Presserat zu Fotos von Verbrechensopfern: Auf Anlass und Aufmachung kommt es an
Gericht
Dt. Presserat
Art der Entscheidung
Entscheidung über Beschwerde
Datum
20. 05. 2009
Aktenzeichen
BK2-77/09
A. Zusammenfassung des Sachverhalts
I. Der ... veröffentlicht in seiner Ausgabe Nr. 12/2009 auf der Titelseite unter der Überschrift "Die Opfer von Winnenden - Die Tat. Der Mörder. Die Hintergrunde. Das Protokoll eines monströsen Verbrechens," Porträtfotos von zwölf der 15 Opfer des Amoklaufes an der Winnender Realschule. In der Bildunterschrift steht jeweils der abgekürzte Name des Opfers. Auf einem Foto ist die abgedeckte Leiche von Franz J. (56) zu sehen, bei den Opfern "Michaela K., 26", und "Sigurt W., 46" veröffentlicht die Redaktion einen schwarzen Kasten anstelle eines Fotos.
II. Der Beschwerdeführer hält die Berichterstattung für menschenverachtend. Es sei selbstverständlich, dass über eine solche Tat berichtet werden müsse. Die Detailtiefe sei jedoch zutiefst abstoßend. Die Bilder der Opfer gehörten seiner Ansicht nach nicht auf die Titelseite. Er habe beschlossen, den ... demonstrativ nicht zu lesen.
III. Der stellvertretende Ressortleiter des Ressorts "Deutschland aktuell" weist die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Redaktion habe sich entschieden, in ihrer Titelgestaltung des Heftes 12/2009 nicht den Täter in den Vordergrund zu stellen, sondern die Opfer. Die Redaktion sei der Überzeugung gewesen, dass das Thema auf die Titelseite gehöre. Dem Attentäter habe sie aber nicht posthum einen großen Auftritt verschaffen wollen. Die Dimension der Tat, so die Überlegung der Redaktion, lasse sich am besten dadurch begreifbar machen, dass die Redaktion die Gesichter der Opfer zeige - normale, überwiegend sehr junge Menschen, so natürlich gezeigt, wie ihre Familien, ihre Freunde sie sahen. Es sei der Redaktion gerade darum gegangen, jedem der 15 Opfer des Attentäters ein Gesicht und eine Geschichte zu geben.
Auch im Rückblick hält die Redaktion die Titelseite presseethisch für einwandfrei. Es handele sich mit einer Ausnahme um ganz normale Porträtfotos. Solche Abbildungen könnten die Menschenwürde nicht verletzten. Ganz im Gegenteil. Es sei weit verbreitet und üblich, Verstorbener auch anhand von Bildern zu gedenken. Gerade bei Jungendlichen wurden bei Trauermärschen großformatige Fotos hochgehalten. Es gebe auch die Tradition der Sterbebilder. Die Redaktion könne daher nicht erkennen, dass Porträts getöteter Verbrechensopfer dazu geeignet seien, diese in ihrer Menschenwürde zu beeinträchtigen.
Dies gelte auch für die Wahrung der Persönlichkeitsrechte. Die Identifizierbarkeit der Verstorbenen könne bei einer Tat dieser Dimension deshalb keine Rolle spielen, da ohnehin ihr gesamtes Umfeld von ihrem Schicksal erfahre. Die Familien habe ... durch die Abkürzung der Nachnamen geschützt. Dagegen nenne die Traueranzeige der Baden-Württembergischen Regierung, erschienen am Samstag nach der Tat in der Stuttgarter Zeitung, die vollständigen Vor- und Familiennamen sämtlicher Opfer. Nicht ein einziger Hinterbliebener habe sich bis heute gegen die Darstellung des Geschehens im ... oder die gezeigten Opferbilder gewandt. Im Gegenteil: Die Reporter hätten bis heute Kontakt zu den Opferfamilien.
Auch von einer unangemessen sensationsheischenden Darstellung könne nicht gesprochen werden. Das wäre anders, wenn z. B. angstverzerrte oder vom Tod gezeichnete Gesichter gezeigt worden wären. Dies habe ... aber selbstverständlich nicht getan und dies habe auch nie zur Debatte gestanden. Im übrigen seien bereits vor der Veröffentlichung die Bilder der Opfer im Fernsehen und in den Tageszeitungen veröffentlicht worden. Freunde und Verwandte hätten deren Bilder in öffentlichen Trauerplätzen in Winnenden aufgestellt. Sie hätten dies getan, damit die Erinnerung an die Opfer konkret bleibe, damit sie mit Menschen, deren Schicksalen und Biografien verbunden bleibe. All diese Bilder seien bereits Tage vorher im Fernsehen gezeigt worden, ohne dass bis heute ein einziger Hinterbliebener gegen diese Darstellung vorgegangen wäre.
Viele Zuschriften hätten die Redaktion erreicht. Diese zeigten, dass das Anliegen von den Lesern richtig verstanden worden sei. Naturgemäß habe es auch negative Reaktionen gegeben. Im direkten Kontakt habe sich jedoch gezeigt, dass die Leser eher vom Gegenstand der Berichterstattung negativ berührt gewesen seien, als von der Art der Darstellung. Den stellvertretenden Ressortleiter bestärke zusätzlich ein Interview von ..., dem Vater eines der Opfer, im Radioprogramm des ... am 11.05.2009. Er habe dort wörtlich gesagt, "da haben Sie vollkommen Recht, die Täter – da kämpfen wir auch an, dass keine Täterheroisierung in den Medien erfolgt. Die Opfer wurden zum Schluss in den Medien mit Nummer 13, 14 und 15 bezeichnet. Da war kein Name mehr da, da war kein Inhalt mehr da. Das stimmt mich schon sehr traurig." Genau dies habe die Redaktion von ... verhindern wollen.
B. Erwägungen des Beschwerdeausschusses
I. Dem Deutschen Presserat haben zur Berichterstattung über den Amoklauf in Winnenden insgesamt 78 Beschwerden gegen Zeitungen/Zeitschriften (Print wie Online) sowie Agenturen vorgelegen, in 41 Fällen wurde ein Beschwerdeverfahren eröffnet. Der Beschwerdeausschuss hat sich vor der konkreten Einzelfalldiskussion ausführlich und grundlegend mit der Gesamtschau des Komplexes befasst. Hierzu hat unter anderem auch die Diskussion darüber gehört, ob die Abbildung und Namensnennung des Täters sowie der Opfer mit dem Pressekodex vereinbar ist. Bei allen Erwägungen hat der Ausschuss die Erkenntnis mit einbezogen, dass es sich um ein außergewöhnliches Ereignis handelt. Berücksichtigt hat der Ausschuss vor dem Hintergrund der erweiterten Zuständigkeit für Online-Auftritte zum 01.01.2009 auch, dass bestimmte technische Darstellungsmöglichkeiten (Animation, Video) dem Presserat nun erstmalig zur Beurteilung vorliegen und eine spezifische Einschätzung erfordern. Diesem Umstand ist auch Rechnung getragen worden.
II. Der Beschwerdeausschuss kommt zu dem Ergebnis, dass der ... mit der Titelseite seiner Ausgabe Nr. 12/2009 unter der Überschrift "Die Opfer von Winnenden - Die Tat. Der Mörder. Die Hintergründe. Das Protokoll eines monströsen Verbrechens" nicht gegen presseethische Grundsätze verstoßen hat. Der Ausschuss diskutiert die Titelseite ausführlich mit Blick auf den Schutz des Namens für Opfer von Unglücksfällen oder Straftaten gemäß Richtlinie 8.1* des Pressekodex. Mehrheitlich setzt sich die Meinung durch, dass die Opfer nicht als Personen der Zeitgeschichte anzusehen sind, dennoch bei den Ereignissen von Winnenden die in Richtlinie 8.1 festgehaltenen "besonderen Begleitumstände" vorliegen. Für den Ausschuss ist der Kontext der Abbildung der Opfer entscheidend dafür, ob die Abbildung zulässig ist. Im Fall der Bildergalerie auf der Titelseite des ... sieht die Mehrheit des Ausschusses keine Persönlichkeitsrechte verletzt. Die Redaktion geht in der Bildergalerie sehr dezent und ohne sensationelle Aufmachung und unangemessene Formulierungen, sondern lediglich mit dem Hinweis, dass es sich hier um die Opfer des Amoklaufes handelt, mit der Veröffentlichung der Bilder um. Für die Mehrheit der Ausschussmitglieder handelt es sich um eine sachliche Dokumentation der Ereignisse von Winnenden, die zur Betroffenheit anregt. Dadurch dass die Zeitung nicht die vollen Namen der Opfer nennt, sind sie zunächst nur in der unmittelbaren Umgebung erkennbar. Es handelt sich zudem um Porträtbilder aus der Lebenswelt, die die Opfer zeigen, wie Freunde sie kannten. Die Mehrheit der Mitglieder des Beschwerdeausschusses hält die hier vorgenommene Darstellung der Opferfotos auch mit Blick auf die Hinterbliebenen für presseethisch zulässig. Einzelne Mitglieder des Ausschusses vertreten jedoch auch die Ansicht, dass sich Angehörige der Opfer der Titelseite einer Zeitschrift, die öffentlich, z. B. am Kiosk, ausliegt, nicht entziehen können. Sie denken, dass diese Darstellung anders zu bewerten ist als im Innenteil einer Zeitung oder auch in einem Internetbeitrag.
Der Ausschuss lässt in seine Erwägungen mit einfließen, dass sich das Mediennutzungsverhalten der Gesellschaft durch das Internet sehr gewandelt hat. Visualisierung ist wichtiger geworden, der Umgang der Menschen mit eigenen Daten wie Fotos etc. hat sich verändert.
C. Ergebnis
Insgesamt liegt damit kein Verstoß gegen die Publizistischen Grundsätze des Deutschen Presserats vor, so dass der Beschwerdeausschuss die Beschwerde für unbegründet erklärt.
Die Entscheidung ergeht mit 4 Ja- und 2 Nein-Stimmen.
...
Vorsitzender des
Beschwerdeausschusses 2
(Kr)
* Richtlinie 8.1 - Nennung von Namen/Abbildungen
(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.
(2) Opfer von Unglücksfällen oder von Straftaten haben Anspruch auf besonderen Schutz ihres Namens. Für das Verständnis des Unfallgeschehens bzw. des Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Ausnahmen können bei Personen der Zeitgeschichte oder bei besonderen Begleitumständen gerechtfertigt sein.
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