Aufsichtspflicht der Eltern über Kinder bei Silvesterfeuerwerk
Gericht
OLG Schleswig
Art der Entscheidung
Berufungsurteil
Datum
12. 11. 1998
Aktenzeichen
5 U 123/97
Auszüge aus dem Sachverhalt:
In der Silvesternacht 1995-96 trafen sich der seinerzeit 8 Jahre und 8 Monate alte Kl. in Begleitung seiner Eltern und die Bekl. mit ihrem 7 Jahre und 7 Monate alten Sohn, Nachbarn in einer Reihenhausanlage, um Mitternacht vor den Häusern. Die Bekl. hatten ihrem Sohn das Abbrennen von - wie sie behaupten - kindergeeigneten, altersgerechten Feuerwerkskörpern unter ihrer Aufsicht gestattet und ihn angewiesen, diese in der Hand zu zünden und sogleich wegzuwerfen. Gegen 0.30 Uhr zündete der Vater des Kl. diesem eine Wunderkerze an und gab sie ihm in die Hand. Kurz darauf entzündete der Sohn der Bekl. an dieser Wunderkerze einen Knaller, der noch in seiner Hand explodierte. Ob es sich dabei um einen der dem Sohn der Bekl. zur Verfügung gestellten oder einen von ihm aufgesammelten „Blindgänger“ gehandelt hat, ist zwischen den Parteien streitig. Durch die Druckwelle der Explosion wurde der Kl. am rechten Auge verletzt. Es kam zu einem Abriß der Iriswurzel von 4 bis 6 Uhr und einer zentralen Lochbildung in der Netzhaut. Die Pupille ist leicht entrundet. Die Sehschärfe des Auges beträgt nur noch 10%. Das räumliche Sehen ist eingeschränkt. Zeitweise bildet sich ein Auswärtsschielen mit Doppelbildwahrnehmung aus. Eine Therapiemöglichkeit besteht voraussichtlich nicht. Zum Schutz des gesunden Auges trägt der Kl. jetzt eine Brille.
Das LG hat die Bekl. zur Zahlung eines erstrangigen Schmerzensgeldteilbetrages von 20000 DM verurteilt. Ihre Berufung blieb ohne Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
Das LG hat dem Kl. zu Recht die begehrten 20000 DM als erstrangigen Teilbetrag eines Schmerzensgeldes zugesprochen. Der Anspruch des Kl. folgt aus den §§ 832 I, 847, 253 BGB. Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich - nicht notwendig auch schuldhaft - zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nur dann nicht ein, wenn der Aufsichtspflicht genügt worden ist oder der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre.
Gem. § 1626 I BGB obliegt den Bekl. kraft Gesetzes die elterliche Sorge über ihren Sohn. Es war ihre Aufgabe, die in § 832 I BGB enthaltenen Vermutungen einer Verletzung der Aufsichtspflicht zu widerlegen. Die genannte Vorschrift enthält eine Beweislastregelung, die zu Lasten des Aufsichtspflichtigen zu einer Beweislastumkehr führt (Staudinger-Eberl-Borges, BGB, 1997, § 832 Rdnr. 53; BGH, NJW 1990, 2553 = LM § 832 BGB Nr. 18; OLG München, FamRZ 1997, 740 [741]). Den Entlastungsbeweis durfte das LG als nicht erbracht ansehen.
Tatbestandsmerkmal für die Haftung aus § 832 I BGB ist die Verletzung der Aufsichtspflicht in ihrer jeweiligen konkreten Gestalt. Der Aufsichtspflichtige muß diejenigen Verhaltensanforderungen unerfüllt gelassen haben, die vernünftigerweise zu beachten gewesen wären, um der allgemeinen Pflicht, durch die Aufsicht über den Aufsichtsbedürftigen die Schädigung Dritter zu verhindern, für die konkrete Gefahrensituation zu genügen (Staudinger-Eberl-Borges, § 832 Rdnr. 53). Bei Kindern bestimmt sich das Maß der gebotenen Aufsicht dabei nach Alter, Eigenart und Charakter, nach der Voraussehbarkeit des schädigenden Verhaltens sowie danach, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation an erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen treffen müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern (BGH, NJW 1993, 1003 = LM § 832 BGB Nr. 19; BGH, NJW 1984, 2574 = LM § 832 BGB Nr. 15; OLG München, FamRZ 1997, 740 [741]; OLG Köln, NJW-RR 1993, 1498 [1499]).
Ebenso wie das LG ist der Senat der Auffassung, daß schon der eigene Vortrag der Bekl. ergibt, daß sie ihren Überwachungs- und Belehrungspflichten nicht ausreichend nachgekommen sind. Die Bekl. hätten ihrem damals 7 ½-jährigen Sohn das Hantieren mit Feuerwerkskörpern überhaupt nicht, auch nicht unter ihrer Aufsicht gestatten dürfen. Der Umgang mit Feuerwerkskörpern ist anerkanntermaßen gefährlich und für ein Kind in diesem Alter generell nicht angezeigt. Ebenso wie das „Zündeln“ übt das Abbrennenlassen von Feuerwerkskörpern erfahrungsgemäß einen besonderen Reiz auf Kinder aus. Gerade wenn sie sich in einem noch unreifen Alter befinden, liegt es nahe, daß sie mit einer kontrollierten, verantwortungsbewußten und eine Drittgefährdung ausschließenden Handhabung überfordert sind, d.h. ihre eigenen Fähigkeiten über- und die von Feuerwerkskörpern ausgehenden Gefahren unterschätzen (BGH, NJW-RR 1987, 13 = LM § 832 BGB Nr. 16). Nach der Rechtsprechung des BGH haben Eltern deshalb insbesondere kleine - d.h. etwa 7 oder 8 Jahre alte - Kinder nicht nur eindringlich über die Gefährlichkeit des Spiels zu belehren, sondern auch streng darauf zu achten, daß sich die Kinder nicht unerlaubt in den Besitz dieser Gegenstände setzen können (z.B. BGH, NJW 1993, 1003 = LM § 832 BGB Nr. 19). Selbst wenn die Bekl. - wie vorgetragen - ihrem Sohn verboten haben, ohne ihre Mitwirkung mit Feuerwerkskörpern umzugehen, hätten sie damit rechnen müssen, daß Kinder dazu neigen, im Rahmen eines gesteigerten Spieleifers die ihnen vermittelten Gebote und Verbote zu verdrängen und sich der Freude am Spiel ohne Besinnung auf Ermahnungen hinzugeben (KG, FamRZ 1992, 550). Vor allem wenn Kindern das erste Mal der Umgang mit Feuerwerkskörpern gestattet wird, dürfen sich Eltern nicht darauf verlassen, daß das von ihnen ausgesprochene Verbot ohne weiteres eingehalten wird.
Schon gar nicht hätten die Bekl. ihrem Sohn erlauben dürfen, Feuerwerkskörper in der Hand zu zünden, um sie anschließend wegzuwerfen. Durch diese Art der Handhabung sind die Bekl. der besonderen Gefährlichkeit von Feuerwerkskörpern nicht gerecht geworden. Denn Feuerwerkskörper, deren Abgabe an Personen unter 18 Jahre nicht von ungefähr verboten ist, sind prinzipiell auf dem Boden und nicht in der Hand zu zünden. Daß sich auf den Packungen entsprechende Warnhinweise finden, ist senatsbekannt.
Die Bekl. beschreiben das Feuerwerksmaterial nicht näher, das sie ihrem Sohn zur Verfügung gestellt haben. Sie legen ebensowenig dar, weshalb dieses Feuerwerksmaterial eine geringere Gefährlichkeit als das sonst handelsübliche gehabt haben soll. Dies hätte indes - ebenso wie die Benennung der Herstellerfirma - zu einem ordnungsgemäßen Entlastungsbeweis gehört.
Auf jeden Fall aber hätten die Bekl. ihren Sohn eindringlich darüber belehren müssen, daß nicht jeder Knallkörper geeignet ist, in der Hand gezündet zu werden, vielmehr im Gegenteil davon auszugehen ist, daß dies bei Feuerwerksmaterial in aller Regel gerade nicht angängig ist.
Unabhängig davon hätten die Bekl. ihren Sohn während des Aufenthalts im Freien anläßlich des Feuerwerks durchgängig beaufsichtigen müssen. Das von ihnen behauptete strikte Verbot, ohne ihre elterliche Aufsicht Knallkörper zu zünden, kann dabei unterstellt werden. Denn auf die Einhaltung dieses Verbots durften die Bekl. - wie bereits erwähnt - nicht vertrauen. Angesichts der Gefährlichkeit von Knallkörpern bestand zudem ein besonderer Aufsichtsanlaß. Entscheidend für das Gewicht dieses Aufsichtsanlasses ist das Ausmaß der Gefahr, die ausstehenden Dritten durch den Aufsichtsbedürftigen droht. Dieses wird wiederum bestimmt durch die Eigenschaften des Aufsichtsbedürftigen und die Schadensgeneigtheit des Umfelds, in dem sich der Aufsichtsbedürftige konkret befindet (Staudinger-Eberl-Borges, § 832 Rdnr. 58). Überdies haben sich die Bekl. in unmittelbarer Nähe ihres Sohnes befunden, so daß es ihnen ohne weiteres möglich gewesen wäre, sich - auch während der vorgetragenen Unterhaltung mit den Nachbarn - räumlich so einzurichten, daß sie ihren Sohn im Auge behalten konnten.
Für ein Verbot, keine Knaller von der Straße aufzuheben und (erneut) zu zünden, haben die Bekl. ausweislich ihres Vortrags vor dem LG keine Veranlassung gesehen. Auch darin ist ihnen nicht zu folgen. Die von den Bekl. für ihre Auffassung gegebene Begründung, sie hätten von der Existenz eines auf der Straße liegenden, noch funktionstüchtigen Knallers nichts gewußt und auch nicht voraussehen können, daß ihr Sohn einen solchen Feuerwerkskörper finden und aufheben würde, trägt nicht. Mit sog. „Blindgängern“ muß anläßlich einer Silvesterknallerei immer gerechnet werden. Wegen der besonderen Gefährlichkeit solcher fehlgezündeten Knallkörper hätte es einer eindringlichen Belehrung bedurft, zumal es den Bekl. hätte bewußt sein müssen, daß das Aufsammeln und Zünden liegengebliebener Feuerwerkskörper für Kinder eine besondere Anziehungskraft hat. Endlich können die Bekl. nicht mit dem Einwand durchdringen, ihr Sohn habe von ihnen keine Streichhölzer bekommen. Sie hätten in ihre Überlegungen einbeziehen müssen, daß es gerade an Silvester ohne Schwierigkeiten gelingt - wie dann auch tatsächlich geschehen -, sich Zündmittel von dritter Seite zu beschaffen.
Der Haftung der Bekl. aus § 832 I BGB ist ein Eigenverschulden des Kl. im Ergebnis nicht gegenüberzustellen. Dabei wäre ein solches Eigenverschulden lediglich einer der Bewertungsfaktoren bei der Bemessung des Schmerzensgeldes, der nicht zu einer quotenmäßigen Minderung führen kann (Palandt-Thomas, § 847 Rdnr. 5).
Für ein Mitverschulden nach § 254 BGB gelten die §§ 827, 828 BGB entsprechend. Dabei kommt es auf die Fähigkeit zur Einsicht an, daß man sich selbst vor Schaden zu bewahren hat. Für die Bewertung kommt vorrangig der Grad der Verursachung in Betracht, während das Verschulden erst in zweiter Linie zu berücksichtigen ist (Staudinger-Eberl-Borges, § 832 Rdnr. 153; Palandt-Heinrichs, § 254 Rdnr. 13; Palandt-Thomas, § 832 Rdnr. 12; OLG München, FamRZ 1997, 740 [742]). Der Senat hält es bereits für zweifelhaft, ob ein 8 ½-jähriges Kind i.S. des § 828 II BGB überhaupt die erforderliche Einsicht hat, wenn es darum geht, welche Gefahr von einem Knallkörper ausgehen kann. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben. Denn der Senat schließt sich dem LG darin an, daß ein Verursachungsbeitrag des Kl. jedenfalls hinter dem der Bekl. zurücktritt. Denn maßgeblich ist die Gefahr von dem Knallkörper ausgegangen, der von der Straße aufgelesen wurde. Es ist der Sohn der Bekl. gewesen, der den Kl. aufforderte, die Wunderkerze zum Anzünden zur Verfügung zu stellen. Es war also nicht etwa der Kl. selbst, der die Anregung gegeben hat, die Wunderkerze als Zündmittel einzusetzen. Darauf, ob der Kl. beim Anzünden die Wunderkerze nah am Körper oder vom Körper entfernt gehalten hat, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. An dem überwiegenden Verursachungs- und Verschuldensbeitrag der Bekl. ändert sich dadurch nichts.
Ein etwaiges Aufsichtsverschulden seiner eigenen Eltern braucht sich der Kl. gleichfalls nicht anrechnen zu lassen. Die Vorschrift des § 254 II 2 BGB ist als Rechtsgrundverweisung zu verstehen, was bedeutet, daß sich der Geschädigte das Mitverschulden des Dritten nur innerhalb eines schon bestehenden Schuldverhältnisses zuweisen lassen muß. Daraus folgt, daß das Verschulden gesetzlicher Vertreter nicht zu Lasten deliktisch geschädigter Minderjähriger wirkt (Grunsky, in: MünchKomm, § 254 Rdnr. 77; BGH, NJW 1988, 2667 [2668] = LM § 823 [Dc] BGB Nr. 165). Der BGH hat sich weiter dagegen ausgesprochen, den Anspruch des geschädigten Minderjährigen nach den Grundsätzen über den gestörten Innenausgleich unter Gesamtschuldnern zu kürzen (BGH, NJW 1988, 2668 [2669] = LM § 823 [Dc] BGB Nr. 165). Dem tritt der Senat bei.
Die vom LG festgestellten Verletzungsfolgen sind von den Bekl. unbeanstandet geblieben. Sie sind ohne weiteres geeignet, einen erstrangigen Schmerzensgeldteilbetrag von 20000 DM zu rechtfertigen. Der vom LG zuerkannte Betrag bewegt sich innerhalb des Rahmens der Schmerzensgeldbeträge, die von der Rspr. in vergleichbaren Fällen ausgeurteilt worden sind (z.B. KG, FamRZ 1992, 550; OLG Köln, VersR 1996, 588; OLG Schleswig, Urt. v. 3. 1. 1991 - 7 U 233-88; LG Koblenz, Urt. v. 19. 12. 1984 - 5 O 171-82).
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