Ein Rentnerpaar im Alter von 83 und 70 Jahren wünschte sich ein Notwegrecht über das Nachbarschaftsgrundstück, wie es von 1979 bis 2013 bis zu einem Streit eingeräumt war. Es berief sich unter anderem auf das von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses:
„Auch auf sie [die Paragrafen 905 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches, BGB] ist der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242) anzuwenden; daraus folgt für die Nachbarn eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme, deren Auswirkungen auf den konkreten Fall man unter dem Begriff des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zusammenfasst.” Zitiert aus dem Urteil des BGH vom 31.1.2003, Az.: V ZR 143/02.
In einem soeben bekannt gegebenen Urteil vom 22.1.2016, Az.: V ZR 116/15, will derselbe Senat des BGH seine eigenen Rechtsprechung zum nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis jedoch nicht anwenden. Er führt in diesem neuen Urteil aus:
„Die Regelung des Notwegerechts in § 917 BGB stellt eine spezialgesetzliche Ausgestaltung des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses dar, die im Hinblick auf die nicht durch dingliche Rechte oder schuldrechtliche Verträge begründeten Wegerechte eine abschließende Regelung enthält. Sind ihre tatbestandlichen Voraussetzungen - wie hier - nicht erfüllt, können sie nicht mit Hilfe des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses umgangen oder erweitert werden (Senat, Urteil vom 15. November 2013 - V ZR 24/13, NJW 2014, 311 Rn. 26).”
Anmerkung
Das Bürgerliche Gesetzbuch stammt vom 18. August 1896 und enthielt den § 917 zum Notwegrecht bereits in dem Wortlaut, wie er heute noch im BGB steht. Zwischen 1896 (Kaiserreich) und heute sind mehr als 110 Jahre mit zwei Weltkriegen und vier politischen Umwälzungen (1918, 1933, 1945, 1990) vergangen. Wie jeder weiß, haben sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse grundlegend verändert, - auch was die engere Bebauung betrifft. Das Rechtsinstitut des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses hat sich nach dem Inkrafttreten in Jahrzehnten entwickelt und gefestigt. Das Nachbarschaftsrecht wurde durch dieses Rechtsinstitut - wie der BGH in seinem Urteil aus dem Jahre 2003 festhält: „erweitert”. Im juristischen Schrifttum wird schon begonnen, zum nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis von neuem Gewohnheitsrecht zu sprechen. Und dennoch soll es nach diesem Urteil beim Althergebrachten bleiben. Die persönlichen Umstände, auch das Alter der Kläger, sollen unbeachtet bleiben, obwohl nach der ständigen Rechtsprechung auf Treu und Glauben abzustellen ist und dieser Grundsatz nach allgemeiner Meinung das gesamte Recht beherrscht. Es fehlt ein Anhaltspunkt dafür, dass § 917 der Rechtsentwicklung mit dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis unzugänglich sein soll.