Sorgfaltspflichten beim Entzünden von Raketen in der Neujahrsnacht

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

09. 07. 1985


Aktenzeichen

VI ZR 71/84


Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. wurde in der Neujahrsnacht 1981/83 in der Nähe seines Hauses von einem Gegenstand unterhalb des rechten Auges getroffen und verletzt. Um diese Zeit feuerten die beiden Bekl. etwa 17,5 Meter vom Standort des Kl. entfernt Silvesterraketen ab. Jeder von ihnen zündete eine von zwei Raketen an, die sie zusammen in eine Sektflasche gesteckt hatten. Der Kl. hat behauptet, eine der beiden Raketen habe ihre Flugbahn nicht eingehalten. Sie sei zur Erde zurückgekommen und habe ihn verletzt. Das habe zu einem blutenden Riß unterhalb des rechten Auges und zu einer stumpfen Augapfelverletzung geführt. Infolgedessen sei das Sehvermögen auf seinem rechten Auge stark herabgesetzt und das beidäugige Sehen aufgehoben worden.

Das LG hat der Klage lediglich zur Hälfte stattgegeben, das OLG hat sie abgewiesen. Die - zugelassene - Revision des Kl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. Das BerGer. konnte nicht feststellen, durch welchen Gegenstand die Verletzung des Kl. herbeigeführt worden ist. In Betracht kommen nach seiner Auffassung der Stabilisierungsstab einer der beiden Raketen der Bekl. bzw. der Leitstab oder der Rest einer von anderen Personen abgefeuerten Rakete. Das BerGer. läßt es jedoch dahingestellt, ob bereits wegen dieser Ungewißheit die Haftung der Bekl. ausgeschlossen ist oder ob die Bekl. dem Kl. aus § 830 I 2 BGB haften können. Die Klageabweisung ist nach Meinung des BerGer. jedenfalls deshalb gerechtfertigt, weil nicht festgestellt werden könne, daß die Bekl. die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen hätten. Zumindest sei eine Haftung der Bekl. gem. § 254 BGB ausgeschlossen, da der Kl. während des Zündens der Bekl. näher an die Abschußstelle herangegangen sei, ohne daß diese es merken konnten, er sein Gesicht ungeschützt in Richtung der abgeschossenen Rakete nach oben gewandt und durch einen vorherigen Treffer eines Raketenteils auf die Schulter einer in seiner Begleitung befindlichen Frau gewußt habe, daß der Aufenthalt an dieser Stelle gefährlich war.

II. Das Berufungsurteil hält einer rechtlichen Nachprüfung stand.

1. Fraglich ist bereits, ob im Streitfalle überhaupt § 830 I 2 BGB als Anspruchsgrundlage herangezogen werden kann. Diese Vorschrift findet - abgesehen vom Vorliegen sogenannter Anteilszweifel, die hier nicht in Betracht kommen - nur Anwendung bei Zweifeln, welche von mehreren Beteiligten gesetzte Gefährdung des Schutzgutes sich im Verletzungserfolg aktualisiert hat. § 830 I 2 BGB greift keinesfalls ein, wenn zweifelhaft bleibt, ob nicht ein Ereignis die Verletzung verursacht hat, für das eine deliktische Haftungsverantwortlichkeit nicht besteht (vgl. Steffen, in: RGRK, § 830 Rdnrn. 17 ff.). Daher wäre für eine Anwendung dieser Vorschrift von vornherein kein Raum, solange nicht ausgeschlossen werden kann, daß der Gegenstand, der den Kl. verletzt hat, von einer Rakete stammt, die etwa so weit entfernt von dem Kl. gezündet worden ist, daß von dort aus mit seiner Gefährdung nicht gerechnet werden konnte. Nach den bisher getroffenen Feststellungen sind in der in Frage stehenden Zeit Raketen auch von anderen Gruppen abgefeuert worden, die sich in einem Umkreis von mindestens 50 Metern aufgehalten haben.

2. Das BerGer. verneint aber jedenfalls rechtsfehlerfrei eine Haftung der Bekl., weil es nicht feststellen konnte, daß die Bekl. die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen haben.

a) Es ist rechtlich nicht zu beanstanden und wird auch von der Revision nicht angegriffen, daß das BerGer. davon ausgeht, die Bekl. hätten nur nicht erlaubnispflichtige Raketen gezündet, die Führungsstäbe dieser Raketen seien in Ordnung gewesen und es habe keinen Bedienungsfehler dargestellt, wenn die Bekl. die beiden Raketen in eine Sektflasche stellten und sie gleichzeitig oder in kurzem zeitlichen Abstand zündeten.

b) Im Ergebnis mit Recht erhebt das BerGer. aber auch keinen Vorwurf gegen die Bekl., weil sie für das Entzünden ihrer Feuerwerkskörper einen Standort wählten, der nur 25 Meter von den ihnen am nächsten stehenden Menschen entfernt war.

aa) An die Voraussicht und Sorgfalt derjenigen Personen, die ein Feuerwerk veranstalten bzw. entzünden, sind allerdings, wie der erkennende Senat bereits in VersR 1966, 524 entschieden hat, grundsätzlich hohe Anforderungen zu stellen. Insbesondere müssen sie einen Standort wählen, von dem aus andere Personen oder Sachen nicht (ernsthaft) gefährdet werden.

bb) Da niemals ein Fehlstart von Raketen völlig ausgeschlossen werden kann, muß beim Abbrennen von Feuerwerkskörpern ein Platz gewählt werden, von dem aus etwa fehlgehende Raketen aller Voraussicht nach keinen nennenswerten Schaden anrichten können (Senat, VersR 1966, 524). Eine solche Gefahr hat sich aber hier nicht ausgewirkt. Nach den unangegriffenen Feststellungen des BerGer. sind beide Raketen in die Höhe gestiegen und haben aufgeblitzt und damit funktioniert.

c) In der Silversternacht sind darüber hinaus die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht beim Abbrennen von Feuerwerkskörpern herabgesetzt. Alle Verkehrssicherungspflichten sind grundsätzlich unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung zu bemessen (BGHZ 34, 206 (206) = NJW 1961, 868). Maßstab für die Verkehrssicherungspflicht ist zwar das zum Schutz von Gefährdeten Erforderliche; jedoch richtet sich das auch danach, welche Maßnahmen diese zu ihrem Schutz vernünftigerweise erwarten können und welche Vorsorge ihnen selbst zum eigenen Schutz möglich und zumutbar ist. Der Verkehrssicherungspflichtige hat daher nur die Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein vernünftiger Angehöriger eines bestimmten Verkehrskreises erwarten darf (BGH, VersR 1967, 1196 (1197); 1972, 559 (560); 1975, 812 und 1981, 482; Mertens, VersR 1980, 402). In der Silvesternacht ist es zulässig und in allen Städten und Gemeinden üblich, nichterlaubnispflichtige Feuerwerkskörper zu zünden. Auf diesen Brauch richtet sich der Verkehr ein, auch was - in vernünftigen Grenzen - die Maßnahmen zum Selbstschutz betrifft. Das entbindet zwar den, der ein Feuerwerk abbrennt, nicht von der Verantwortung dafür, die Feuerwerksköper nur bestimmungsgemäß und unter Beachtung der Gebrauchsanleitung, insbesondere unter Einhaltung der vom Herstellerverlangten Sicherheitsvorkehrungen zu verwenden. Ebensowenig ist er davon befreit, sorgfältig auf besondere Umstände zu achten, aufgrund derer das Abbrennen des Feuerwerks an der von ihm ausgewählten Stelle mit Gefahren verbunden sein kann, die nach Art und Umfang über diejenigen Gefahren hinausgehen, welche trotz vorschriftsmäßiger Handhabung nicht gänzlich ausgeschlossen werden können. Soweit es aber nur um „normale“ Gefährdungen durch erlaubnisfreie Feuerwerkskörper für Personen geht, die sich im Freien in der Nähe der Abschußstellen aufhalten und sich auf das Feuerwerk einstellen können, begründen diese im allgemeinen keine Haftungsverantwortlichkeit. Jeder vernünftige Mensch, der dem Silvesterfeuerwerk zuschaut, richtet sich auf derartige Gefährdungen selbst ein, sofern sie nicht aus Richtungen kommen, aus denen er sie nicht zu erwarten braucht, oder aufgrund anderer besonderer Umstände das Maß der normalerweise zu erwartenden Gefahr übersteigen. Vorkehrungen zum Schutz auch dieses Personenkreises vor den „normalen“ Gefährdungen bedarf es deshalb nicht, jedenfalls nicht in der Neujahrsnacht.

Da die Bekl. nur erlaubnisfreie Raketen benutzt und diese auch ordnungsgemäß abgeschossen haben, die Raketen auch einwandfrei funktionierten und der Kl. die beiden Bekl. beim Abfeuern der Raketen beobachten und sich damit auf etwaige Gefährdungen durch diese Raketen einstellen konnte, haben diese ihm gegenüber die in der Silversternacht gebotenen Sicherungspflichten erfüllt.

Rechtsgebiete

Haftungsrecht

Normen

BGB § 823