In seinem neuen Beschluss zu mehrdeutigen Äußerungen bestätigt das Bundesverfassungsgericht nicht nur seine bisherige Rechtsprechung (Stolpe-Entscheidung vom 25. 10. 2005). Es veranschaulicht darüber hinaus unter anderem,
-- wie verhältnismäßig einfach es immer wieder sein kann, für eine Äußerung neben dem allgemeinen Verständnis eine weitere Deutungsmöglichkeit zu finden, und
-- welche abträglichen Konsequenzen die Rechtsprechung für die Medien nach sich zieht.
Umstritten war ein Flugblatt mit dem Aufruf:
„Stoppen Sie den Kinder-Mord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klinikums N., damals: Holocaust - heute: Babycaust. Wer hierzu schweigt, wird mitschuldig.”
Soweit es hier interessiert, erklärt das Bundesverfassungsgericht:
Wer geäußert habe: „Kinder-Mord im Mutter-Schoß”, könne sich nicht erfolgreich auf den allgemeinen Sprachgebrauch berufen, wenn er auf (künftige) Unterlassung in Anspruch genommen werde; denn: „Es [das Gericht] musste vielmehr im Rahmen des Unterlassungsbegehrens auch die andere mögliche und durchaus nahe liegende Auslegung zu Grunde legen, nämlich die, dass 'Mord' im rechtstechnischen Sinne zu verstehen war”.
Es lässt sich noch Einiges zu diesem Beschluss anmerken. Für die Medien ergibt sich jedenfalls die Konsequenz:
Einer Zeitschrift, einer Zeitung, einem Sender und dem Betreiber eines Portals kann recht schnell untersagt werden, künftig so zu schreiben, wie sich ein Mitarbeiter nach dem allgemeinen Sprachgebrauch geäußert hat. An dieses Unterlassungsgebot sind der Verlag, der Sender und der Betreiber auf unbeschränkte Zeit gebunden. Verstößt irgendein Mitarbeiter gegen das Gebot, fällt je nachdem grundsätzlich ein Ordnungsgeld oder eine Vertragsstrafe an.
Az.: 1 BvR 49/00; 1 BvR 55/00; 1 BvR 2031/00. Die für die Redaktionen insoweit wichtigsten Stellen finden Sie in den Randnummern 62 bis 65. In Rn 63 betont das BVerfG zudem:
„Diese Grundsätze sind nicht auf Tatsachenaussagen begrenzt, sondern ebenso maßgeblich, wenn wie vorliegend ein das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigendes Werturteil in Frage steht.
Der Beschluss betrifft nicht nur die Redaktionen, sondern alle. Ergangen ist der Beschluss gegen Abtreibungsgegner, die, wie erwähnt, Flugblätter gegen einen Arzt und die Klinik verteilt hatten.
Zu ersetzen sind umgangssprachliche Formulierungen nach dem Beschluss nicht nur, wenn ein abweiender juristischer Sprachgebrauch entgegensteht, der für den Betroffenen günstiger ist.. Was der abweichende juristische Sprachgebrauch bewirkt, bewirkt auch jede andere „nicht fernliegende Deutungsmöglichkeit” (Rn 63).
Der Beschluss hebt (teilweise) Entscheidungen auf, die schon im Jahre 1999 erlassen worden sind.