese Richtlinie Anwendung findet, ist im Falle von Personen mit einer bestimmten Behinderung aufgrund des einzelstaatlichen Rechts verpflichtet, geeignete Maßnahmen entsprechend den in Artikel 5 enthaltenen Grundsätzen vorzusehen, um die sich durch diese Vorschrift, dieses Kriterium oder dieses Verfahren ergebenden Nachteile zu beseitigen.
…“
Art. 6 („Gerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen des Alters“) der Richtlinie 2000/78 lautet:
„(1) Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.
Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:
a) die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen;
b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile;
c) die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand.
(2) Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit die Festsetzung von Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität einschließlich der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen im Rahmen dieser Systeme für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen bzw. Kategorien von Beschäftigten und die Verwendung im Rahmen dieser Systeme von Alterskriterien für versicherungsmathematische Berechnungen keine Diskriminierung wegen des Alters darstellt, solange dies nicht zu Diskriminierungen wegen des Geschlechts führt.“
Art. 16 („Einhaltung“) der Richtlinie 2000/78 lautet:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass
a) die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz zuwiderlaufen, aufgehoben werden;
b) die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vereinbarenden Bestimmungen in Arbeits- und Tarifverträgen, Betriebsordnungen und Statuten der freien Berufe und der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen für nichtig erklärt werden oder erklärt werden können oder geändert werden.“
Nationales Recht
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
Die Richtlinie 2000/78 wurde in die deutsche Rechtsordnung durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (AGG, BGBl. I S. 1897) umgesetzt. § 1 („Ziel des Gesetzes“) AGG lautet:
„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“
§ 2 („Anwendungsbereich“) AGG sieht vor:
„(1) Benachteiligungen aus einem in § 1 genannten Grund sind nach Maßgabe dieses Gesetzes unzulässig in Bezug auf:
…
2. die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich Arbeitsentgelt und Entlassungsbedingungen, insbesondere in individual- und kollektivrechtlichen Vereinbarungen und Maßnahmen bei der Durchführung und Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses sowie beim beruflichen Aufstieg,
…
(4) Für Kündigungen gelten ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz.
…“
§ 7 („Benachteiligungsverbot“) Abs. 1 AGG lautet:
„Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.“
§ 10 („Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen des Alters“) AGG bestimmt:
„(1) Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein. Derartige unterschiedliche Behandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:
…
5. eine Vereinbarung, die die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der oder die Beschäftigte eine Rente wegen Alters beantragen kann; § 41 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch bleibt unberührt,
…“
In der Zeit vom 18. August bis 11. Dezember 2006 führte § 10 AGG unter den zulässigen unterschiedlichen Behandlungen wegen des Alters auch die in der folgenden Nummer genannte auf:
„7. die individual- oder kollektivrechtliche Vereinbarung der Unkündbarkeit von Beschäftigten eines bestimmten Alters und einer bestimmten Betriebszugehörigkeit, soweit dadurch nicht der Kündigungsschutz anderer Beschäftigter im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 des Kündigungsschutzgesetzes grob fehlerhaft gemindert wird“.
Sozialgesetzbuch
In der Zeit vom 1. Januar 1992 bis 31. Juli 1994 hatte § 41 Abs. 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) folgende Fassung:
„Der Anspruch des Versicherten auf eine Rente wegen Alters ist nicht als ein Grund anzusehen, der die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nach dem Kündigungsschutzgesetz bedingen kann. Bei einer Kündigung aus dringenden betrieblichen Erfordernissen darf bei der sozialen Auswahl der Anspruch eines Arbeitnehmers auf eine Rente wegen Alters vor Vollendung des 65. Lebensjahres nicht berücksichtigt werden. Eine Vereinbarung, wonach ein Arbeitsverhältnis zu einem Zeitpunkt enden soll, in dem der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Rente wegen Alters hat, ist nur wirksam, wenn die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt geschlossen oder von dem Arbeitnehmer bestätigt worden ist.“
Auf der Grundlage dieser Bestimmung beurteilte die innerstaatliche Rechtsprechung tarifvertragliche Regelungen, wonach mit Vollendung des 65. Lebensjahrs das Arbeitsverhältnis automatisch enden sollte, als nichtig (Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 1. Dezember 1993 – 7 AZR 428/93 – BAGE 75, 166).
Daraufhin wurde der Gesetzgeber tätig, um zu vermeiden, dass die in Tarifverträgen festgelegten Altersgrenzen gemäß dieser Rechtsprechung als nichtig behandelt würden. Infolgedessen lautete § 41 Abs. 4 Satz 3 SGB VI in der Zeit vom 1. August 1994 bis 31. Juli 2007 wie folgt:
„Eine Vereinbarung, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, in dem der Arbeitnehmer vor Vollendung des 65. Lebensjahres eine Rente wegen Alters beantragen kann, gilt dem Arbeitnehmer gegenüber als auf die Vollendung des 65. Lebensjahres abgeschlossen, es sei denn, dass die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen oder von dem Arbeitnehmer bestätigt worden ist.“
Seit dem 1. Januar 2008 hat § 41 („Altersrente und Kündigungsschutz“) SGB VI folgende Fassung:
„Der Anspruch des Versicherten auf eine Rente wegen Alters ist nicht als ein Grund anzusehen, der die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nach dem Kündigungsschutzgesetz bedingen kann. Eine Vereinbarung, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der Arbeitnehmer vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen Alters beantragen kann, gilt dem Arbeitnehmer gegenüber als auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgeschlossen, es sei denn, dass die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen oder von dem Arbeitnehmer innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt bestätigt worden ist.“
Tarifvertragsgesetz
In der Zeit vom 28. November 2003 bis 7. November 2006 lautete § 5 („Allgemeinverbindlichkeit“) Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes (BGBl. 1969 I S. 1323):
„Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich erklären, wenn
1. die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und
2. die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.
Von den Voraussetzungen der Nummern 1 und 2 kann abgesehen werden, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen Notstands erforderlich erscheint.“
Allgemeingültiger Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Beschäftigten in der Gebäudereinigung
Seit 1987 sieht § 19 Nr. 8 des Rahmentarifvertrags für die gewerblichen Beschäftigten in der Gebäudereinigung (RTV) vor:
„Sofern einzelvertraglich nicht anderes vereinbart ist, endet das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des Kalendermonats, in dem der/die Beschäftigte Anspruch auf eine Rente wegen Alters hat, … spätestens mit Ablauf des Monats, in dem der/die Beschäftigte das 65. Lebensjahr vollendet hat.“
Mit einer Bekanntmachung vom 3. April 2004 erklärte das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit diesen Tarifvertrag mit Wirkung vom 1. Januar 2004 für allgemeinverbindlich.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die berufliche Tätigkeit von Frau Rosenbladt bestand 39 Jahre lang darin, in einer Kaserne in Hamburg-Blankenese (Deutschland) zu reinigen.
Seit dem 1. November 1994 war Frau Rosenbladt beim Reinigungsunternehmen Oellerking mit einer Bruttomonatsvergütung von 307,48 Euro teilzeitbeschäftigt (zwei Stunden pro Tag, zehn Stunden pro Woche).
Dieser Arbeitsvertrag sieht vor, dass er gemäß § 19 Nr. 8 RTV mit Ablauf des Kalendermonats endet, in dem die Beschäftigte Anspruch auf eine Rente wegen Alters hat, spätestens mit Ablauf des Monats, in dem sie das 65. Lebensjahr vollendet hat.
Gemäß dieser Regelung teilte Oellerking Frau Rosenbladt am 14. Mai 2008 mit, dass ihr Arbeitsvertrag wegen Eintritts in das Rentenalter mit dem 31. Mai 2008 ende.
Mit Schreiben vom 18. Mai 2008 teilte Frau Rosenbladt ihrem Arbeitgeber mit, dass sie weiterhin arbeiten wolle. Trotz ihres Widerspruchs endete ihr Arbeitsverhältnis am 31. Mai 2008. Oellerking bot Frau Rosenbladt jedoch ein Prozessarbeitsverhältnis ab 1. Juni 2008 an.
Am 28. Mai 2008 erhob Frau Rosenbladt beim Arbeitsgericht Hamburg eine Klage gegen ihren Arbeitgeber. Sie macht geltend, dass die Beendigung ihres Arbeitsvertrags unzulässig sei, da sie eine Diskriminierung wegen des Alters darstelle. Eine Altersgrenze wie die in § 19 Nr. 8 RTV vorgesehene könne weder nach Art. 4 noch nach Art. 6 der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt sein.
Seit dem 1. Juni 2008 bezieht Frau Rosenbladt eine Rente aus der gesetzlichen Altersversorgung in Höhe von monatlich 253,19 Euro, entsprechend 228,26 Euro netto.
Das vorlegende Gericht hegt Zweifel, ob die in § 19 Nr. 8 RTV enthaltene Klausel über die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen mit dem durch das Primärrecht der Union und die Richtlinie 2000/78 gewährleisteten Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf in Einklang steht.
Unter diesen Umständen hat das Arbeitsgericht Hamburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind nach Inkrafttreten des AGG kollektivrechtliche Regelungen, die nach dem Merkmal Alter differenzieren, mit dem Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 vereinbar, ohne dass das AGG dies (wie früher in § 10 Satz 3 Nr. 7 AGG) ausdrücklich gestattet?
2. Verstößt eine innerstaatliche Regelung, die dem Staat, den Tarifvertragsparteien und den Parteien eines einzelnen Arbeitsvertrags erlaubt, eine automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen zu einem bestimmten festgelegten Lebensalter (hier: Vollendung des 65. Lebensjahrs) zu regeln, gegen das Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, wenn in dem Mitgliedstaat seit Jahrzehnten ständig entsprechende Klauseln auf die Arbeitsverhältnisse fast aller Arbeitnehmer angewendet werden, gleichgültig, wie die jeweilige wirtschaftliche, soziale, demografische Situation und die konkrete Arbeitsmarktlage war?
3. Verstößt ein Tarifvertrag, der es dem Arbeitgeber erlaubt, Arbeitsverhältnisse zu einem bestimmten festgelegten Lebensalter (hier: Vollendung des 65. Lebensjahrs) zu beenden, gegen das Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, wenn in dem Mitgliedstaat seit Jahrzehnten ständig entsprechende Klauseln auf die Arbeitsverhältnisse fast aller Arbeitnehmer angewendet werden, gleichgültig, wie die jeweilige wirtschaftliche, soziale und demografische Situation und die konkrete Arbeitsmarktlage ist?
4. Verstößt der Staat, der einen Tarifvertrag, der es dem Arbeitgeber erlaubt, Arbeitsverhältnisse zu einem bestimmten festgelegten Lebensalter (hier: Vollendung des 65. Lebensjahrs) zu beenden, für allgemeinverbindlich erklärt und diese Allgemeinverbindlichkeit aufrechterhält, gegen das Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, wenn dies unabhängig von der jeweils konkreten wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Situation und unabhängig von der konkreten Arbeitsmarktlage erfolgt?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
Irland macht geltend, dass die Vorlagefragen in der Sache die gleichen seien wie die, die der Gerichtshof in seinem Urteil vom 5. März 2009, Age Concern England (C‑388/07, Slg. 2009, I‑1569), beantwortet habe. Die Fragen 2 bis 4 beträfen außerdem weniger die Auslegung des Unionsrechts als seine Anwendung. Der Gerichtshof habe sich daher für unzulässig zu erklären.
Sowohl die Parteien des Ausgangsverfahrens als auch die deutsche Regierung halten die erste Frage für unzulässig. Sie machen im Wesentlichen geltend, dass sich das vorlegende Gericht auf eine Bestimmung des AGG bezogen habe, die im Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei, womit die Frage nicht entscheidungserheblich sei.
Diese Einwände sind unbegründet. Abgesehen davon, dass die Fragen, die der Gerichtshof im Urteil Age Concern England beantwortet hat, nicht die gleichen waren wie die hier vorgelegten, ist darauf hinzuweisen, dass es Art. 267 AEUV den nationalen Gerichten immer gestattet, dem Gerichtshof Auslegungsfragen erneut vorzulegen, wenn sie dies für angebracht halten (Urteil vom 27. März 1963, Da Costa u. a., 28/62 bis 30/62, Slg. 1963, 65, 81). Zudem ist dem Wortlaut des Vorabentscheidungsersuchens eindeutig zu entnehmen, dass das vorlegende Gericht um die Auslegung des Unionsrechts und insbesondere der Richtlinie 2000/78 ersucht, um über den Ausgangsrechtsstreit entscheiden zu können.
Im Übrigen ist zu beachten, dass in einem Verfahren nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteile vom 18. Juli 2007, Lucchini, C‑119/05, Slg. 2007, I‑6199, Randnr. 43, und vom 22. Dezember 2008, Magoora, C‑414/07, Slg. 2008, I‑10921, Randnr. 22).
Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über das Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a., C‑222/05 bis C‑225/05, Slg. 2007, I‑4233, Randnr. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall betrifft der Ausgangsrechtsstreit die Frage, ob die in § 19 Nr. 8 RTV enthaltene Klausel, wonach das Arbeitsverhältnis eines Beschäftigten mit Erreichen des Rentenalters von 65 Jahren automatisch endet, diskriminierend ist. Das vorlegende Gericht hegt insbesondere Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit der Richtlinie 2000/78. Die Vorlagefragen sind hinreichend präzise, um dem Gerichtshof eine zweckdienliche Beantwortung zu erlauben.
Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher als zulässig anzusehen.
Zur Sache
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie § 10 Nr. 5 AGG entgegensteht, soweit nach dieser Klauseln, denen zufolge das Arbeitsverhältnis automatisch endet, wenn der Beschäftigte das Rentenalter erreicht, dem Verbot von Diskriminierungen wegen des Alters entzogen sein können.
Es ist zunächst festzustellen, dass § 10 Nr. 5 AGG zu einer unmittelbar auf dem Alter beruhenden Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2007, Palacios de la Villa, C‑411/05, Slg. 2007, I‑8531, Randnr. 51).
Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 stellt eine Ungleichbehandlung wegen des Alters keine Diskriminierung dar, wenn sie objektiv und angemessen ist und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. In Abs. 1 Unterabs. 2 dieses Artikels werden mehrere Beispiele von Ungleichbehandlungen aufgeführt, die die in Unterabs. 1 genannten Merkmale aufweisen.
§ 10 AGG enthält im Wesentlichen die gleichen Grundsätze. § 10 Nr. 5 AGG nennt als eines von mehreren Beispielen von auf dem Alter beruhenden unterschiedlichen Behandlungen, die gerechtfertigt sein können, Vereinbarungen, die die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsehen, zu dem der Beschäftigte eine Rente wegen Alters beantragen kann. Diese Vorschrift führt damit keine zwingende Regelung des Eintritts in den Ruhestand ein, sondern ermächtigt Arbeitgeber und Arbeitnehmer, einzel- oder tarifvertraglich eine Art und Weise der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu vereinbaren, die unabhängig von einer Kündigung auf dem Alter beruht, von dem an eine Rente beantragt werden kann.
In Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 werden in der Aufzählung von Ungleichbehandlungen wegen des Alters, die gerechtfertigt sein und damit nicht als diskriminierend angesehen werden können, Klauseln über die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen nicht genannt. Dieser Umstand allein ist jedoch nicht ausschlaggebend. Diese Aufzählung hat nämlich nur Hinweischarakter. So sind die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie nicht verpflichtet, ein spezifisches Verzeichnis der Ungleichbehandlungen zu erstellen, die durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt sein können (vgl. Urteil Age Concern England, Randnr. 43). Wenn sie sich im Rahmen ihres Ermessensspielraums hierfür entscheiden, können sie in dieses Verzeichnis andere Beispiele von Ungleichbehandlungen und Zielen als die ausdrücklich in der Richtlinie genannten aufnehmen, sofern diese Ziele im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie legitim und die Ungleichbehandlungen zur Erreichung dieser Ziele angemessen und erforderlich sind.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten und gegebenenfalls die Sozialpartner auf nationaler Ebene nicht nur bei der Entscheidung, welches konkrete Ziel von mehreren im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik sie verfolgen wollen, sondern auch bei der Festlegung der Maßnahmen zu seiner Erreichung über einen weiten Ermessensspielraum verfügen (vgl. Urteile vom 22. November 2005, Mangold, C‑144/04, Slg. 2005, I‑9981, Randnr. 63, und Palacios de la Villa, Randnr. 68).
Den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts zufolge wollte der Gesetzgeber beim Erlass des § 10 Nr. 5 AGG nicht im Namen der Bekämpfung von Diskriminierungen wegen des Alters die bestehende Situation in Frage stellen, in der Klauseln über die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen des Rentenalters des Beschäftigten allgemein verwendet worden seien. Das vorlegende Gericht hat hervorgehoben, dass diese Klauseln seit Jahrzehnten unabhängig von den sozialen und demografischen Gegebenheiten sowie der Arbeitsmarktlage weithin angewandt worden seien.
Im Verfahren vor dem Gerichtshof hat die deutsche Regierung insbesondere betont, dass die Zulässigkeit von Klauseln über die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen des Rentenalters des Beschäftigten, die auch in etlichen Mitgliedstaaten anerkannt sei, Ausdruck eines in Deutschland seit vielen Jahren bestehenden politischen und sozialen Konsenses sei. Dieser Konsens beruhe vor allem auf dem Gedanken einer Arbeitsteilung zwischen den Generationen. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses dieser Beschäftigten komme unmittelbar den jüngeren Arbeitnehmern zugute, indem sie ihre vor dem Hintergrund anhaltender Arbeitslosigkeit schwierige berufliche Integration begünstige. Die Rechte der älteren Arbeitnehmer genössen zudem angemessenen Schutz. Die meisten von ihnen wollten nämlich nach Erreichen des Rentenalters nicht länger arbeiten, da ihnen nach dem Verlust ihres Arbeitsentgelts die Rente einen Einkommensersatz biete. Für die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses spreche zudem, dass Arbeitgeber ihren Beschäftigten nicht unter Führung des Nachweises kündigen müssten, dass diese nicht länger arbeitsfähig seien, was für Menschen fortgeschrittenen Alters demütigend sein könne.
Es ist darauf hinzuweisen, dass die automatische Beendigung der Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die die das Alter und die Beitragszahlung betreffenden Voraussetzungen für den Bezug einer Altersrente erfüllen, seit Langem Teil des Arbeitsrechts zahlreicher Mitgliedstaaten und in den Beziehungen des Arbeitslebens weithin üblich ist. Dieser Mechanismus beruht auf einem Ausgleich zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, demografischen und/oder haushaltsbezogenen Erwägungen und hängt von der Entscheidung ab, die Lebensarbeitszeit der Arbeitnehmer zu verlängern oder, im Gegenteil, deren früheren Eintritt in den Ruhestand vorzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil Palacios de la Villa, Randnr. 69).
Daher sind Ziele der Art, wie die deutsche Regierung sie angeführt hat, grundsätzlich als solche anzusehen, die eine Ungleichbehandlung wegen des Alters wie die in § 10 Nr. 5 AGG vorgesehene im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 als „objektiv und angemessen“ erscheinen lassen und „im Rahmen des nationalen Rechts“ rechtfertigen.
Es ist weiter zu prüfen, ob eine solche Maßnahme angemessen und erforderlich im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 ist.
Die Zulässigkeit von Klauseln über die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn der Beschäftigte das Rentenalter erreicht, kann grundsätzlich nicht als eine übermäßige Beeinträchtigung der berechtigten Interessen der betroffenen Arbeitnehmer angesehen werden.
Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche stellt nämlich nicht nur auf ein bestimmtes Alter ab, sondern berücksichtigt auch den Umstand, dass den Betroffenen am Ende ihrer beruflichen Laufbahn ein finanzieller Ausgleich durch einen Einkommensersatz in Gestalt einer Altersrente zugutekommt (vgl. in diesem Sinne Urteil Palacios de la Villa, Randnr. 73).
Überdies ermächtigt der Mechanismus der automatischen Beendigung von Arbeitsverhältnissen gemäß einer Regelung, wie sie in § 10 Nr. 5 AGG vorgesehen ist, die Arbeitgeber nicht zur einseitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn die Beschäftigten das Alter erreicht haben, in dem sie ihre Rente beantragen können. Dieser von der Kündigung zu unterscheidende Mechanismus beruht auf einer tarifvertraglichen Grundlage. Diese eröffnet nicht nur den Beschäftigten und Arbeitgebern mittels Einzelverträgen, sondern auch den Sozialpartnern über Tarifverträge – und daher mit nicht unerheblicher Flexibilität – die Möglichkeit, von diesem Mechanismus Gebrauch zu machen, so dass nicht nur die Gesamtlage des betreffenden Arbeitsmarkts, sondern auch die speziellen Merkmale der jeweiligen Beschäftigungsverhältnisse gebührend berücksichtigt werden können (Urteil Palacios de la Villa, Randnr. 74).
Die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung enthält außerdem eine zusätzliche Beschränkung, die in Fällen, in denen die Klauseln über die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor Erreichen der Regelaltersgrenze angewandt werden können, die Zustimmung der Beschäftigten sicherstellen soll. § 10 Nr. 5 AGG lässt nämlich Klauseln über die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen des Rentenalters des Beschäftigten mit dem Zusatz zu, dass „§ 41 des Sechsten Buches Sozialgesetz … unberührt [bleibt]“. Die letztgenannte Vorschrift verpflichtet jedoch im Wesentlichen die Arbeitgeber dazu, die Zustimmung der Arbeitnehmer zu jeder Klausel einzuholen oder sich bestätigen zu lassen, nach der das Arbeitsverhältnis automatisch endet, wenn der Beschäftigte ein Alter erreicht hat, in dem er eine Rente beantragen kann, das aber unter der Regelaltersgrenze liegt.
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte erscheint es nicht unvernünftig, wenn die Stellen eines Mitgliedstaats annehmen, dass eine Maßnahme wie die in § 10 Nr. 5 AGG festgelegte Zulässigkeit von Klauseln über die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen des Rentenalters des Beschäftigten angemessen und erforderlich sein kann, um legitime Ziele der nationalen Arbeits- und Beschäftigungspolitik wie die zu erreichen, die die deutsche Regierung angeführt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Palacios de la Villa, Randnr. 72).
Diese Schlussfolgerung bedeutet indessen nicht, dass solche in einem Tarifvertrag enthaltenen Klauseln der effektiven gerichtlichen Kontrolle im Hinblick auf die Vorschriften der Richtlinie 2000/78 und den Gleichbehandlungsgrundsatz entzogen wären. Diese Kontrolle ist anhand der besonderen Gegebenheiten vorzunehmen, die für die zu prüfende Klausel kennzeichnend sind. Es ist nämlich für jede den Mechanismus einer automatischen Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorsehende Vereinbarung sicherzustellen, dass insbesondere die in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 normierten Voraussetzungen eingehalten sind. Überdies wird den Mitgliedstaaten in Art. 16 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ausdrücklich aufgegeben, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit „die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vereinbarenden Bestimmungen in Arbeits- und Tarifverträgen … für nichtig erklärt werden können oder geändert werden“.
Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung wie § 10 Nr. 5 AGG, wonach Klauseln über die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen bei Erreichen des Rentenalters des Beschäftigten zulässig sind, nicht entgegensteht, soweit zum einen diese Bestimmung objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik gerechtfertigt ist und zum anderen die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Die Nutzung dieser Ermächtigung in einem Tarifvertrag ist als solche nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen, sondern muss gemäß den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 ebenfalls in angemessener und erforderlicher Weise ein legitimes Ziel verfolgen.
Zur ersten und zur dritten Frage
Mit der ersten und der dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 der in § 19 Nr. 8 RTV enthaltenen Klausel entgegensteht, nach der das Arbeitsverhältnis automatisch endet, wenn der Beschäftigte das Rentenalter von 65 Jahren erreicht.
Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob mit dieser Regelung ein legitimes Ziel verfolgt wird und ob sie im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angemessen und erforderlich ist.
Das vorlegende Gericht hat dargelegt, dass das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil vom 18. Juni 2008 (7 AZR 116/07) diese Regelung des RTV für mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 vereinbar erachtet hat. Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob dieses Ergebnis auf den dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalt übertragbar ist, da dieser in die Zeit nach Inkrafttreten des AGG fällt.
Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass in dem im Ausgangsverfahren fraglichen Tarifvertrag die verfolgten Ziele nicht angegeben seien.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es, wenn in der fraglichen nationalen Regelung das angestrebte Ziel nicht angegeben ist, wichtig ist, dass andere – aus dem allgemeinen Kontext der betreffenden Maßnahme abgeleitete – Anhaltspunkte die Feststellung des hinter dieser Maßnahme stehenden Ziels ermöglichen, damit dessen Rechtmäßigkeit sowie die Angemessenheit und Erforderlichkeit der zu seiner Erreichung eingesetzten Mittel gerichtlich überprüft werden können (vgl. Urteile Palacios de la Villa, Randnr. 57, und Age Concern England, Randnr. 45).
Hierzu hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass nach Auskunft des Verbands, der bei der Aushandlung des RTV die Interessen der Arbeitgeber vertreten hat, § 19 Nr. 8 dieses Tarifvertrags dem Vorrang einer sachgerechten und berechenbaren Personal- und Nachwuchsplanung vor dem Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers Ausdruck gebe.
Das vorlegende Gericht hat sich weiter auf das genannte Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 18. Juni 2008 bezogen, in dem dargelegt wird, dass mit § 19 Nr. 8 RTV die Ziele verfolgt würden, die Einstellung jüngerer Arbeitnehmer zu begünstigen, eine Nachwuchsplanung vorzunehmen und eine in der Altersstruktur ausgewogene Personalverwaltung in den Unternehmen zu ermöglichen.
Es ist daher zu prüfen, ob derartige Ziele als legitime Ziele im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden können.
Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Klauseln über die automatische Beendigung der Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die eine Altersrente beantragen können, als Teil einer nationalen Politik gerechtfertigt sein können, mit der über eine bessere Beschäftigungsverteilung zwischen den Generationen der Zugang zur Beschäftigung gefördert werden soll, da die damit verfolgten Ziele grundsätzlich als eine – wie es Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 verlangt – im Rahmen des nationalen Rechts objektive und angemessene Rechtfertigung für eine von den Mitgliedstaaten angeordnete Ungleichbehandlung wegen des Alters anzusehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Palacios de la Villa, Randnrn. 53, 65 und 66). Folglich sind solche Ziele, wie sie das vorlegende Gericht nennt, „legitime“ Ziele im Sinne dieses Artikels.
Demgemäß ist zu prüfen, ob die für die Erreichung dieser Ziele verwendeten Mittel „angemessen und erforderlich“ sind.
Was erstens die Angemessenheit der im RTV enthaltenen Klausel über die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen anbelangt, ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass Klauseln dieser Art wegen ihrer Ineffizienz die verfolgten Ziele nicht erreichen könnten.
Zu dem Ziel der Förderung der Beschäftigung führt das vorlegende Gericht aus, dass die Klauseln über die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses von Beschäftigten, die das 65. Lebensjahr vollendeten, seit Langem häufig vereinbart würden, ohne indessen das Beschäftigungsniveau in Deutschland im Geringsten zu beeinflussen. § 19 Nr. 8 RTV verbiete es dem Arbeitgeber auch nicht, Personen über 65 Jahren zu beschäftigen, noch verpflichte ihn die Bestimmung dazu, einen Beschäftigten, der das 65. Lebensjahr vollendet habe, durch einen jüngeren Arbeitnehmer zu ersetzen.
Was das Ziel angeht, eine harmonische Struktur der Alterspyramide im Gebäudereinigungsgewerbe sicherzustellen, bezweifelt das vorlegende Gericht dessen Relevanz, da in dieser Branche kein spezielles Risiko der Überalterung der Belegschaften bestehe.
Hinsichtlich der Beurteilung durch das vorlegende Gericht ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Klausel über die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen die Frucht einer von den Vertretern der Arbeitnehmer und den Vertretern der Arbeitgeber ausgehandelten Vereinbarung ist, die damit ihr als ein Grundrecht anerkanntes Recht auf Kollektivverhandlungen ausgeübt haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2010, Kommission/Deutschland, C‑271/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 37). Dass es damit den Sozialpartnern überlassen ist, einen Ausgleich zwischen ihren Interessen festzulegen, bietet eine nicht unerhebliche Flexibilität, da jede der Parteien gegebenenfalls die Vereinbarung kündigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Palacios de la Villa, Randnr. 74).
Die Klausel über die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen ist damit, dass sie den Arbeitnehmern eine gewisse Stabilität der Beschäftigung bietet und langfristig einen vorhersehbaren Eintritt in den Ruhestand verheißt, während sie gleichzeitig den Arbeitgebern eine gewisse Flexibilität in ihrer Personalplanung bietet, Niederschlag eines Ausgleichs zwischen divergierenden, aber rechtmäßigen Interessen, der sich in einen komplexen Kontext von Beziehungen des Arbeitslebens einfügt und eng mit politischen Entscheidungen im Bereich Ruhestand und Beschäftigung verknüpft ist.
Angesichts des weiten Ermessensspielraums, der den Sozialpartnern auf nationaler Ebene nicht nur bei der Entscheidung über die Verfolgung eines bestimmten sozial- und beschäftigungspolitischen Ziels, sondern auch bei der Festlegung der für seine Erreichung geeigneten Maßnahmen zusteht, erscheint die Auffassung der Sozialpartner, dass eine Maßnahme wie die in § 19 Nr. 8 RTV vorgesehene zur Erreichung der vorgenannten Ziele angemessen sein kann, nicht unvernünftig.
Zweitens bezweifelt das vorlegende Gericht, dass eine Klausel über die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen, wie § 19 Nr. 8 RTV sie vorsieht, erforderlich ist.
Zum einen bedeute die automatische Beendigung der Arbeitsverhältnisse für die Arbeitnehmer des Gebäudereinigungsgewerbes im Allgemeinen und für Frau Rosenbladt im Besonderen einen erheblichen finanziellen Nachteil. Da diese Branche durch gering vergütete Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitarbeit gekennzeichnet sei, reichten die gesetzlichen Altersrenten nicht aus für den Lebensunterhalt der Arbeitnehmer.
Zum anderen gebe es weniger einschneidende Mittel als die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Was das Interesse der Arbeitgeber an der Planung ihrer Personalpolitik betreffe, genüge es, dass sie sich bei ihren Beschäftigten erkundigten, ob diese über die Erreichung des Rentenalters hinaus zu arbeiten beabsichtigten.
Um zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Maßnahme über das zur Erreichung der angestrebten Ziele Erforderliche hinausgeht und die Interessen von Arbeitnehmern, die das 65. Lebensjahr vollenden und ab diesem Zeitpunkt ihre Altersrente beziehen können, übermäßig beeinträchtigt, ist sie in dem Regelungskontext zu betrachten, in den sie sich einfügt, und sind sowohl die Nachteile, die sie für die Betroffenen bewirken kann, als auch die Vorteile zu berücksichtigen, die sie für die Gesellschaft im Allgemeinen und die diese bildenden Individuen bedeutet.
Aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts und den vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen geht hervor, dass das deutsche Arbeitsrecht einer Person, die ein Alter erreicht hat, in dem sie ihre Rente beantragen kann, die Fortführung einer Berufstätigkeit nicht untersagt. Aus diesen Erläuterungen geht ferner hervor, dass ein Arbeitnehmer, der sich in dieser Lage befindet, weiterhin den Schutz gegen Diskriminierungen wegen des Alters gemäß dem AGG genießt. Das vorlegende Gericht hat insoweit klargestellt, dass es das AGG verböte, einer Person in der Lage von Frau Rosenbladt, nachdem ihr Arbeitsverhältnis wegen Erreichens des Rentenalters geendet hat, eine Beschäftigung – sei es bei ihrem früheren Arbeitgeber, sei es bei einem Dritten – aus einem Grund zu verweigern, der mit ihrem Alter zusammenhängt.
In diesen Kontext gestellt, hat die von Rechts wegen eintretende Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die aus einer Maßnahme wie der in § 19 Nr. 8 RTV vorgesehenen resultiert, nicht die automatische Wirkung, dass die Betroffenen gezwungen werden, endgültig aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Mit dieser Bestimmung wird folglich keine zwingende Regelung zur Versetzung in den Ruhestand von Amts wegen eingeführt (vgl. in diesem Sinne Urteil Age Concern England, Randnr. 27). Sie hindert einen Arbeitnehmer, der dies, etwa aus finanziellen Gründen, wünscht, nicht daran, seine Berufstätigkeit über das Erreichen des Rentenalters hinaus fortzuführen. Sie nimmt Beschäftigten, die das Rentenalter erreicht haben, nicht den Schutz gegen Ungleichbehandlungen wegen des Alters, wenn sie erwerbstätig bleiben wollen und eine neue Beschäftigung suchen.
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist festzustellen, dass eine Maßnahme wie die in § 19 Nr. 8 RTV vorgesehene nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist, wenn der weite Ermessensspielraum berücksichtigt wird, der den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern auf dem Gebiet der Sozial- und Beschäftigungspolitik zusteht.
Auf die erste und die dritte Frage ist daher zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass er einer Maßnahme wie der in § 19 Nr. 8 RTV enthaltenen Klausel über die automatische Beendigung der Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die das Rentenalter von 65 Jahren erreicht haben, nicht entgegensteht.
Zur vierten Frage
Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es dem in den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2000/78 niedergelegten Grundsatz des Verbots von Ungleichbehandlungen wegen des Alters zuwiderläuft, dass ein Mitgliedstaat einen Tarifvertrag, der eine Klausel über die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen wie die in § 19 Nr. 8 RTV festgelegte enthält, für allgemeinverbindlich erklärt, ohne die wirtschaftliche, soziale und demografische Situation sowie die Arbeitsmarktlage zu berücksichtigen.
Die Richtlinie 2000/78 regelt als solche nicht die Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären können. Die Mitgliedstaaten sind indessen verpflichtet, durch geeignete Rechts- und Verwaltungsmaßnahmen sicherzustellen, dass alle Arbeitnehmer in vollem Umfang in den Genuss des Schutzes gelangen können, den ihnen die Richtlinie 2000/78 gegen Diskriminierungen wegen des Alters gewährt. Nach Art. 16 Buchst. b dieser Richtlinie haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit „die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vereinbarenden Bestimmungen in Arbeits- und Tarifverträgen … für nichtig erklärt werden oder erklärt werden können oder geändert werden“. Daher steht es, wenn ein Tarifvertrag den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2000/78 nicht zuwiderläuft, den Mitgliedstaaten frei, ihn für Personen, die durch ihn nicht gebunden sind, für verbindlich zu erklären (vgl. entsprechend Urteil vom 21. September 1999, Albany, C‑67/96, Slg. 1999, I‑5751, Randnr. 66).
Demnach ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die Art. 1 und 2 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass es ihnen nicht zuwiderläuft, dass ein Mitgliedstaat einen Tarifvertrag wie den im Ausgangsverfahren in Frage stehenden für allgemeinverbindlich erklärt, soweit dieser Tarifvertrag den in seinen Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmern nicht den Schutz nimmt, den ihnen diese Bestimmungen gegen Diskriminierungen wegen des Alters gewähren.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Bestimmung wie § 10 Nr. 5 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, wonach Klauseln über die automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen bei Erreichen des Rentenalters des Beschäftigten zulässig sind, nicht entgegensteht, soweit zum einen diese Bestimmung objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik gerechtfertigt ist und zum anderen die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Die Nutzung dieser Ermächtigung in einem Tarifvertrag ist als solche nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen, sondern muss gemäß den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 ebenfalls in angemessener und erforderlicher Weise ein legitimes Ziel verfolgen. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass er einer Maßnahme wie der in § 19 Nr. 8 des Rahmentarifvertrags für die gewerblichen Beschäftigten in der Gebäudereinigung enthaltenen Klausel über die automatische Beendigung der Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die das Rentenalter von 65 Jahren erreicht haben, nicht entgegensteht. Die Art. 1 und 2 der Richtlinie 2000/78 sind dahin auszulegen, dass es ihnen nicht zuwiderläuft, dass ein Mitgliedstaat einen Tarifvertrag wie den im Ausgangsverfahren in Frage stehenden für allgemeinverbindlich erklärt, soweit dieser Tarifvertrag den in seinen Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmern nicht den Schutz nimmt, den ihnen diese Bestimmungen gegen Diskriminierungen wegen des Alters gewähren.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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