Bundesverfassungsgericht Entscheidung vom 25. September 2023, Az. 1 BvR 2219/20, soeben im Volltext zugänglich. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zwar wegen des Versäumnisses einer Frist nicht zur Entscheidung angenommen. Es hat jedoch zur Freiheit der empirischen Forschung unschätzbar wertvolle grundsätzliche Ausführungen in Stein gemeißelt. Wir zitieren die unseres Erachtens wichtigsten grundsätzlichen Ausführungen. Da unsere Kanzlei im Bereich der empirischen Forschung ständig und vielfach arbeitet, werden wir sicher oft auf die Ausführungen des BVerfG zurückkommen und auch an dieser Stelle zu jeder Gelegenheit, soweit erforderlich, kommentieren. Im Folgenden erhalten Sie den Link zur Entscheidung und den wichtigen Teil zur empirischen Forschung. Hervorhebungen von uns.

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2023/09/rk20230925_1bvr221920.pdf?__blob=publicationFile&v=1

a) Die Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) umfasst auch die Erhebung und Vertraulichkeit von Daten im Rahmen wissenschaftlicher Forschungsprojekte als Bestandteil der Prozesse und Verhaltensweisen bei der Suche nach Erkenntnissen (vgl. BVerfGE 35, 79 <112>; 47, 327 <367>; 90, 1 <11 f.>; 111, 333 <354>; hierzu auch Gärditz, StV 2020, S. 716 <719>). Gerade empirische Forschung ist regelmäßig auf die Erhebung von Daten angewiesen und insbesondere aussagefähige sensible Daten können von den Betroffenen oftmals nur unter der Bedingung von Vertraulichkeit erhoben werden. Soweit es, wie hier, um kriminologische Forschungen über Dunkelfelder oder Kontexte strafbarer Verhaltensweisen geht, ist dies offenkundig. Die vertrauliche Datenerhebung gehört zur geschützten wissenschaftlichen Methode. Die staatlich erzwungene Preisgabe von Forschungsdaten hebt die Vertraulichkeit auf und erschwert oder verunmöglicht insbesondere Forschungen, die, wie das hier betroffene Forschungsprojekt, auf vertrauliche Datenerhebungen angewiesen sind. Bei laufenden Forschungsprojekten betrifft dies schon die Fortführung der konkreten Projekte. Darüber hinaus verschlechtern alle staatlichen Zugriffsrechte auch die Bedingungen für zukünftige Forschungen, die auf vertrauliche Datenerhebungen angewiesen sind.

b) Die Wissenschaftsfreiheit kann, wie andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, aufgrund von kollidierendem Verfassungsrecht beschränkt werden (vgl. BVerfGE 47, 327 <369>; 57, 70 <99>; 122, 89 <107>), wobei es grundsätzlich auch insoweit einer gesetzlichen Grundlage bedarf (vgl. BVerfGE 83, 130 <142>; 107, 104 <120>; 122, 89 <107>). Ein Konflikt zwischen verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten ist unter Rückgriff auf weitere einschlägige verfassungsrechtliche Bestimmungen und Prinzipien sowie auf den Grundsatz der praktischen Konkordanz durch Verfassungsauslegung zu lösen (vgl. BVerfGE 47, 327 <369>; 122, 89 <107>).

c) Soweit das Beschwerdegericht davon ausgeht, die Forschungsfreiheit sei vorliegend nur unerheblich beeinträchtigt worden, erfasst es die Auswirkungen auf das konkrete Forschungsprojekt, aber auch die Folgen für die Wissenschaftsfreiheit darüber hinaus nicht angemessen. Es verkennt, dass die Daten weder aus Gründen der Wissenschaft auf Veröffentlichung angelegt waren, noch primär die Eingriffswirkung auf das konkrete Interview hätte beschränkt werden dürfen. Vielmehr kommt der Wissenschaftsfreiheit bei der Abwägung ein umso höheres Gewicht zu, je stärker das konkrete Forschungsvorhaben und bestimmte Forschungsbereiche auf die Vertraulichkeit bei Datenerhebungen und -verarbeitungen angewiesen sind. Auch hätte gerade der Zusammenhang zwischen der konkret betroffenen Forschung und dem gegenläufigen Belang der Strafrechtspflege berücksichtigt werden müssen. Die effektive und funktionstüchtige Strafrechtspflege ist zwar ein Zweck von Verfassungsrang (vgl. zur präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachung BVerfGE 130, 1 <26, 36 f.> m.w.N.). Für das Gewicht dieses Zwecks ist vorliegend aber zu berücksichtigen, dass die betroffene Forschung auch für die Rechtsstaatlichkeit von besonderer Bedeutung ist. Eine rationale Kriminalprävention ist in hohem Maße auf Erkenntnisse über Dunkelfelder und kriminalitätsfördernde Dynamiken angewiesen. Eine effektive Verhinderung von Straftaten setzt deshalb genau jene Forschung voraus, die durch den Zugriff auf ihre Daten zum Zwecke der konkreten Strafverfolgung erheblich erschwert oder verunmöglicht wird.